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Revolution und seinsgeschichtliches Denken

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Academic year: 2021

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X

XVI/102-103,N

ov

em

ber 2017

phainomena

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Phainomena XXVI, 102-103, November 2017

One hundred per cent

Michael Marder

Revolutionary Categories

Andrzej Gniazdowski

The Anthropology of Sovietisation. Leszek Kołakowski and Czesław Miłosz about the Roads to Mental Captivity

Babette Babich

Auf dem Weg zur Großen Politik. „Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen“

Virgilio Cesarone

Revolution und seinsgeschichtliches Denken

Jesús Adrián Escudero

Eigentlichkeit and Agency in Sein und Zeit

Trong Hieu Truong

Differenz und Revolution

Victor Molchanov

History and Space. Destruction of Temporal Historicity

Cathrin Nielsen

Verwandte des Lebens. „Inklusion“ nach Fink

James Mensch

Social Change and Embodiment

Massimo De Carolis

The Neoliberal (Counter)Revolution: Its Parabola and Decline

Ľubica Učník

Neoliberalism and Jan Patočka on Supercivilization and Education

Urszula Zbrzeźniak

Equality and Emancipation in Education and Politics

Report

Andrej Božič

Hospitable Dwelling

Abstracts/Povzetki Addresses of Contributors Instructions for Authors 5 19 31 51 63 79 95 115 131 141 153 177 191 197 213 217

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Virgilio Cesarone

REVOLUTION

UND SEINSGESCHICHTLICHES

DENKEN

Was bedeutet Revolution von einem seinsgeschichtlichen Gesichtspunkt her? Auf diese Frage möchte mein Beitrag versuchen zu antworten, aber es ist mir sehr wohl bewusst, dass die Antwort nur umrissen und fragmentarisch sein wird. Das Wort „Revolution“ taucht selten im heideggerschen Lexikon auf, trotz-dem glaube ich nicht, dass mein Ansatz ohne Berechtigung ist, denn Heidegger selbst interpretiert die Vorkommnisse der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts durch ein Revolutionskonzept, das gewiss einen anderen Sinn – ça va sans dire – als den allgemeinen annimmt. Weiteres Ziel meines Textes ist dann, die Trag-weite dieser Revolution zu untersuchen, um ihre politische Bedeutung zu verste-hen, und das scheint mir heute mehr denn je besonders wichtig, nachdem mit der Veröffentlichung der sogenannten „Schwarzen Heften“ die schon umstritte-ne politische Dimension Heideggers noch fragwürdiger geworden ist.

Nun hat das Wort Revolution, das in Europa vor allem aus dem franzö-sischen révolution widerhallt, einen lateinischen Ursprung und kommt vom Partizip Perfekt des Verb revolvere, das ‚umkehren‘, ‚zurückgehen‘, ‚zukehren‘ bedeutet. Das Wort zeigt also die Rückkehr einer Runde, die Bewegung, die einer Kehre folgt; das Suffix re- kennzeichnet einen Gegensatz, einen Kurs-wechsel, z.B. gegen die Rechtsordnung, oder bei Heidegger einen Wechsel des Registers in der Interpretation des Seins des Seienden.

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Wenn diese Etymologie bedeutungsvoll ist, dann scheint der hermeneuti-sche Horizont, den Heideggers Denken eröffnet hat, in der Tat revolutionär, und dies nicht nur, weil dieses Denken sich gegen die allgemeine philosophi-sche Interpretation des Seins des Seienden wendet, d.h. gegen die Metaphysik der Subjektivität der Moderne, sondern auch weil sein Denken in dieser Kritik versucht, sich dem Ursprung der ganzen geschichtlichen Bewegung anzunä-hern. Außerdem vollendet sich diese revolutionäre Bewegung nicht durch eine Ersetzung eines vorherigen Gesichtspunkts, sondern vollzieht ein ständiges, beharrendes und schöpferisches Fortgehen, in einer „geistlichen Bewegung“ (Schlüsselwort in den Rektoratsjahren), die sich als Kampf bewerkstelligt.1

Gegen meine Interpretation könnte man einwenden, dass Heidegger seit langem den Teilnehmern der sogenannten konservativen Revolution zugeord-net wurde,2 und dass mein Vorschlag durchaus originell scheint. Aber wenn

wir Ernst Noltes Definition der Revolution zustimmen – und diejenige von Bourdieu vernachlässigen, nach dem die konservative Revolution vor allem »Restauration, comme dénégation de la révolution« sei –3 können wir eine

deutliche Sinnabweichung zu der Heideggers wahrnehmen. Nolte behauptet nämlich, das Wort ‚Revolution‘ deute auf den ersten Blick auf einen vernich-tenden Willen, der strebt, die gegenwärtige Situation zu überwinden, so dass die Wendung „konservative Revolution“ widersinnig scheine. Trotzdem bezie-he sich diese Revolutionsauffassung auf eine Reinbezie-heit, die es in der Geschichte Europas niemals gegeben hat. Deswegen manifestiere sich die konservative Revolution als Paradox: als Aufstand der Bürgerlichen gegen die Bourgeoi-sie, als Kritik des Marxismus, die sich aus marxistischen Interpretationen der Wirklichkeit speist, als Konservativismus, der sowohl den Liberalismus als auch den alten Konservativismus ablehne. Nun möchte ich nicht verneinen, dass in Heideggers Schriften auch die kulturelle Stimmung der Werke von

1 Das ist sehr deutlich auf den Seiten der Schwarze Heften, wo Heidegger die Ver-bürgerlichung des Nazionalsozialismus verabscheut, als ob hätte er schon seine Ziele erreicht: »Als sei der Nationalsozialismus ein Anstrich, der allem jetzt aufgetragen wird« (HGA94, S. 133).

2 Vgl. E.Nolte, Heidegger e la rivoluzione conservatrice, Sugarco, Milano 1997.

3 Vgl. P.Bourdieu, L’ontologie politique de Martin Heidegger, Les Édition de Minuit, Paris 1988, S. 30.

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VIRGILIO CESARONE

53 Spengler oder Jünger empfunden werden können,4 aber ohne Zweifel scheint

die spekulative Tragweite des Philosophen revolutionär: Vor allem durchbricht er das höchste Paradox der konservativen Revolution, nämlich die Meinung, die lineare Zeitlichkeit der Moderne mit einem Kurswechsel zu unterbrechen. Die Interpretation der Metaphysik vom seinsgeschichtlichen Denken her kann niemals ein einfaches Zurückkehren bedeuten, sondern nimmt in Angriff, die Aufmerksamkeit auf den Anfang zu erwecken, der die Geschichte des Abend-landes gekennzeichnet hat.

Damit will ich auch nicht verneinen, dass in der Position Heideggers eine Zweideutigkeit bleibt,5 welche dann auch widersprüchliche Interpretationen

über sein politisches engagement zulässt. Aber auch die letzten Publikationen der Gesamtausgabe zeigen, dass er in der Zeit der größten Annäherung an die nationalsozialistische Regierung mit wichtigen Unterscheidungen – zumin-dest konzeptuell – operierte, so dass sein Nationalsozialismus tatsächlich als ein «privater» erscheinen konnte.6 Ein Beispiel ist eben die personale

Deu-tung von Revolution, die so evident in den Rektoratsjahren auftaucht und die wahrscheinlich als typisch für Heideggers Unterscheidung zwischen geistli-chem und vulgären Nationalsozialismus gelten kann. Wie die Überlegungen beweisen, unterschied Heidegger bereits 1932 „seine“ von einer anderen Re-volution: »die Anweisung und Bereitschaft« zu dieser letzten ist »als solche zur „Produktion“« (HGA94, S. 112). Nicht diese Revolution benötigte Deutsch-land, sondern eine ursprüngliche und aufgreifende Umwälzung, die auf ei-nem notwendigen vor-bauenden Wissen gründet (Vgl. HGA94, S. 127). Diese eigentliche Revolution ist eine «»Umwälzung zum Da-sein als Erwirkung des

4 Nolte findet in diesem kulturellen Kontext Stellungnahmen, die das Judentum für den Marxismus verantwortlich machten und insgesamt die ganze jüdisch-christliche Zivilisation verurteilten (Vgl. Nolte, S. 30).

5 Vgl. A.Fabris, Heidegger: l’ambiguità della decisione tra filosofia e politica, in A.Fabris (Hg), Metafisica e antisemitismo – I Quaderni neri di Heidegger tra filosofia e politica, ETS, Pisa 2014, S. 109–128.

6 Dieser Ausdruck, den Heidegger selbst in seiner Verteidigunsschrift erwähnt, wurde ihm als Kritik von Kulturminister Wackers ausgelegt, nachdem er die Rektoratsrede gehört hatte, die als Ergebnis eines Privatnationalsozialismus beurteilt wurde, denn darin wurden die Programmaussichten der Partei umgegangen, vor allem diejenigen, die die Theorie der Rasse betrafen (vgl. HGA16, S. 381).

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Wahrheit des Seins«, schreibt Heidegger, nachdem er das Rektorat hinter sich gelassen hat (HGA94, S. 259).

Diese Umwälzung lässt mich an eine analogische Bewegung denken, die Heidegger selbst Ende der 20. Jahre skizziert hat, diejenige, die von der Fun-damentalontologie zur Metaphysik des Daseins führt. Ich berufe mich auf die letzte Marburger Vorlesung, in der Heidegger von einem Umschlag, μεταβολή, der Fundamentalontologie spricht, die sich in der Entfaltung der Grundlegung der Ontologie überhaupt in drei Schritten artikuliert:

Die aufweisende Begründung der inneren Möglichkeit der Seins-frage als des Grundproblems der Metaphysik – die Interpretation des Da-seins als Zeitlichkeit; 2. die Auseinanderlegung der in der Seinsfrage beschlossenen Grundprobleme – die temporale Exposition des Seins-problems; 3. die Entwicklung des Selbst-verständnisses dieser Proble-matik, ihre Aufgabe und Grenze – der Umschlag. (HGA26, S. 196) Diese Bewegung der Fundamentalontologie lässt eine Metontologie auf-treten, in der es sich den Boden für eine Metaphysik der Existenz (bzw. des Daseins) bereitet. Wie die Metaphysik des Daseins dank eines Umschlags der Fundamentalontologie gewonnen wird, wird die Politik „Metapolitik“ – wie die Ontologie „Metontologie“ –, eben dank eines „vor-gebauten Wissens“, d.h. demjenigen der ontologischen Differenz und der Wahrheit des Seins. Die Metaphysik des Daseins fokussiert nämlich das Geschehen der Meta-physik im Seinsverständnis des Daseins, und in diesem Sinne ist der Genitiv „des Daseins“ subjektiv und objektiv: die Metaphysik geschieht aufgrund des Seinsverständnis des Daseins und nur in diesem Seienden; aber sie hat auch das Dasein und seine Zeitlichkeit jetzt, nach dem Umschlag, im Zentrum. Ich denke, wir können derselben Spur folgen, um ein Wort als Metapolitik zu deuten, das meines Wissens ein apax bei Heidegger ist und dieses Zitat scheint diese Verflechtung zu beweisen: »Die Metaphysik des Daseins muß sich nach ihrem innersten Gefüge vertiefen und ausweiten zur Metapolitik „des“ geschichtlichen Volkes« (HGA94, S. 124). Der Genitiv muss vertieft und ausgeweitet werden, d.h. nicht nur auf das Dasein, sondern auch auf das Volk bezogen, doch darf man die Zeitlichkeit, d.h. die Geschichtlichkeit

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VIRGILIO CESARONE

55 dieses Volkes, nicht „ideologisch“ verstehen, denn die Parusie wird erlebt in

der wachen Erwartung (ἀναμενεῖν) und in dem geistlichen Gewordensein (γένεσθαι).7

Ich gebe zu, kein Argument gegen den Einwand von Dean Komel8 zu haben,

wonach die geistliche Revolution Heideggers (und sein »metaphysischer An-tisemitismus«) noch gefährlicher als die offizielle der nationalsozialistischen Partei sei (aber wenn überhaupt, warum?); vielmehr vertrete ich die Meinung, dass die Überlegungen oder die Winke der schwarzen Hefte nicht dasselbe spekulative Gewicht der zeitgleichen Abhandlungen besitzen, wie kürzlich F.-W. von Herrmann und F. Alfieri uns gezeigt haben.9

Deswegen, um angemessen den Sinn dieser revolutionären seinsgeschicht-lichen Einstellung zu begreifen, halte ich es sinnvoller zu versuchen, das Poli-tische bei Heidegger vor allem aus den Werken bzw. „Wegen“ zu verstehen, die zum Zyklus der Beiträge gehören. Heidegger hat nämlich in der Einsamkeit seiner Werkstatt seine expliziteste und wahrscheinlich mühseligste Überle-gung über das Politische herausgearbeitet, nämlich in der Abhandlung Koi-non – Aus der Geschichte des Seyns (HGA69, S. 177–212), die zwischen 1939 und 1940 geschrieben wurde. In diesem Manuskript versucht Heidegger, das Wesen der Geschichte seiner Zeit vom Ereignis der Seinsgeschichte, d.h. von der Metaphysik der Subjektivität her zu interpretieren, indem er nüchtern die Grundzüge des gekämpften Kriegs und die darauffolgenden totalitären Sys-teme analysiert. Nur auf Grundlage einer Aufmerksamkeit auf die Situation, die der Weltkrieg eröffnet hat, lässt sich das Neuartige im Vergleich zu der Vergangenheit recht besinnen. Heidegger wirft einen seinsgeschichtlichen Blick auf die Geschichte des Jahrhunderts und findet einen wesentlichen, bzw. metaphysischen Zusammenhang zwischen Metaphysik der Subjektivität und Krieg. Worin besteht die Subjektivität? In der Ermächtigung der Macht, die sich als Machenschaft behauptet, d.h. als Wille, das Seiende aufgrund seiner

7 Den paulinischen Ursprung dieser Interpretation der Zeitlichkeit kann ich hier nur andeuten aber nicht vertiefen (vgl. HGA60).

8 Vgl. Dean Komel, Bianco-nero e chiaro-scuro nei Quaderni neri di Heidegger, in A. Fabris (Hg), Metafisica e antisemitismo, S. 78.

9 Vgl. F.-W. von Herrmann – F. Alfieri, Martin Heidegger. La verità sui quaderni neri, Morcelliana, Brescia 2016.

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Manipulierbarkeit und seiner Kalkulierbarkeit zu erklären. Früchte der Sub-jektivität sind Nationalismus und Sozialismus des Volkes, aber vor allem «die grenzenlosen Kriege» (HGA69, S. 44). Heidegger liest also die verschiedenen Formen, mit denen der Krieg in den europäischen Staaten ausdekliniert wird, als Konturen einer einheitlichen seinsgeschichtlichen Figur. Die Vermutung ist üblich, eine kulturelle Epoche könnte einfach dank einer „Revolution“ überwunden werden, aber das wäre nach Heidegger eben eine vulgäre „revo-lutionäre“ Interpretation, die im Grunde nur als «Widerspiel» innerhalb der Machenschaft selbst auftritt; die Revolution kann erst beginnen mit der Besin-nung auf die Geschichte des Seins.

Welchen Sinn hat also die Wendung „Totaler Krieg“? Nach einem ersten offensichtlichen Blick scheinen die Waffenkämpfe dieses totalen Kriegs Züge einer geplanten Operation zu besitzen. Aber diese Schlachten zeigen sich bei genauerer Betrachtung wie Scharmützel im Bezug zum echten Krieg, der in seinem „wie“ unentzifferbar bleibt. Schon im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs wurde der Ausdruck Totaler Krieg verwendet, um den Zugriff des Kriegs auf alles Menschliches zu beschreiben. Aber Heidegger ist der Ansicht, eine solche Auffassung beinhalte nur zum Teil das, was wirklich geschieht. Zunächst aber ist es sinnvoll von der Bedeutung des Ausdrucks „Weltkrieg“ auszugehen. Die Welt, d.h. das Bezugsgefüge, in dem geschichtliche Entwürfe vollzogen wer-den, wird kriegerisch, denn «der Krieg erkämpft nicht mehr einen Friedens-zustand, sondern setzt das Wesen des Friedens neu fest». Der Friede wird also «die übermächtige Beherrschung aller Kriegsmöglichkeiten und die Sicherung der Mittel ihres Vollzugs» (HGA69, S. 180–1). Unter dieser Hinsicht fallen alle Unterschiede zwischen Krieg und Friede, wie dieses lange Zitat entwickelt:

Der „totale“ Krieg schließt den Frieden ein und solcher „Friede“ schließt den „Krieg“ aus. Die Unterscheidung von Krieg und Frieden wird hinfällig, weil beide mit wachsender Aufdringlichkeit sich als gleich-gültige Erscheinungen einer „Totalität“ verraten. Die „Totalität“ des „totalen“ Krieges kann daher auch nicht als der nachträgliche Zu-sammenschluss des Kriegerischen und Friedlichen gelten. Hier stellt sich vielmehr dunkel ein Anderes vor die Besinnung. Das noch Ungreif-liche und doch in Deutungslosen überall Sich-auf-und-ein-Drängende

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VIRGILIO CESARONE

57 ist das Schwinden des Unterschieds von Krieg und Frieden. Nichts

bleibt mehr, wohin die bisher gewohnte Welt des Menschentums noch zu retten wäre, nichts bietet sich aus dem bisherigen an, was noch als ein Ziel der gewohnten Selbstsicherung des Menschen zu errichten wäre (HGA69, S. 181).10

Gerade dagegen versucht Heidegger, das Verschwinden vom Unterschied zwischen Krieg und Friede zu durchleuchten: es genügt nämlich nicht die kriegerischen Taten „politisch“ zu lesen, weil das Wesen der Politik von einem besinnlichen Ansatz zugänglich gemacht werden muss: d.h. das, was der totale Krieg offenbart, muss in der Geschichte des abendländischen Menschen situ-iert werden, bzw. in seinem wesentlichen Bezug zum Sein. Die Besinnung ist eben die Haltung zur Seinsgeschichte jenseits jeder historisierenden Absicht (vgl. HGA66, S. 15), und die Besinnung muss auch eine neue Auseinanderset-zung mit der Politik kennzeichnen. Unter dem kriegerischen Umstand wird das Seiende ins Ungewöhnliche gedrängt, und das ereignet sich durch den Umgang damit, was gewöhnlich ist. Dieser Bezug zum Seienden erweist sich nicht als die Frucht des Kriegs, sondern der Krieg selbst manifestiert sich als die Folge dieses Zwangs, im alltäglichen Umgang gerade auf Ungewöhnliches verwiesen zu sein.

Der Schlüsselbegriff, um dieses Verschwinden des Unterschieds zwischen Frieden und Krieg zu verstehen, ist das Wort ‚Macht‘. Heidegger nennt es als den Namen des Seins des Seienden. Die Macht ist die Weise, nach der das Seiende bestimmt wird, die Macht ergreift Besitz von allem, damit ihre Abso-lutheit verstärkt wird. Die Macht ist der Grund für jeden Kriegsausbruch mit dem Ziel, die Welt zu beherrschen, d.h. Macht auszuüben. »Die Macht offen-bart sich – freilich nur der zureichenden Besinnung – als Jenes, was nicht nur keine Ziele hat, sondern gegen jede Zielsetzung in der reinen Ermächtigung ihrer selbst sich behauptet» (HGA69, S. 182). Das telos-Sein der Macht an sich gliedert sich unter der Sphäre der Öffentlichkeit in einen Appell zur

Mora-10 In dieser Lektüre des totalen Kriegs als Nicht-Unterscheidung kann man auch eine Art Vorwarnung auf den späteren „kalten Krieg“ finden (vgl. P. De Vitiis, Prospettive heideggeriane, Morcelliana, Brescia 2006, S. 231).

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lität und der Sittenverteidigung, also paradoxerweise übernimmt die Macht die Stelle der Moralität und ihre Verteidigung. Ein Bespiel dieser Haltung der Macht ist das Hüten des nationalen Charakters und der Schutz des „rassischen Bestandes“.11

Noch einmal haben wir hier eine hermeneutische Aufnahme und Heraus-arbeitung der tiefen Ansichten Nietzsches. Einerseits stellt sich die Macht wie jenes Wort dar, das den Sinn des Seins in diesem Zeitalter aussagt, und in die-sem Sinne wird auch die Mannigfaltigkeit der Weisen, in denen das Seiende verstanden wird, angekündigt. Aber die Interpretation der Macht aufgrund eines Willens (ebenso bei Nietzsche) wäre nicht nur eine Verminderung, son-dern ein Irrtum: Das metaphysische Geschehen manifestiert sich als Wille, aber es ist nicht ein solcher von Grund auf. In einer anderen späteren Vorle-sung sagte Heidegger seinen Studenten:

Politische Zustände, Wirtschaftslagen, Bevölkerungswachstum und dergleichen können die nächste Anlässe und Bezirke der neuzeitlichen Willensgeschichte sein, sie sind aber niemals ihr Grund und daher auch nicht ihr „Ziel“. (HGA51, S. 18)

Es scheint mir dann einsichtig, dass Heidegger versucht, die historischen Vor-kommnisse dieser Jahre aufgrund einer meta-politischen Aufmerksamkeit zu in-terpretieren, d.h. aufgrund einer Überlegung über die Gründe der Moderne, die ein Sinngefüge stiften, in dem die Politik sich als die Verflechtung und die Lö-sung bestimmter Probleme manifestiert, deren Ursprung aber anderswo liegt. Das

11 In einem Anhang an In einem Anhang an Koinon spezifiziert Heidegger, dass Rasse ein Begriff ist, der die Subjektivität voraussetzt. Die Rasse findet dann Wert eben dort, wo das Sein des Seienden (auch in unausdrücklicher Weise) als Macht verstanden wird. Es gebe einen Zusammenhang zwischen der Selbstbehauptung eines Volkes und dem Biologismus, der das Leben im Kampf um die Existenz hält. Das Rassendenken scheint Heidegger ein Zeichen zu sein, das die Vollendung der Metaphysik beweist und «die Rassenpfle-ge ist eine notwendiRassenpfle-ge Maßnahme, zu der das Ende der Neuzeit drängt» (HGA69, S. 223). Nicht vom Biologismus her interpretiert also Heidegger den Rassenbegriff, sondern für ihn stammen beide aus der Seinsverlassenheit, die das Ende der Meta-physik charakterisiert. Wie diese Behauptungen mit dem vermuteten Antisemitismus Heideggers zusammenhängen, kann hier nicht behandelt werden.

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VIRGILIO CESARONE

59 Schlüsselwort um diesen Zusammenhang zu verstehen, ist das Wort Macht. Das

Sich-Durchsetzten der Macht besteht in der Tilgung dessen, was die Macht selbst von Außen bedingt. In dieser Hinsicht gäbe es eine Art Erosion jedes Raums, der den Widerstandsanspruch dieser Macht ermöglichen kann. An das Recht zu ap-pellieren, scheint leichtsinnig, da im Sinn der Macht das Recht nunmehr ein »Ti-tel für in einer Machverteilung gewährte Forderungen und benötigte ‚Freiheiten‘« (HGA69, S. 186) ist.12 Aber der tiefe Grund für dieses ständige Wachsen liegt im

Verständnis des Seienden als machbarem, in dem Sinne, dass es nur von seiner Produzierbarkeit aufgefasst wird. Das „wie“ des Seienden bezieht sich auf den Menschen selbst, so dass er aufgrund seiner Nutzbarkeit in eine ausgemachte Ord-nung gestellt wird. Der Mensch wird „menschliches Material“, so dass der Einzelne in jedem Augenblick ersetzt werden kann.

Mit der ‚Machsamkeit‘ taucht der wesentlichen Charakter der Macht auf: aber solange man sie nur durch das Verfügen über Mittel zur Erweiterung ihrer Herrschaft ansieht, wird die Macht bloß von Außen betrachtet. In sich selbst jedoch entfaltet sich die Macht als die unbedingte Mache der Übermächtigung ihrer selbst und ihrer Machsamkeit, wie dieses Zitat erklärt:

Das Wesende dieser Mache ist die Machenschaft: das Sicheinrichten auf die Ermächtigung der Macht und die von dieser vorgerichtete weil aus der Übermächtigung vorgeforderte Machsamkeit alles Seienden (HGA69, S. 186).

Machenschaft wird von Heidegger in seinen Beiträgen die letzte Epoche genannt, wo sich die Seinsverlassenheit in der Geschichte des Seins entfaltet. Die Machenschaft wäre also die letzte der Figuren, die das Seiende in der Me-taphysik annimmt, wenn das Sein sich entzieht, um nur mehr das Seiende in seinen metaphysischen Interpretationen erscheinen zu lassen.

12 Ich frage mich, ob in dieser Hinsicht sich Heidegger nicht sogar als der einzige Ich frage mich, ob in dieser Hinsicht sich Heidegger nicht sogar als der einzige eigentliche Gegner der totalitären Regierungssysteme versteht. Doch welche Art Geg-nerschaft ist eine solche, die ausschliesslich innerhalb eines Gewissens lebt (Heidegger behielt die Mitgliederschaft an NSDAP bis zum Ende des Krieges), wenn auch in ei-nem Gewissen eines Professors, der an der Universität doziert?

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Wenn nun der begriffliche Rahmen, innerhalb dessen die kriegerischen Er-eignisse verstanden werden müssen, die schicksalhafte Epoche der Metaphysik ist, dann hat der Krieg selbst, an sich gesehen, keinen Sinn mehr, sondern ver-weist immer auf etwas Anderes. Der Krieg wird für Heidegger fast zu einem zufälligen Ereignis innerhalb des Vorgangs, der um des weltlichen Machtbesit-zes willen unter dem Schlüsselbegriff „Interesse“ geschieht. Trotzdem dürfen das Interesse und der weltliche Machtbesitz an sich nicht als Endzweck ge-deutet werden, denn diese sind nur untergeordnete Zwecke zur Ermächtigung der Macht und erst aus dieser Sicht muss der systematische Zusammenhang zwischen den zwei Weltkriegen verstanden werden. Unter derselben Pers-pektive sind die Ereignisse und die Situationen zu lesen, die für gewöhnlich als „politisch“ verstanden werden. Aber was steckt hinter dieser Definition? Nochmals manifestiert sich die Konzeption als unzulänglich, bei der sich der wesentliche Charakter der „politischen“ Ereignisse ausschließlich unter einer „politischen“ Hinsicht demonstriert, d.h. in einem Blick, der das Verständnis weder der Menschheit noch des Seienden überhaupt in Anspruch nimmt. Hei-degger deutet im Gegenteil das Politische als die Deklination der polis, die als der Ort gilt, der jedes Seiende als solches und auch jeden menschlichen Bezug um sich versammelt. Aus einem solchen polis-Denken ergibt sich also kein Unterschied zwischen einer autoritären und einer parlamentarischen staatli-chen Form, denn auch in dieser letzteren wird um die Entfaltung der Macht gespielt, obwohl die Gewaltenteilung die Sittlichkeit gegenüber dem Autorita-rismus garantieren müsste; wenn die grundlegende metaphysische Selbigkeit dieser beiden Verfassungen erhellt wird, so wird klar: beide politische Gestal-tungen berufen sich auf ein Ideal, das man in der Öffentlichkeit gelten lässt, d.h. dass die Macht „dem Volke“ zugeteilt wird. Nun besteht der Betrug nach Heidegger eben darin, dass keine staatliche Form ihre Macht teilen kann, weil die Macht ihrem Wesen nach niemandem gehört. Diejenigen, die glauben, Be-sitzer der Macht zu sein, sind nämlich nur ihre Funktionäre und mit ihnen kündigt sich eine verborgene Machthabe an.

Die Verschleierung der eigentlichen Machthabe in der Ermäch-tigung der Macht ist daher erst dort anzutreffen, wo die Machtentfal-tung nicht mehr nur politischen, sondern unmittelbar metaphysischen

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VIRGILIO CESARONE

61 Charakter hat, im Despotismus und in der Diktatur. [...] Ja „Despoten“

und „Diktatoren“ können am wenigsten die Machthaber sein, [...] denn die Ermächtigung fordert ein Zwiefaches. Einmal die im voraus jede Ausnahme unterbindende Sammlung aller Machtverfügung auf eine machtmäßig diese Verfügung in der möglichen Steigerung haltende Einheit. Das sagt: die Machthaberschaft muss aus sich selbst die Mög-lichkeit der Übermächtigung immer neu entfalten. Diese MögMög-lichkeit aber untergräbt die Diktatur, weil sie die Erstarrung in einer Macht-stufe mit sich bringt und sich von Offenen des Unbedingten selbst aus-schließt. (HGA69, S. 190).

Wie aus dem Gesagten deutlich wird, sind alle Gewaltformen nur eine De-klination dieser Ermächtigung der Macht, die diese verschiedenen Gestaltun-gen in eine Art metaphysischer Einförmigkeit stellt. Eben auf dieser Einför-migkeit baut sich ein Phänomen des Politischen auf, das „revolutionär“ im Vergleich mit den anderen staatlichen Formen erscheint: nämlich der Kom-munismus. Doch wäre es oberflächlich, die Rede vom kommunistischen Auf-stieg als „historisches“ und kontingentes Vorkommnis zu betrachten, ohne ihn an seine metaphysische Herkunft zu binden. So müssen alle revolutionären Ansprüche des Kommunismus (Verstaatlichung von Industrien und Banken, Beseitigung der Klassenunterschiede und Befreiung des Proletariats) auf eine ontologische Auffassung zurückgeführt werden, die erst seine Wirklichkeit be-stimmt.

Wenn schließlich Heideggers Denken über das Politische als revolutionär beurteilt werden kann, dann ist es ohne Zweifel wirkungslos. Für eine solche Haltung scheint die eigentliche Revolution nur die geistige zu sein, d.h. die-jenige, die zum Herzen gehört. Noch einmal kann uns vielleicht ein Bezug auf die Paulus-Briefe, auf das ώς μὴ, das als ob, die klärende Richtung geben, um diesen begrifflichen und revolutionären Horizont, bzw. diese Stimmung zu verstehen: metapolitisch die Welt zu verstehen bedeutet, der Verrücktheit dieser Welt nicht anzugehören. Aber die wesentliche Frage bleibt von einer seinsgeschichtlichen Einstellung nicht einmal berührt: unde malum?

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Zitierte Bibliographie aus der Gesamtausgabe Martin Heideggers bei V. Klostermann Verlag:

HGA16: Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken [1945], in Reden und andere Zeugnisse eines Lebeweges [1919–1976], herausgegeben von H. Heidegger, 2000.

HGA26: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leib-niz, herausgegeben von K. Held, 1978.

HGA51: Grundbegriffe, herausgegeben von P. Jaeger, 1991.

HGA60: Phänomenologie des religiösen Lebens, herausgegeben von M. Jung/T. Regehly und C. Strube, 1995.

HGA66: Besinnung, herausgegeben von W.-F. von Herrmann, 1997. HGA69: Die Geschichte des Seins (1938/40), herausgegeben von P. Trawny, 1998.

HGA94: Überlegungen II-IV (Scharze Hefte 1931–1938), herausgegeben von P. Trawny, 2014.

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PHAINOMENA XXVI/102-103

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v jedru predstavlja način, na katerega bi se Nietzsche nemara spoprijel z vpra-šanjem brexita: »welche [nämlich] ja doch nur als Furcht der anderen Staa-ten vor dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt.« (MA §481) Po Nietzscheju, ki se je znal osredotočiti na omenjeno napotilo v povezavi s pravičnostjo in kriminalnim vedênjem nasilnih instinktov, smo potemtakem komajda stopili onkraj Platonovega Sokrata, ki na začetku Države pravi, da zahteve po užitku in razkošju lahko vodijo edinole k vojni, tako da na račun bližnjika posegajo vanj, da bi si enako udobje zagotovile za vselej.

Ključne besede: Nietzsche, velika politika, Evropa, nacija, Platon.

Virgilio Cesarone

Revolution and the Thinking of the History of Being

Phainomena XXVI/102-103 (2017), 51–62

The paper intends to address the question of the relationship between revolution and the thinking of the history of Being. Was Martin Heidegger a philosopher of revolution? This essay seeks to show, how revolution may be understood in Heidegger’s works: not as a return to origins, but as a change of sight, which proceeds endlessly. In this way, the concept of politics receives a new sense, a meta-political sense, because the roots of political events (of war, too) do not have a political origin, or rather an ontological one.

Keywords: revolution, history of Being, metapolitics, power, war.

Virgilio Cesarone

Revolucija in bitnozgodovinsko mišljenje

Phainomena XXVI/102-103 (2017), 51–62

Članek obravnava vprašanje razmerja med revolucijo in mišljenje zgodovine biti. Je bil Martin Heidegger filozof revolucije? Esej skuša pokazati, na kakšen

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201 cept politike dobi nov, meta-političen smisel, kajti korenine političnih

dogod-kov (tudi vojne) nimajo političnega, temveč ontološki izvor.

Ključne besede: revolucija, zgodovina biti, metapolitika, moč, vojna.

Jesús Adrián Escudero

Eigentlichkeit and Agency in Sein und Zeit

Phainomena XXVI/102-103 (2017), 63–77

Heidegger’s concept of authenticity has been analyzed from existential, eth-ical and politeth-ical perspectives. Here, I would like to take a phenomenologeth-ical approach in describing the concept of authenticity and putting it in a produc-tive relation with the ontological dimension of agency. To be authentic means basically two interrelated things: one the one hand, to adopt a specific stand-point regarding the norms, in which we already live in; on the other hand, to assume the responsibility for these norms. Thus, I first explain the concept of authenticity from a phenomenological point of view. Secondly, I tackle the ontological character of agency. The authentic and resolute agent should be accountable for its actions and deliberations and be able to accept them as its own. Agency is not the result of an autonomous and free-floating subject, but rather an active modification of practices, in which we are already thrown.

Keywords: agency, authenticity, norms, responsibility, Heidegger.

Jesús Adrián Escudero

Eigentlichkeit in delovanje v Sein und Zeit

Phainomena XXVI/102-103 (2017), 63–77

Heideggrov pojem avtentičnosti (samolastnosti) je bil analiziran z eksisten-cialnega, etičnega in političnega vidika. Na tem mestu bi pojem avtentičnosti

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