E U I
WORKING
FÄPERS
E U I W O R K I N G P A P E R No. 8 9 / 3 8 0
Mehr "Macht" der Kommission?
Die legislativen Kompetenzen der Kommission
bei Untätigkeit des Rates
Christine Koziczinski © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
DEPARTMENT OF LAW
E U I W O R K I N G P A P E R No. 8 9 / 3 8 0
Mehr "Macht" der Kommission?
Die legislativen Kompetenzen der Kommission
bei Untätigkeit des Rates
Christine Koziczinski
BADIA FIESOLANA, SAN DOMENICO (FI)
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research
without permission of the author.
© Christine Koziczinski Printed in Italy in April 1989 European University Institute
Badia Fiesolana - 50016 San Domenico (FI) -
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research
1.K apitel; Einleitung und Problemaufriß S. 1
I Der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund S. 1
II Tatsächliche Entwicklung-Reaktion der Kommission S. 5
1. Fischerei I s . 5
2. Festsetzung von Währungsausgleichsbeträgen S. 5
3. Festsetzung von Währungsausgleichsbeträgen S. 6
4. Weitere Anwendung von abgelaufenen Maßnahmen S. 6
5. Agrarpreisfestsetzungen S. 6
III Problemstellung für die Arbeit S. 7
1. Allgemeine Voraussetzungen S. 7 1.1 Ausschließliche Gemeinschaftskompetenz S. 8 1.2 Ratszuständigkeit S. 9 1.3 Regelungslücke S. 9 1.4 Regelungsbedarf S. 10 2. Systematisierung in Fallgruppen S. 10 2.1 Beteiligung S. 11 2.2 Verlängerung S. 11
2.3 Vorübergehende oder aufschiebend bedingte Maßnahmen S. 11
2.4 Erlaß neuer, endgültiger Regelungen S. 11
2.5 Entwicklung neuer Politiken S. 12
3. Vorgehensweise S. 12..
2. Kapitel: Legislative Kompetenzen im EWG-Vertrag S. 14
I Ausdrücklich zugewiesene Befugnisse S. 14
1. Eigenständige Befugnisse kraft Vertrages - S. 15
Art. 155 III l.HS
Exkurs: 1.1 implied powers S. 16
1.2 resulting powers S. 19
2. Eigenständige Befugnisse kraft Übertragung - Art.155 IV S. 20
2.1 Vorbemerkung S. 20
2.2 Bisherige Rechtslage S. 22
2.3 Rechtslage nach Inkrafttreten der EEA S. 25
3.. Initiativ- und Vorschlags recht - Art.155 III 2.HS S. 29
4. Al l g . Überwachungs- und Kontrollfunktion - Art.155 I S. 30
4.1 Allg. Grundstruktur S. 30
4.2 Ausdrückliche Rechtsetzungskompetenzen S. 31
4.2.1 Art. 155 I als ausdrückliche Ermächtigung S. 31
4.2.2 Andere Aufassungen S. 32 4.2.3 Ergebnis S. 33 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research
II Ungeschriebene RechtSetzungskompetenzen S. 34
1. Vorbemerkung S. 34
2. Die Rechtsprechung des EuGH S. 36
2.1 RS 804/79 (Fischerei I) S. 36
2.2 RS 84/81 (Staple-Dairy) S. 39
2.3 RS 332/85 (Fischerei II) S. 41
2.4 Die Urteile im Lichte der Fallgruppen S. 43
3. Rechtsgrundlagen für ungeschriebene Befugnisse S. 48
3.1 Erweiterte Auslegung von Art. 155 I nach dem Grundsatz
der implied powers S. 48
3.2 Erweiterte Auslegung von Art. 155 I nach dem Grundsatz
der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft S. 51
3.2.1 Begriff und Bedeutung des Grundsatzes S. 51
3.2.2 Umfang der vom Postulat gedeckten Maßnahmen S. 53
3.2.3 Grenzen des Prinzips S. 55
3.3 Erweiterte Auslegung von Art. 5 S. 56
3.4 Kompetenzen aus dem Prinzip der gemeinschaftlichen
Rechtsetzung ' S. 57
3.5 Kompetenzen auf Grund besonderer Ratsentscheidungen
(Verallgemeinerung des Fischereifalls) S. 59
III Die Grenzen einer extensiven Auslegung von Kompetenzbe
stimmungen S. 61
1. Der Grundsatz des institutioneilen Gleichgewichts S. 61
1.1 Entwicklung und Rechtsnatur des Begriffs S. 61
1.2 Kritik S. 62
2. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung S. 66
2.1 Begriff und Stellung innerhalb des Vertrages S. 66
2.2 Die Gründe für die Einführung des Prinzips S. 69
3. Demokratie-Rechtsstaatlichkeit-Gewaltenteilung S. 71
3.1 Vorbemerkung S. 71
3.2 Die Prinzipien im EWG-Vertrag S. 72
3.2.1 Die Mängel des Vertrages S. 72
3.2.2 Die Bindung der EG an die Verfassungsprinzipien S. 73
3.2.3 Die Sicherung der Prinzipien im Vertrag S. 77
-Demokratieprinzip S. 77
-Gewaltenteilung S. 78
-Rechtsstaätlichkeit S. 79
-Ergebnis S. 81
3.3 Die erweiterte Auslegung von Kompetenzbestimmungen
im Verhältnis zu den Prinzipien S. 81
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
4. Das Souveränitätsprinzip S. 86
IV Ergebnis S. 91
3 . Kapitel: Kompetenzen der Kommission aus ungeschriebenen Not standsklauseln
I Notstandsregelungen im Vertrag S. 93
II Notstandsregelungen in den Mitgliedstaaten S. 94
III Die Geltung ungeschriebener Notstandsklauseln im EWG-Vertrag S. 95
4. Kapitel; Ausblick S. 99
Literaturverzeichnis IV
Abkürzungsverzeichnis X
Bei Art. ohne weitere Angaben handelt es sich um solche des EWG-
Vertrages.
Die Arbeit wurde im Oktober 1988 am Europäischen Hochschulinstitut als Master-Arbeit (LL.M.) angenommen. © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
I Der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund
Nach seiner Grundstruktur legt der EWG-Vertrag als Verfassung
der Gemeinschaft nur die grundsätzlichen Ziele, die Anwen
dungsbereiche und das Verfahren der europäischen Integration
fest. Mangels detaillierter Regelungen bildet er, ausgestaltet
als "traité cadre", nur die Grundlage für die Rechtsetzungs
befugnisse der Gemeinschaftsorgane, überläßt diesen aber große Ermessensspielräume.1
Darüber hinaus betrifft der EWG-Vertrag im Gegensatz zum EGKS-
Vertrag nicht nur eine begrenzte Materie, sondern will einen
einheitlichen Wirtschaftsraum der Mitgliedstaaten insgesamt
schaffen. Wesentliche politische Entscheidungen, die die
Entwicklung und den Ausbau der Gemeinschaft betreffen, bleiben dem sekundären Gemeinschaftsrecht Vorbehalten.
Die auf der Grundlage des Vertrages erlassenen Rechtsnormen gelten ferner in den Mitgliedstaaten unmittelbar, ohne daß es eines Transformationsaktes durch den nationalen Gesetzgeber bedürfte. Im Gegensatz zu sonstigen internationalen Organisat ionen binden die Rechtsakte der Gemeinschaft nicht nur die
Mitgliedstaaten als Glieder der Organisation, sondern haben
Durchgriffscharakter und unmittelbare Wirkung auf den Bürger
oder bestimmte Wirtschaftsunternehmen.4
Demgegenüber verbleibt die durchführende Gewalt bei den Mit
gliedstaaten, die, neben der Anwendung des Rechts durch ihre
Gerichte, EG-Recht durch ihre Rechtssetzungsorgane ausführen
1. Bleckmann, S.23 2. Beutler-Bieber-Pipkorn-Streil, S.37, Bleckmann, S.23 3. Bleckmann, S.23 4. S.bw. RS 26/62 (van Gend/Loos) Slg. 1963, S.l ff © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research
(z.B. Richtlinien erlassen) und durch ihre Verwaltungsorgane die vollziehende Gewalt ausüben.5
Dem sekundären Gemeinschaftsrecht und damit auch dem Gemein
schaftsgesetzgeber kommt daher unter den verschiedensten Ge
sichtspunkten eine besondere Bedeutung zu.
So führte die politische Brisanz der legislativen Entscheidun gen auf der einen Seite, ihre Eingriffswirkung auf den einzel
nen Bürger, sowie die Notwendigkeit ihres Vollzugs durch
nationale Organe auf der anderen Seite dazu, daß im EWG-
Vertrag, anders als im als "traité de règles" ausgestalteten
EGKS-Vertrag, die wesentlichen Rechtsetzungsbefugnisse gemäß
Art. 145 beim Ministerrat und nicht bei der Kommission
konzentriert sind.6 Auch wenn im EWG-Vertrag, im Gegensatz zu
den nationalen Verfassungen, das staatsrechtliche Gewalten
teilungsprinzip mit der ausschließlichen Zuweisung von
Befugnissen an ein bestimmtes Organ oder einen Funktionsträger
im Staat nicht wiederzufinden ist, es vielmehr "komplementäre
Kompetenzen" von Rat und Kommission gibt7 , wird die
überwiegende Zahl der Rechtsakte durch Beschluß des Rates als eigentlichem Rechtsetzungsorgan8 erlassen.
In der Regel ist zwar ein Vorschlag der Kommission Grundlage
der Entscheidung. Der Kommission obliegen jedoch
' .... Q
schwerpunktmäßig die Aufgaben einer Exekutive. Nur in
Einzelfällen ist die Kommission befugt, abstrakt-generelle Regelungen oder Einzelmaßnahmen zu erlassen.10
5. Beutler-Bieber-Pipkorn-Streil, S.79 6 o Bleckmann, S.23? Stein, S.620
7. Hummer in: Grabitz, vor Art.155, Rz 12 8. Schweitzer in: Grabitz, Art.145 Rz 1
9. Smit-Herzog, Section 3 Preliminary Observations on Art. 155- 163 Ziff. 5, Art. 155.17 10. Beutler-Bieber-Pipkorn-Streil, S.192 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Mit der Verlagerung der Rechtsetzungsbefugnisse auf den aus Regierungsvertretern zusammengesetzten Rat wollten sich die
Regierungen entscheidende Einflußmöglichkeiten auf die
Entwicklung des sekundären Gemeinschaftsrechts sichern.11 Diese ist jedoch während der letzten zwei Jahrzehnte erheblich
gestört. Wenn Walter Hallstein 1965 als Präsident der EG-
Kommission noch feststellen konnte, daß zum damaligen
Zeitpunkt nahezu alle Vorschläge der Kommission im Rat
Zustimmung gefunden hatten12, so sieht die Realität der
gemeinschaftlichen Legislative heute anders aus: 13 14
Teilweise verharrt der Rat völlig untätig15,teilweise werden wesentliche Entscheidungen erst verspätet getroffen.16
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig.
Die nicht nur im Luxemburger Kompromiß ihre Ursache findende
11. Hummer in: Grabitz, Fn 7 vor Art.155 Rz llff; Bleckmann, S.23
12. Hallstein in: Europäische Reden, S.545,549, Rede vom 25.3.65
13. 1979 belief sich die Zahl der unerledigten
Kommissionsvorschläge auf 200. (S. Streinz: Der Luxemburger
Kompromiß, S.100, Fn. 434 m.w.N.) Am 31.12.1983 waren
bereits 694 Vorschläge anhängig, davon mehr als 400 seit mehr als einem Jahr( S. Gilsdorf, S.113 Fn 37). Am 1.2.1987 waren 743 Vorschläge anhängig, davon mehr als die Hälfte über ein Jahr (S. Documents of the Commission COM (87) 106 final).
14. S. Pescatore, S.559
15. Bis heute hat der Rat die gemäß Art. 75 I a, 75 I b zu beschließenden Maßmnahmen im Bereich einer gemeinsamen Vekehrspolitik nicht beschlossen ( S. EuGH RS 13/83, Urteil v.22.5.1985).
16. Hier soll beispielhaft nur die Festsetzung der Währungs
ausgleichsbeträge aus dem Jahr 1980 erwähnt werden.
S.Verordnung der Kommission v. 2.4.1980, Nr.846/80 Abi. L
91/1 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Praxis des Rates1 7 , wesentliche Entscheidungen einstimmig zu
treffen, hat ohne Zweifel zu einer Verlangsamung des
Rechtsetzungsprozesses beigetragen.18
Selbst wenn es tatsächlich relativ selten zur ausdrücklichen
19
Ausübung eines Vetos durch einen Mitgliedstaat kam , und
umgekehrt der Ministerrat bereits trotz Geltendmachung
wichtiger nationaler Interessen durch einen Mitgliedstaat
Mehrheitsentscheidungen getroffen hat , ist doch die
gemeinschaftliche Willensbildung durch langwierige
Verhandlungen und das Ausloten sog. "package deals" erheblich
erschwert worden.21
Hinzu kommt die Erweiterung der Gemeinschaft und die damit
verbundene größere Interessenvielfalt, durch die die
. 2 2
Entscheidungsfindung verlangsamt wird.
Ohne die Gründe weiter analysieren zu wollen, muß festgestellt
werden, daß es auf Grund der Untätigkeit des Rates zu
erheblichen Lücken im Rechtsetzungsverfahren der Gemeinschaft kommt.23
17 o Glaesner H.-J., "Kooperation und Konflikt zwischen den
Gemeinschaftsorganen im Spannungsfeld der Gemeinschafts
entwicklung" in: Magiera (Hrsg.) Entwicklungsperspektiven
der Europäischen Gemeinschaft, Berlin 1985 S .223,236,237 .
Glaesner verweist auf die Notwendigkeit der Akzeptanz der
Ratsentscheidung für deren Umsetzung. Diese sei bei
einstimmigen Entscheidungen eher gegeben.
18. Lamoureux in: RMC 84,215; Dewost in: RMC 80,289,293 ff;
Constantinesco in: EuR 81,209,218 ff
19. So wurde 1977,1978 und 1979 nur 13 Mal ein Veto im Bereich der Legislative ausgesprochen (s. Dewost Fn 18 S.293).
20. Erstmals kam es am 18.5.1982 bei der Verabschiedung der
Agrarpreise zu einer Mehrheitsabstimmung.
S. Abi. 1982 L 162/164
21 o S. Bericht des Dreier Ausschusses, S.8
22. Ehlermann in: EuR 81,348
23. Pescatore, S.559 ff © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
II Tatsächliche Entwicklung-Reaktion der Kommission
Mehrmals in den letzten Jahren hat die Kommission in den
Fällen der Ratsuntätigkeit den Anspruch erhoben,
stellvertretend für den Rat berufen zu sein, entsprechende
Maßnahmen zu treffen oder zumindest an einzelstaatlichen
Maßnahmen beteiligt werden zu müssen.
Folgende Beispiele sollen dies illustrieren:
1. Fischerei I
Im Jahr 1979 hatte Großbritannien ohne weitere Rücksprache mit
der Kommission auf dem Gebiet der Seefischerei eigenständig
verschiedene Ausübungsregelungen verabschiedet.
Vorausgegangen war, daß es dem Rat bis zum Ende der in Art.102 der Beitrittsakte vorgesehenen Übergangszeit nicht gelungen
war, gemeinschaftliche Regelungen auf der Grundlage der
Vorschläge der Kommission zu verabschieden.
Die Kommission hielt die britischen Verordnungen für
rechtswidrig, da bei Untätigkeit des Rates ihr Einvernehmen zu nationalen Maßnahmen einzuholen sei.
Mit diesem Sachverhalt hatte sich der EuGH 1979 zu befassen24; auf die Entscheidung wird im Verlauf zurückzukommen sein.
2. Festsetzung von Währungsausqieichsbeträgen
1980 verlängerte die Kommission eine abgelaufene Regelung des
Rates zur Berechnung der Währungsausgleichsbeträge im
Verhältnis zum ECU. Ferner führte sie positive
Ausgleichsbeträge für Großbritannien auf dem Sektor Getreide,
Eier und Geflügel ein, nachdem der Rat die von der Kommission
24. RS 804/79, Slg. 1981,1045 ff © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
vorgeschlagene Regelung nicht rechtzeitig erlassen hatte. Auch dieser Fall war Gegenstand eines Verfahrens vor dem EuGH.25
3. Festsetzung von Einfuhrabschöpfungen
Mit einer Verordnung vom 1.6.198026 verlängerte die Kommission
die Gültigkeit einer Verordnung des Rates, bzgl. der
Einfuhrabschöpfungen für Rindfleisch, Milch und
Milcherzeugnisse, nachdem der Rat bis zum Ablauf der in der
Verordnung gesetzten Frist die für das neue Wirtschaftsjahr
erforderlichen Beträge nicht festgesetzt hatte. Die Kommission
erklärte ausdrücklich den Vorbehalt rückwirkender Änderungen
durch eine spätere Ratsentscheidung.
4. Weitere Anwendung von abqelaufenen Verwaltungsmaßnahmen
Mit Schreiben vom 5.8.198327 teilte die Kommission dem Rat
mit, daß sie mangels Vorliegen neuer Entscheidungen, bzgl. der
Produktionsbeihilfen für getrocknete Feigen und getrocknete
Weintrauben, die notwendigen Verwaltungsmaßnahmen für das neue Wirtschaftsjahr auf der Grundlage der abgelaufenen Regelungen
für die Wirtschaftsjahre 81/82 und 82/83 treffen werde. Damit
verlängerte die Kommission die urspr. Ratsentscheidung.
5. Aqrarpreisfestsetzungen
28
Durch eine Verordnung vom 28.6.1985 setzte die Kommission
die Preise für Hartweizen für das Wirtschaftsjahr 1985/86, mit
25. Verordnung der Kommission v. 2.4.1980, Nr. 846/80 Abi.Nr. L , 91/1-2; EuGH RS 84/81, Slg. 1982, S.1763 ff
26. Nr.1390/80 ,Abl. 1980 Nr. L 140/6-7
27. Abi. 1983 C 209/2
28. Verordnung der Kommission v. 28.6.1985, Nr.329/85 Abi. 1985 L 169/94-95 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Ausfuhrerstattungen für Reis und Bruchreis für das gleiche
Wirtschaftsjahr fest. Der Rat hatte keine rechtzeitigen
Entscheidungen getroffen.30
Im Juni 1988 kam es in großem Umfang zu Agrarpreisfestset
setzungen durch die Kommission.31
III Problemstellung für die vorliegende Arbeit
1.Allgemeine Voraussetzungen
Die oben angeführten, später noch näher zu skizzierenden Fälle
sollen in dieser Arbeit zum Anlaß genommen werden, die der
Kommission im EWG-Vertrag zugewiesenen Kompetenzen für den
Bereich der Gesetzgebung näher zu analysieren.Dabei wird es
nicht allein darum gehen, bereits vorliegende Entscheidungen
der Kommission, ihre Rechtmäßigkeit und ihre Behandlung durch
den EuGH in den entsprechenden Verfahren zu untersuchen.
Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, die einzelnen
Maßnahmen in ein Gesamtkonzept einer (evt.) legislativen
Zuständigkeit einzuordnen. Die Analyse wird sich deshalb nicht
auf einen einzelnen Sektor wie die Agrarpolitik beschränken,
auch wenn auf Grund des Gewichtes des Agrarsektors im
gemeinsamen Markt die Untätigkeit des Rates hier besonders
offensichtlich wird.
29. Verordnung der Kommission v. 29.7.1985, Nr. 2125/85 Abi.
Nr. L 198/33-34
30. Vgl. für das gleiche Wirtschaftsjahr auch Entscheidung der
Kommission v. 20.6.1985, Nr. 309/85 Abi. L 163/52-53;
Schreiben der Kommission an die Mitgliedstaaten v.22.6.1985
btr. Getreide und Raps, Abi. 1985 C 153/7; s.a. die
Agrarpreisfestsetzungen v .1.7.1988
31. S.z.B. Verordnungen der Kommission v.30.6.1988 Nr.1871-47,
1878-79, 1884-89, 1892-97, 1904, 1906, 1908, 1911-15 /88, Abi. L 168 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research
Es soll vielmehr allgemein nach Gesetzgebungskompetenzen der Kommission gefragt werden.
Folgende Grundvoraussetzungen sind jedoch festzuhalten:
1.1 Ausschließliche Gemeinschaftskompetenz
Bei den zu untersuchenden Rechtsakten handelt es sich nur um
Maßnahmen in solchen Bereichen, in denen grundsätzlich und
unbestritten eine ausschließliche Gemeinschaftskompetenz
vorliegt.32 Damit fallen solche Fälle heraus, in denen vor
Ablauf einer entspr. Übergangszeit noch nationale Maßnahmen
möglich sind, als auch Bereiche einer konkurrierenden
Gesetzgebung, in denen die Gemeinschaft bisher noch nicht
tätig wurde und so noch Raum für nationale Maßnahmen bleibt.
Das Erfordernis ausschließlicher Gemeinschaftskompetenz
bezieht sich auf die konfliktfreie Situation. D.h., es ist
vorweg zu fragen, ob auf dem in Frage stehenden Gebiet eine
ausschließliche Zuständigkeit bestünde, wenn der Rat seinen
Pflichten rechtzeitig nachkommen würde.
Mit diesem Tatbestandsmerkmal soll nicht ein Ergebnis derart
vorweggenommen werden, daß bei Untätigkeit des Rates die
Kompetenzen bei der Gemeinschaft verbleiben und nur noch von
•
•
33einem Gemeinschaftsorgan wahrgenommen werden können. In
einem späteren Stadium der Untersuchung bedarf es vielmehr einer kritischen Auseinandersetzung mit der auch vom EuGH
vertretenen Auffassung, die Kompetenzen seien auch bei einer
Untätigkeit des legitimierten Organs nur noch von der
Gemeinschaft auszuüben.34
32. Lamoureux in: RMC 84,215,216
33. So aber die meisten Stimmen in der Literatur, vgl. in: EuR 82,133,140 ff; Lamoureux in: RMC 84,215,216
34. EuGH RS 804/79 ,Slg. 1981,S .1045,1073 , <
Mitgliedstaaten als Sachwalter begreift.
Schwarze ff der die © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
1.2 Ratszuständiqkeit
Die Zuständigkeit zum Erlaß entspr. Maßnahmen muß beim Rat
gelegen haben. Die Untersuchung soll sich auf die ursprünglich beim Rat angesiedelten Gesetzgebungskompetenzen beschränken.
Evt. nicht wahrgenommene Legislativrechte anderer Organe, wie
z.B. des Parlaments, und sich daraus ergebene Lücken in der
Rechtsetzung bleiben außer Betracht.35
1.3 Reqelunqslücke
Ferner muß der Rat aus welchen Gründen auch immer untätig
o er geblieben sein.
Der Begriff Regelungslücke wird hier untechnisch als
Charakteristikum des Handlungsdefizits vor einem Tätigwerden
der Kommission gebraucht. Eine Auseinandersetzung mit der
theoretischen, insbesondere für die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung bedeutsamen Frage , wie das Regelungsdefizit
■ • • • • 37
im Rechtssinne zu charakterisieren ist , muß hier offen
bleiben.38
In der vorzulegenden Untersuchung stellt sich vielmehr die
Frage, ob von der Kommission für den Rat getroffene Maßnahmen wirksames Gemeinschaftsrecht darstellen, die Kommission also
als Gemeinschaftsgesetzgeber tätig werden durfte. Da der
(Gemeinschafts-) Gesetzgeber unstreitig jede Form von Lücke
einer (Gemeinschafts-) Rechtsordnung schließen darf39 , kommt
es auf die Art des Defizits vor Erlaß der Maßnahme nicht an.
35. S. aber Pechstein ( S.103), der Funktionsstörungen aller
Organe systematisiert. 36. Pechstein, S.97
37. als "Lücke im Gesetz" oder "Lücke im (Gemeinschafts-) Recht", s. Stein, S.624
38. Zu verweisen ist auf die ausführliche Auseinandersetzung bei Stein (S.624 ff) und Pechstein (S.97 ff).
39. S. Stein, S.628 m.w.N. © The Author(s). European University Institute. Digitised version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Die Frage wird erst dort wieder relevant, wo legislative
Kommissionskompetenzen verneint und Lösungsmöglichkeiten
gesucht werden, die auch in richterlicher. Gestaltungsakten
liegen könnten.
Gleiches hat für die von Stein in diesem Zusammenhang
aufgeworfene Frage zu gelten, ob die fehlende Entscheidung des
Rates nicht vielleicht eine Willensäußerung dahingehend ist,
"daß er eine bestimmte Regelung (noch) nicht wolle".40
1.4 Regelunqsbedarf
Letztlich muß eine Notwendigkeit bzw. ein Bedürfnis nach einer
Regelung bestehen.41 Dieses Kriterium soll eine solche
Lösungsmöglichkeit ausschließen, die darauf verweist, daß eine spätere Entscheidung des Rates abgewartet werden kann.
Eine Regelungsnotwendigkeit ist immer dann gegeben, wenn eine
Frist zum Handeln durch den Vertrag oder durch bereits
bestehende Regelungen gesetzt ist.
2.Systematisierung in Fallgruppen
Diese Grundvoraussetzungen erfüllend, sind verschiedene Formen denkbar, in denen die Kommission auf die Untätigkeit des Rates reagieren kann und in denen eine Analyse der Rechtmäßigkeit zu unterschiedlichen Ergebnissen führen wird.
Sie reichen von einer bloßen Beteiligung der Kommission an
den Rechtsakten der Mitgliedstaaten oder anderer
Gemeinschaftsorgane bis zur Entwicklung neuer Politiken durch
4 0 . Stein, S.632 41. Pechstein, S.101 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
die Kommission.42
Zur besseren Übersichtlichkeit sollen sie in fünf Fallgruppen strukturiert werden.
2.1 Beteiligung der Kommission an einzelstaatlichen Maßnahmen
Hierunter ist der der Rs 804/79 zu Grunde liegende Fall zu
subsumieren (vgl.II Ziff. 1 mwN).
Die Kommission handelt nicht selbständig beim Erlaß von
Maßnahmen, sondern erteilt nur ihr Einvernehmen.
2.2 Verlängerung bestehender Regelungen
Dies trifft z.B. den Fall der Festsetzung von
Einfuhrabschöpfungen (s. II Ziff.3 mwN).
Die Kommission trifft keine materiell neue Entscheidung,
verlängert aber selbständig die Anwendungsfrist von vom Rat erlassenen, befristeten Regelungen (s. auch II Ziff. 4).
2.3 Vorübergehende und aufschiebend bedingte Maßnahmen
Hierunter sind Fälle zu subsumieren, in denen die Kommission
zwar neue Regelungen trifft, die Maßnahme aber unter dem
Vorbehalt einer nachträglichen Genehmigung oder Änderung durch
den Rat stehen (s. II Ziff.2 Festsetzung von Währungsaus
gleichsbeträgen) .
2.4 Erlaß neuer, endgültiger Regelungen
42. Vgl. Lamoureux in : RMC 84,215,222 , der zwischen einem
Einfrieren von Maßnahmen ( "L'Approche statique: La théorie du gel") und Notstands- oder Krisenbefugnissen ("L'Approche dynamique: La théorie du pouvoir de crise") unterscheidet.
Diese Differenzierung ist insoweit mißverständlich, als sie
die Natur der Maßnahme (z.B. Verlängerung bestehender
Regelungen) und die rechtliche Grundlage (evt
Krisenbefugnisse) vermischt. © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Diese Fallgruppe will u.a. die Agrarpreisfestsetzungen von
1985 (s. II Ziff.5) erfassen und betrifft selbständige, neue
Festsetzungen durch die Kommission, die für die Adressaten
uneingeschränkt verbindlich sind.
2.5 Entwicklung neuer Politiken
Bis heute hat der Rat die erforderlichen Maßnahmen im Bereich einer gemeinsamen Verkehrspolitik nicht getroffen.43 Zumindest
theoretisch wäre es denkbar, daß die Kommission, sollte der
Rat entgegen seiner Erklärung vom November 1985 bis zum Jahre
1992 entspr. Harmonierungsmaßnahmen nicht verwirklicht haben,
eigene Maßnahmen erlässt.
Auf die verschiedenen Fallgruppen wird im Verlauf der Arbeit Bezug zu nehmen sein.
3.Vorgehensweise
In einem ersten Teil der Arbeit gilt es, die der Kommission durch den EWG-Vertrag ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen im Bereich der Legislative unter dem Aspekt zu untersuchen, ob sich daraus besondere Kompetenzen für den Fall der Untätigkeit
des Rates ergeben. Hier ist auch auf evt. "implied" und
"resulting powers" einzugehen.
Der zweite Teil wird sich mit der Frage befassen, ob die Rolle
der Kommission als "Hüterin" der Verträge und "Wahrer des
Gemeinschaftsinteresses" ungeschriebene Gesetzgebungskom
petenzen begründet. Hierbei wird ein Schwerpunkt in der
43. S. Fn.15 mwN © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Analyse der Rechtsprechung des EuGH liegen.44 Insbesondere
sind die den Entscheidungen selbst innewohnenden Grenzen
aufzuzeigen.
Im Anschluß werde ich mich mit den gefundenen Ergebnissen unter folgenden Gesichtspunkten kritisch auseinandersetzen:
1. Welche Grenzen sind einer Ausdehnung der Kommissions-
kompetenzen nach dem Grundsatz der Funktionsfähigkeit gesetzt?
2. Welche Bedeutung haben dabei das Prinzip des
institutioneilen Gleichgewichts und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung?
3. Rechtfertigt der Grundsatz der progressiven Auslegung der
Verträge eine Verlagerung der Kompetenzen auf die Kommission,
oder sind besondere Rücksichten auf das Demokratie- und
Rechtsstaatsprinzip sowie auf die Souveränität der
Mitgliedstaaten zu nehmen, die Ausdruck im Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung gefunden haben?
4. Welche Grenzen setzten die nationalen Verfassungen einer
Übertragung von Hoheitsrechten?
5. Rechtfertigen allgemeine Notstandsklauseln , soweit sie in
den Verfassungen der Mitgliedstaaten vorhanden sind, ein
Tätigwerden der Kommission?
In einem letzten Teil sind Lösungsmöglichkeiten aufzu
zeigen, die in einer stärkeren Beteiligung der Mitgliedstaaten oder in einer Verweisung der Kommission auf die nach dieser Untersuchung zulässigen Maßnahmen liegen.
44. Hier sind insbesondere die RS 804/79; 84/81; 63/83; 332/85 zu berücksichtigen. © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
2.Kapitel: Legislative Kompetenzen im EWG-Vertrag
I Ausdrücklich zuqewiesene Befugnisse
Die der Kommission im EWG-Vertrag ausdrücklich zugewiesenen
Befugnisse finden sich in vielen Einzelbestimmungen des
Vertrages (z.B. Art. 211, 113, 228, 169,173)1 , werden aber
zusammenfassend in Art. 155 umrissen. Sie können in
verschiedene Aufgabenbereiche aufgeteilt werden, von denen die vier folgenden den Ausgangspunkt der Analyse bilden sollen: -eigenständige Handlungsbefugnisse kraft Vertrages Art.155 III
-eigenständige Handlungsbefugnisse kraft Delegation Art. 155
IV
-Initiativ- und Vorschlagsrecht Art. 155 III -Überwachungs- und Kontrollfunktion Art. 155 I
Die in Art. 155 II umschriebene Aufgabe der Kommission, die
Integration durch die Abgabe unverbindlicher Rechtsakte zu
fördern, kann hier außer Betracht bleiben, da sich diese
Untersuchung nur mit den rechtsetzenden Kompetenzen der
Kommission beschäftigen will. Gleiches hat zu gelten für die
Aufgabe der Kommission als Sprecherin der Gemeinschaft nach
2 „
außen und innen und als Vertreterin derselben im
Volker-3
rechtsverkehr , da sich aus diesen keinesfalls legislative
Kompetenzen herleiten lassen.4
1. S. umfassende Aufstellung bei Hummer in: Grabitz# Art.155#
R z . 4
2. S. Schmitt-v.Sydow, S.19 3. Gilsdorf, S.91
4. Vgl. zur Unterscheidung der verschiedenen Aufgaben Schmitt-
v.Sydow, S.19; Gilsdorf, S.91 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
1. Art.155 III l.HS - eigenständige Befugnisse kraft Vertrages
Nach dem Wortlaut von Art. 155 III l.HS darf die Kommission
"Entscheidungen" "in eigener Zuständigkeit" "nach Maßgabe des
Vertrages" treffen. Hierbei handelt es sich um solche
Befugnisse, die die Kommission, ohne Hinzuziehung eines
anderen EG-Organes, ausüben kann.5 Der Begriff "Entscheidung"
ist untechnisch zu verstehen; die Rechtsnatur ist durch den
Wortlaut nicht festgelegt.6 Neben unverbindlichen
Empfehlungen (z.B. Art. 14 Ziff.6, 27) und Stellungnahmen
(z.B. Art.72) kann die Kommission Richtlinien (z.B. Art. 45
Ziff. 2 Abs.4) oder Entscheidungen (Art. 73 Ziff.2)
erlassen.7
Es wäre daher denkbar, daß die Kommission gestützt auf Art.
155 III l.HS für einen untätigen Rat tätig würde und
rechtsverbindliche Entscheidungen erließe.
Voraussetzung eines solchen Tätigwerdens ist jedoch, daß
solche Handlungsbefugnisse der Kommission aus dem Vertrag selbst zustehen.8 Es muß sich um die Wahrnehmung spezieller, vertraglich vorgesehener Kompetenzen handeln.9 Art. 155 III stellt insoweit nur eine deklaratorische Zusammenfassung an
anderer Stelle geregelter Einzelkompetenzen dar.10 Von diesen
enthält der Vertrag eine Vielzahl.11
So sieht z.B. Art. 93 II (letzter Satz) für den Bereich staat licher Beihilfen vor, daß die Kommission eine Entscheidung
5. Schmitt-v.Sydow, S.55
6. Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 32
7. S. umfassende Aufstellung bei Schmitt-v.Sydow, S.56 ff 8. Schmitt-v.Sydow, S.60
9. Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 32 10. Schmitt-v.Sydow, S.65,66
11. Es sei auf die Aufstellung bei Schmitt-v.Sydow verwiesen. (S.56 ff) © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
über die Statthaftigkeit einer staatlichen Beihilfe treffen kann, wenn sich der Rat nach einer Frist von drei Monaten über den Antrag eines Mitgliedstaates nicht entschieden hat. Der
Kommission werden hier besondere Entscheidungsbefugnisse für
den Fall der Untätigkeit des Rates zugewiesen.
Über diese einzeln normierten Befugnisse hinaus läßt sich
eine generelle Regelungsbefugnis für den untätigen Rat aus
Art. 155 III l.HS allein nicht herleiten.12 Art. 155 III 1. HS
ist vielmehr Ausdruck des Prinzips der begrenzten
Einzelermächtigung, auf das im Verlauf zurückzukommen ist.
Für ein Tätigwerden der Kommission, gestützt auf diese
Vorschrift, bedarf es ausdrücklich normierter Einzel
kompetenzen, die für die im 1.Kapitel aufgezeigten Konflikt
fälle gerade nicht existieren.
EXKURS: "implied" und "resultinq powers"
Betrachtet man die Kommentierung von Schmitt-v.Sydow13 und
Hummer14 zu Art. 155 III l.HS bzw. zur Wahrnehmung eigener
Entscheidungsbefugnisse der Kommission, so muß man
feststellen, daß beide Autoren im Rahmen dieser Vorschrift der
Kommission auf Grund von implied oder resulting powers
besondere Befugnisse zuerkennen, die über die vertraglich
ausdrücklich vorgesehenen hinausgehen. Der Begriff der implied powers ist auch bei Ehlermann15 und in den Editoral Comments16
12. S.a. RS 188-190/80 (Slg. 1982 2545.2573), wo der Gerichtshof hervorhebt, daß die Kommission im Rahmen von Art. 155 III nur nach "Maßgabe des Vertrages " Entscheidungen trifft.
13. in: v.d.Groeben, Art.155, Rz 41
14. in: Grabitz, Art.155, Rz 34
15. Ehlermann in: EuR 81,361
16. Editorial Comments in: CMLR 81,267,268
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
zu finden.
Es scheint daher an dieser Stelle angebracht, das Prinzip der implied und resulting powers und seine Problemlösungskapazität
näher zu untersuchen, auch wenn es sich systematisch
betrachtet, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, nicht um
ausdrücklich zugewiesene Kompetenzen handelt.
a) implied powers
Bei der ursprünglich aus dem amerikanischen Verfassungsrecht
stammenden Theorie handelt es sich nicht um eine selbständige
Rechtsquelle. Vielmehr ist sie eine besondere
Auslegungsmethode für bereits bestehendes Recht17, ein
18
Spezifikum der teleologischen Methode.
Die Geltung dieser Methode ist zwischenzeitlich neben der Vor
schrift des Art. 235 auch im Bereich des EWG-Vertrages zwar
nicht unbestritten, jedoch weitestgehend anerkannt.
Nach dieser Lehre beinhalten die Vorschriften des Gemein
schaftsvertrages zugleich die Vorschriften, die zu einer
"zweckmäßigen und vernünftigen Anwendung" der Ausgangs
vorschrift erforderlich sind.20 Bleckmann beschränkt die
insoweit breit gefaßte implied-powers-Doktrin auf
Kompetenznormen dergestalt, daß ausdrücklich vorgesehene
Kompetenzen auch solche Befugnisse beinhalten, ohne welche die
17. Nicolaysen in: EuR 66,129,131
18. S. umfassende Analyse bei Peruzzo, S.59ff; Hummer, S.201
19. Schwartz in: Groeben Art.235 Rz 27; Nicolaysen in: EuR
66,129; Bleckmann S.161,162; Hummer S.201; Giardina in: Itl.
Yearbook of International Law 1975,99; Ipsen S.436; s.
insbesondere Peruzzo S.89, S.130, S. 130 Fn.l ; a.A. Rabe
S.138 ff; Möller S. 86,87
20. EuGH, RS 8/55, Slg 1956,297,312; Schwartz in: Art.235,Rz 27 v.d.Groeben, © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
ursprüngliche Handlungsermächtigung nicht vernünftig und
zweckmäßig ausgeübt werden kann.21 Gegenüber Vertrags
änderungen gemäß Art.235 ist festzuhalten, daß dieser auf
Grund von gemeinschaftlichen Zielen Vertragsänderungen zuläßt,
um nicht gegebene Kompetenzen zu begründen. Implied powers
22
knüpfen demgegenüber immer an vorhandenen Kompetenzen an.
Dies muß sogar so weit eingeschränkt werden, daß implied
powers immer nur da bestehen, wo sie im Zusammenhang mit
2 3
ausdrücklichen Rechtsetzungskompetenzen stehen. Nur in
diesem Sinne können auch die anderen Autoren 24 verstanden werden.
Im Verlauf der Untersuchung sind demzufolge sämtliche
Kompetenzzuweisungen an die Kommission in diesem Sinne
auszulegen.
Hier geht es zunächst um Art. 155 III l.HS als Ausgangspunkt für die Ableitung von implied powers.
Grundsätzliche Voraussetzung für eine solche wäre, daß es sich
bei Art. 155 III l.HS um eine ausdrückliche Kompetenznorm
handelt.25 Dies ist zu verneinen. Die Vorschrift stellt für
sich genommen keine generelle Zuständigkeitszuweisung dar. Wie oben bereits gezeigt, kann sie erst im Zusammenhang mit einer
speziellen, expliziten Zuweisung im Vertrag als ausdrückliche
Kompetenznorm begriffen werden. Wie ebenfalls bereits
festgestellt, bestehen diese für die zu untersuchenden
Konfliktfälle nicht. "Unselbständige Hilfszuständigkeiten",
21. Bleckmann, S.I62 22. Hummer, S.201
23. Sasse in: Sandalow/Stein, S.94 24. s.Fn 18
25. Nicolaysen in: EuR 66,132
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
als die Pechstein26 implied powers beschreibt, bestehen daher im Rahmen von Art. 155 III l.HS nicht.
Hummer27 und Schmitt-v.Sydov^8 können daher nur so verstanden
werden, daß sich eigenständige Kompetenzen im Sinne von Art.
155 III l.HS auch aus implied powers, jedoch nur im
Zusammenhang mit einer weiteren Norm ergeben können.29 Diese
könnte in Art. 155 I gesehen werden, auf den später
zurückzukommen sein wird.
b) resultinq powers
Für die sogenannten resulting powers hat weitestgehend das
oben Genannte zu gelten. Folgende Merkmale sollen jedoch
hervorgehoben werden:
Während implied powers als "Zuständigkeit kraft
Sachzusammenhangs" begriffen werden, versteht man unter
resulting powers "Zuständigkeiten aus der Natur der Sache".30
Ebenso wie implied powers setzen sie eine konkrete
Kompetenznorm voraus und greifen deshalb nicht im Rahmen von
Art. 155 III l.HS. Resulting powers sind im übrigen nur da
zu bejahen, wo eine Aufgabe aus der Natur der Sache heraus nur
26. Pechstein, S.116 27. Fn 13, S. 16
28. Fn 12, S.16
29. Schwarze geht demgegenüber generell davon aus, daß implied
powers nur als Abgrenzungsregel zwischen den Gemeinschaften
und den Mitgliedstaaten geschaffen wurden (in: EuR
82,133,143). Danach wären für den vorliegenden Fall implied powers sowieso nicht einschlägig.
30. Nicolaysen, S.131 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
31
von einem bestimmten Organ wahrgenommen werden können.
Eine Kompetenz aus der Natur der Sache (ausgehend von welcher
Norm auch immer) für die Kommission ergibt sich für die
Fälle des untätigen Rates schon deshalb nicht, weil die
ursprüngliche Zuständigkeit beim Rat gelegen hat. Diese
Zuweisung war eine bewußte und zielgerichtete. Gerade die
Natur der zu regelnden Materie hat die vertragsschließenden Parteien zu einer Übertragung der Befugnisse auf den Rat veranlaßt.32 Für eine Verschiebung der Zuständigkeiten auf der Grundlage von resulting powers ist daher hier kein Raum. Nicht
nur im Bereich von Art.155 III l.HS, sondern insgesamt können
daher bei dieser Analyse resulting powers im Gegensatz zu
implied powers außer Betracht bleiben.
2. Art.155 IV / 145 III- eigenständige Befugnisse kraft
Übertragung
2.1 Vorbemerkung
Gemäß Art.155 IV übt die Kommission eigenständige Befugnisse
auch dort aus, wo ihr der Rat diese zur Durchführung der von
ihm erlassenen Regelungen überträgt. Diese ursprünglich
ausschließlich in Art.155 IV geregelte Kompetenz ist
zwischenzeitlich durch Art.10 der Einheitliche Europäischen
31. Nicolaysen in: EuR 66,131; anders Pechstein, S.116, der
resulting powers von implied powers dadurch abgrenzt, daß die
ersteren im Wege einer Gesamt- oder Rechtsanalogie
geschlossen würden. Dies würde resulting powers generell für den EWG-Vertrag ausschließen, weil die analoge Anwendung von
Kompetenzbestimmungen im Rahmen der Gemeinschaftsverfassung
nicht zulässig ist (s.Schwartz in: v.d. Groeben, Art. 235, Rz 26). Diesen Schluß zieht Pechstein jedoch nicht.
32. s. Kapitel 1, S.l und 2 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Akte modifiziert worden, der Art.145 um einen dritten Absatz ergänzt.
Es gilt zu untersuchen, inwieweit sich aus Art.155 IV i.V.m.
Art.145 III Rechtsetzungsbefugnisse der Kommission für den
untätigen Rat ergeben.
Lösungsansätze im Bereich dieser Vorschriften können sich
was vorweg festzuhalten ist - nur für die Fälle ergeben, in
denen der Rat bereits eine Grundentscheidung getroffen hat
(wie dies im Agrarsektor, z.B. durch die Festlegung einer
gemeinsamen Marktordnung in den verschiedensten Bereichen,
3 3
geschehen ist) , auf Grund derer die ausstehenden
Entscheidungen zu treffen sind.
Ein Tätigwerden der Kommission unmittelbar auf der Grundlage
des EWG-Vertrages , wie es bei der Entwicklung einer
gemeinsamen Verkehrspolitik der Fall wäre (s. Bsp. 1.Kapitel,
III 2.5, S.ll), kann über Art. 155 IV keinesfalls
gerechtfertigt werden.
Auf der anderen Seite sind u.U. nicht alle Ratsentscheidungen, die auf der Grundlage einer vorausgegangenen allgemeinen
Entscheidung ergehen, als Durchführungsbefugnisse zu
bezeichnen, was im Verlauf zu klären sein wird.
33. Vgl. z.B. EWG-VerOrdnung des Rates Nr. 804/68 über die ge meinsame Marktorganisation für Milcherzeugnisse Abi. 1968 L 148/13; Verordnung des Rates Nr.516/77 über die gemeinsame
Marktorganisation für Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und
Gemüse Abi. 1977 L 73/1; Verordnung des Rates Nr. 2327/75
über die gemeinsame Marktorganisation für Getreide Abi. 1975 L 281/1; Verordnug des Rates Nr. 2142/70 über die gemeinsame Marktorganisation für Fischereierzeugnisse Abi. 1970 L 236/5
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
2.2 Bisherige Rechtslage - Art. 155 IV
Art. 155 IV würde als Rechtsgrundlage für die Kommission schon dann ausscheiden, wenn unter diese Norm nach Rechtsform und Umfang nur Verwaltungsaufgaben zu subsumieren wären.
Grundsätzlich sind die angesprochenen Kompetenzen nur aus- und
durchführender Natur, d. h. umfassen schwerpunktmäßig
verwaltende und überwachende Aufgaben.34 Art. 155 IV enthält
jedoch nicht nur Exekutivbefugnisse, sondern anerkannterweise
auch Rechtsetzungsbefugnisse, soweit diese zur Durchführung
von Gemeinschaftsrecht erforderlich sind.35 Die Kommissions
kompetenzen beinhalten im Rahmen von Art. 155 IV die
Möglichkeit, nicht nur individuell-konkrete, sondern auch
generell-abstrakte Maßnahmen wie Verordnungen zu erlassen.36
Art. 155 IV enthält bzgl. der Rechtsnatur der Befugnisse daher
auch spezielle Rechtsetzungskompetenzen für die Kommission,
wie sie Gegenstand dieser Untersuchung sind.37
Zu klären bleibt der Umfang der Delegationsbefugnisse, d.h. ob
Art. 155 IV die Übertragung aller denkbaren Befugnisse
ermöglicht, die eine allgemeine Entscheidung des Rates
umsetzen.
34. Wohlfahrt, Art. 155, Anm.7; Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 46
35. Smit, Art. 155,19; Wohlfahrt, Art. 155, Anm. 7; im Ergebnis zustimmend Schindler, S. 103, 104
36. Hummer in: Grabitz Art. 155 Rz 46; vgl. auch EuGH RS 41/69 Slg 1970 S. 661,691, wonach Art. 155 IV nicht nur zu Rechts akten unterhalb der Verordnungsebene ermächtigt.
37. S.a. Ehlermann in: EuR 81,335,360, der die Kompetenzen der
Kommission bei Untätigkeit des Rates als Durchführungsbefug nisse diskutiert und nicht unter dem Abschnitt "Hüterin der Verträge". © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Der Begriff "Durchführung" ist im Gemeinschaftsrecht nicht näher definiert.38 Man könnte daher die Auffassung vertreten,
daß Art. 155 IV nur weniger bedeutsame, verwaltende Aufgaben
erfasst, bei denen der nach der Übertragung zuständigen
Kommission kein Ermessensspielraum verbleibt.
Eine solche Interpretation läßt sich weder durch den Wortlaut des Gesetzestextes, noch aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift rechtfertigen. Ebenso wenig wie sich eine bestimmte Rechtsform
für die Befugnisse der Kommission aus Art. 155 IV entnehmen
läßt, ist eine Grenze bzgl. des politischen Gewichtes der
Entscheidung impliziert. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es
vielmehr, dem Rat Entlastungsmöglichkeiten zu bieten, und es
seinem Ermessen zu überlassen, welche Durchführungsbefugnisse
•
•
39er übertragen will.
Diese Auffassung wird auch von der Rechtsprechung des EuGH
bestätigt4 0 , der den Begriff "Durchführung" weit auslegt und
auch die Einräumung weiterer Ermessensspielräume für zulässig
erachtet.41
Es wäre daher möglich, daß die Kommission, gestützt auf Art.
155 IV, Ausfuhrerstattungen oder Währungsausgleichsbeträge
festlegt, auch wenn die entspr. Grundverordnungen42 große
Entscheidungsspiel räume einräumen.
Weitere Vorraussetzung eines Tätigwerdens der Kommission gemäß
Art. 155 IV ist, daß diese bestimmten Befugnisse der
Kommission vom Rat zugewiesen sind.
Rechtsnatur dieser Delegation, sowie die Herkunft der
38. Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 50
39. Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 50
40. RS 23/75, Slg 1975, S. 1279/1302 , (Rey Soda)
41. S.a. Smit, 155.21 b;; Hummer in: Grabitz, Art
42. S. Fn 33 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Befugnisse ist umstritten.43 Der Wortlaut des Vertrages gibt
keine Auskunft darüber, in welcher Weise außerordentliche
Zuständigkeiten begründet werden dürfen. Während die konkrete Einordnung der Delegationsanordnung unterschiedlich erfolgt44 ,
ist generell anerkannt, daß eine solche nur durch einen
Beschluß des Rates erfolgen kann.45
4 fi
Ebenso sind die vom EuGH in der RS 9/56 festgelegten
Mindestanforderungen unbestritten. Danach muß der Beschluß des
Rates eine Entscheidung enthalten, aus der die Übertragung
ausdrücklich hervorgeht.47 Darüberhinaus geht der EuGH davon
aus, daß die Übertragung gewissen Publizitätserfordernissen unterworfen ist.48
Der weitere Streit um die Rechtsnatur der Delegationsanordnung kann daher dahinstehen. Die bloße Untätigkeit des Rates allein
stellt in keinem Fall eine Willensäußerung der Form dar, daß
die ausstehenden Entscheidungen auf die Kommission übertragen werden. Die Tatsache, daß es dem Rat in den in Frage stehenden Fällen nicht gelungen ist, sich auf den Kommissionsvorschlag zu einigen, unterstreicht vielmehr die gegenteilige Absicht.
Aus Art. 155 IV lassen sich allein daher keine besonderen
Gesetzgebungskompetenzen für die behandelten Konfliktfälle
herleiten. Zu prüfen ist, ob die Änderung des Art. 145 durch
die Einheitliche Europäische Akte eine andere Beurteilung des
Sachverhalts erzwingt, insbesondere ob ein ausdrücklicher
Übertragungsakt u.U. entbehrlich sein kann.
43. S. hierzu Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 47 £f
44. S. dazu Schindler, S.. 111 ff m.w.N. 45. Schindler, S. 111 46. S l g . 1956, S .9 ff 47. S. Fn.41, 42, S.15 48. RS 18/62, Slg. 1962, S. 561,595 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
2.3 Rechtslage nach Inkrafttreten der EEA (Art. 145 III EWGV)
Mit Inkrafttreten der EEA am 1.7.1987 wurde Art. 145 um
folgenden 3. Absatz erweitert:49
"...überträgt der Rat der Kommission in den von ihm angenom
menen Rechtsakten die Befugnis zur Durchführung der
Vorschriften, die er erlässt. Der Rat kann bestimmte
Modalitäten für die Ausübung dieser Befugnisse festlegen.
Er kann sich in spezifischen Fällen außerdem Vorbehalten, Durchführungsbefugnisse selbst auszuüben. Die obengenannten Modalitäten müssen den Grundsätzen und Regeln entsprechen, die der Rat auf Vorschlag der Kommission nach Stellungnahme
des Europäischen Parlaments vorher einstimmig festgelegt
hat."
Damit wird die Regelung des Art. 155 IV modifiziert, wobei das Verhältnis beider Vorschriften zueinander unklar ist50 und als gesetzessystematisch unbefriedigend empfunden wird.51
Zum einen wird vertreten, daß die Grundstruktur von Art. 145 nicht beachtet worden sei und Art. 155 IV verdrängt werde52, zum anderen wird vor allem von Pescatore geltend gemacht, daß
die Neuregelung in Anbetracht von Art. 155 IV und dem
Erfordernis eines weiteren Ratsbeschlusses zur Festlegung der Grundsätze der Kompetenzübertragung überflüssig sei.53
Eine Auseinandersetzung mit dem neuen Art. 145 III könnte dahinstehen, wenn es sich, wie Pescatore feststellt54, mit der
49. Zur Entstehungsgechichte von Art. 10 EEA s. Ehlermann in: RMC 88,232
50. Sedemund/Montag in: NJW 87,546 51. Bruha/Münch, S. 543
52. Bruha/Münch ebenda
53. Pescatore, "Die Einheitliche Akte...", S.167 54. ebenda © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
Erweiterung um eine überflüssige Beschreibung bereits tatsächlich bestehender Kompetenzen handelte und sich an der urspr. Rechtslage, wie unter 2.2 beschrieben, nichts änderte.
Art. 145 III ändert für sich genommen an den allg.
Grundsätzen bzgl. des Verfahrens der Befugnisübertragung
zunächst nichts. Denn wie Pescatore richtig feststellt,
bleibt es vielmehr einem weiteren Beschluß des Rates
überlassen, die Modalitäten der Übertragung zu konkre
tisieren55 . Dies ist mit Beschluß des Rates v.13.7.1987 auch
geschehen56. Darin behält der Rat das bisherige
Ausschußsystem57 aufrecht. Es werden sieben verschiedene
Möglichkeiten konstruiert, die von einem rein beratenden
Ratsausschuß (Art. 2 Verf. I), über dessen Votum sich die
Kommission hinwegsetzen kann, bis zu einer Einschaltung eines
solchen Auschusses reichen, der die Maßnahme der Kommission
mit einfacher Mehrheit außer Kraft setzen kann (Art. 2
Verf.III Variante b).58
Was den Inhalt der Übertragung betrifft, so kann Pescatore in
seiner Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Zunächst ist
festzuhalten, daß mit Art. 145 III nunmehr eine ausdrückliche
Befugnis zur Übertragung begründet wird, die bisher aus Art.
55. Pescatore, Fn 53
56. Beschluß des Rates v. 13.7.1987 Abi. 87 L 197/33 57. S. Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 53ff
58. Sedemund/Montag NJW 88,601,602; der Vollständigkeit halber
sei darauf hingewiesen, daß zwischenzeitlich der EuGH die
Klage des Europäischen Parlamentes (Ambl. 87 C 321/4) gegen
diesen Beschluß als unzulässig verworfen hat. (Entsch. v.
27.9.1988 noch unveröffentlicht). S.a. Ehlermann in: RMC
88,232 ff © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
59
155 IV geschlossen wurde. Ferner muß das Argument Pescatores
entkräftet werden, nachdem Art. 145 III nicht einmal
Rechtsgrundlage des zufassenden allgemeinen Beschlußes des
Rates sei.60 Die entsprechende Maßnahme erging vielmehr nach
Inkrafttreten der EEA und ist ausdrücklich auf Art. 145 und
nicht, wie Pescatore behauptet, auf Art. 235 gestützt.
Für die vorliegende Problemstellung ist jedoch die Änderung
dahingehend wesentlich, daß bisher in Art. 155 IV lediglich
eine fakultative Möglichkeit der Befugnisübertragung bestand.
Art. 145 III spricht jedoch von "überträgt" im generellen
Sinne. D.h., mit Art. 145 III wird die Übertragung von Durch führungsbefugnissen zum Regelfall erklärt6 1 .
Diese neue Rechtslage dahingehend, daß der Rat generell
sämtliche Durchführungsbefugnisse auf den Rat zu übertragen
hat und sich nur in spezifischen Fällen die eigenen
Kompetenzen Vorbehalten kann62 , daß er die Nichtübertragung
begründen 63 und damit mehr als bisher rechtfertigen muß64 ,
könnte auch auf die Kommissionskompetenzen bei Untätigkeit des Rates Einfluß haben.
Man könnte die Ansicht vertreten, daß in den Konfliktfällen eine Übertragungspflicht des Rates bestanden hat, der der Rat
59. Dies scheint gesetzessystematisch entgegen Bruha/Münch
eher sinnvoll, da nun klar zwischen den Aufgaben des Rates (Art. 145) und denen der Kommission (Art. 155) unterschieden
wird. Auch wenn diese ausdrückliche Formulierung wegen der
weiten Auslegung von Art. 155 IV nicht notwendig war
(Schmitt-v.Sydow S.65 ff), so entspricht sie doch dem System des Vertrages, der zwischen dem Unterabschnitt 2 "Der Rat" und dem Unterabschnitt 3 "Der Kommission" trennt.
60. Pescatore, Fn 50
61. Bruha/Münch, S.543; Schweitzer in: Grabitz, Art. 145, Rz 22; s.a. Ehlermann in: RMC 88,223
62. Schweitzer in: Grabitz, Art. 145, Rz 22
63. Glaesner in: EuR 86,146
64. Bruha/Münch, S. 543 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
nicht nachgekommen ist. Die Kommission übe dann bei Untätigkeit des Rates ihr sowieso zustehende Kompetenzen aus. Dem ist jedoch nicht zu folgen.
Vielmehr verlangt auch Art. 145 III wie früher Art. 155 IV
einen ausdrücklichen Übertragungsakt, ohne den keine wirksamen
Kompetenzen für die Kommission begründet werden. Dies wird
insbesondere dadurch deutlich, daß Art. 145 III ausdrücklich
einen Konkretisierungsbeschluß des Rates vorsieht. Dieser
enthält wie oben beschrieben ein kompliziertes Ausschuß
verfahren .
Der Rat will sich ( und soll es wohl auch können ) in jedem
Einzelfall das Gewicht seines Einflusses auf die abschließende Entscheidung Vorbehalten.65
Dies mag dem eigentlichen Ziel des Art. 145 III nicht
förderlich sein, der die Kommissionskompetenzen stärken
wollte6 6 , entspricht jedoch dem Wortlaut des Art. 145 III.67 Kompetenzen der Kommission bei Untätigkeit des Rates gestützt
auf Art. 145 III sind, ohne eine weitere Willenserklärung des
Rates, nicht von dieser Vorschrift gedeckt.
Es muß dem Rat Vorbehalten bleiben, zu entscheiden, wann und
welche Durchführungsbefugnisse er übertragen will. Die
Kommission kann lediglich darauf verwiesen werden, für die
68
Nichtübertragung eine Begründung zu fordern
65. Ehlermann in: RMC 88,233
66. Sedemund/Montag in:NJW 88,602; s.a. Klage des Europäischen
Parlaments Abi. 87 C 321/4
67. Sedemund/Montag, Fn 65 68. Glaesner in: EuR 86,146
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
3. Art. 155 III 2. HS - Initiativ- und Vorschlaqsrecht
Gemäß Art. 155 III 2. HS hat die Kommission Mitwirkungskompe tenzen am Zustandekommen von Ratsentscheidungen.
Diese reichen von der Abgabe einer Empfehlung, eines Berichts oder einer Stellungnahme über die Anhörung der Kommission, bis zur Unterbreitung eines Vorschlags, der Grundlage der Ratsent scheidung ist.69
Fraglich ist, ob sich aus Art. 155 III 2. HS auch eigen
ständige Rechtsetzungskompetenzen ergeben können.
Das ist zu verneinen und wird schon beim Vorschlagsverfahren
deutlich, daß nicht nur die häufigste und bedeutendste Mitwir kungsform ist70, sondern zugleich auch gegenüber den anderen oben genannten Beteiligungsmöglichkeiten die meisten Einfluß möglichkeiten für die Kommission aufweist.
Beim Vorschlagsverfahren "beschließt der Rat auf Vorschlag der
Kommission". Es ist durch folgende Merkmale zu charkteri-
sieren:71
1. Vorschlag- bzw. Initiativmonopol der Kommission, 2. Begrenzte nachträgliche Änderungsbefugnis des Rates, 3. Endgültige Beschlußfassung durch denselben,
wobei die besondere Bedeutung auf der endgültigen Beschluß
fassung des Rates liegt.
Art. 155 III 2. HS ist Ausdruck einer eindeutigen Grundsatz
entscheidung des EWG-Vertrages. Mit ihm sollten keineswegs
eigene Entscheidungsbefugnisse für die Kommission begründet
69. Schmidt-v.Sydow in: v.d.Groeben, Art. 155, Rz 22
70. S. Aufstellung bei Schmitt-v. Sydow, S.47 ff mit den Ergän zungen durch die EEA, ders. in: v.d.Groeben, Art. 155, Rz 22
71. Hummer in: Grabitz, Art. 155, Rz 39
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
werden.72 Vielmehr sollte im Gegensatz zum EGKS-Vertrag die abschließende Entscheidungskompetenz beim Rat konzentriert und
jede Überbetonung der überstaatlichen Kommission vermieden
werden.73
Das System der Mitwirkungsbefugnisse nach Art. 155 III 2. HS gibt keine eigenen Entscheidungsbefugnisse für die Kommission.
Es ist eher ein Argument gegen eine extensive Auslegung von
Kommissionsbefugnissen.
4, Art. 155 I - Allgemeine Überwachungs- und Kontrollfunktion
4.1 Allgemeine Grundstruktur
Art. 155 I bestimmt, daß die Kommission "für die Anwendung des
Vertrages, sowie der von den Organen auf Grund des Vertrages
getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen" hat.
Schlagwortartig wird die Rolle der Kommission als "Hüterin des Vertrages" umschrieben.74
Sie ist "Sachwalter", "Protector" und "Defensor" der
Gemeinschaftsinteressen.75
Demgemäß hat sie sowohl die Anwendung des Vertrages und aller anderen Quellen des Primärrechts76 zu kontrollieren, als auch alle sonstigen Akte der Gemeinschaftsorgane zu überwachen.77
72. Gilsdorf, S.94, der ergänzend darauf hinweist, daß durch den systematischen Verzicht des Rates auf Mehrheitsentscheidungen
das Vorschlagsrecht entwertet wird. Die Vorschläge der
Kommission seien zu Entwürfen eines Sachverständigengremiums
"degradiert".
73. Schmitt-v. Sydow, S.45,46; s.a. Einleitung S.l ff
74. für alle s. Schmitt-v.Sydow in: v.d.Groeben, Art.155, Rz 4
75. Ipsen, 14/21, S.361
76. Hummer in: Grabitz, Art.155, Rz 5; Smit, 155.05
77. Bzgl. der Formen der Kontrolle sei auf Schmitt-v.Sydow in:
v.d.Groeben, Art. 155, Rz 7ff verwiesen.
© The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.
4.2 Ausdrückliche Rechtsetzunqskompetenzen in Art. 155 I
Soweit es um die Anwendung und Durchführung des Vertrages,
sowie der vom Rat erlassenen Maßnahmen geht78, kann zunächst
eine aus Art. 155 I abgeleitete, allgemeine
Rechtsetzungs-• 79
kompetenz nicht ausgeschlossen werden.
Dies hat insofern besonderes Gewicht, als die Kompetenzen
innerhalb von Art. 155 I nicht durch die sonst für Kompetenz
zuweisungen übliche Bedingung, "nach Maßgabe des Vertrages", (s. Art. 155 III, 189, 145) eingeschränkt werden.80
Es wurde daher die Ansicht vertreten, daß Art. 155 I der
Kommission ausdrückliche Kompetenzen zum Erlaß von
Ausführungsverordnungen einräumt.81 Solche wären auch für das vorliegend zu lösende Problem relevant.
So sieht Lamoureux in Art. 155 I eine (ausdrückliche) Rechts
grundlage für ein Handeln der Kommission anstelle des
untätigen Rates.
4.2.1 Art. 155 i als Rechtsetzungsermächtiqunq
Eine Auslegung von Art. 155 I als Ermächtigungsnorm zum Erlaß
von Durchführungsverordnungen wurde Ende der fünfziger und
Anfang der sechziger Jahre in der deutschsprachigen Literatur im wesentlichen auf eine rechtsvergleichende Analyse gestützt. Kraushaar machte geltend, daß im französischen und belgischen
Verfassungsrecht aus Formulierungen, die mit Art. 155 I
78. Kompetenzen aus der Rolle der Kommission als Hüterin des Ver trages werden im Rahmen von implied-powers im nachfolgenden Abschnitt untersucht. 79. Rabe, S.102 80. Rabe, S.102 81. Kraushaar, S.726,730; Bärmann, S. 553,556; 82. Lamoureux in: RMC 84,222 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.