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„MIT EWIGER LIEBE HABE ICH DICH GELIEBT, DENN ICH HATTE ERBARMEN MIT DEINER NICHTIGKEIT“

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RIMINI 2016

„MIT EWIGER LIEBE HABE ICH DICH GELIEBT, DENN ICH HATTE ERBARMEN

MIT DEINER NICHTIGKEIT“

EXERZITIEN DER FRATERNITÄT VON COMUNIONE E LIBERAZIONE

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„MIT EWIGER LIEBE HABE ICH DICH GELIEBT, DENN ICH HATTE ERBARMEN

MIT DEINER NICHTIGKEIT“

ExErzitiEndEr FratErnität von ComunionEE LibErazionE

RIMINI 2016

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Übersetzung: Christoph Scholz, Sebastian Hügel, Anna Anghileri

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„Anlässlich der jährlichen Exerzitien für die Angehörigen der Frater- nität von Comunione e Liberazione in Rimini unter dem Titel: ‚Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, denn ich hatte Erbarmen mit deiner Nichtigkeit‘

(vgl. Jer 31,3) grüßt Seine Heiligkeit Papst Franziskus alle Teilnehmer von Herzen und wünscht ihnen alles Gute. Er erinnert daran, dass das Jubiläum der Barmherzigkeit eine günstige Gelegenheit darstellt, die Schönheit eines Glaubens wiederzuentdecken, in dessen Mittelpunkt die barmherzige Liebe des Vaters steht, die im Antlitz Christi sichtbar geworden ist, gestützt vom Heiligen Geist, der die Schritte der Gläubigen in den Wechselfällen der Ge- schichte lenkt.

Die Barmherzigkeit ist der Weg, der Gott und Mensch zusammenführt.

Denn sie öffnet unser Herz für die Hoffnung, dass wir für immer geliebt sind, trotz der Begrenzung durch unsere Sünden. Der Heilige Vater wünscht allen, die dem Charisma von Monsignore Luigi Giussani folgen, dass sie Zeugnis für die Barmherzigkeit ablegen, indem sie sie bekennen und durch ihr Leben verkünden, sie in ihrem Leben Fleisch werden lassen durch leibliche und geist- liche Werke der Barmherzigkeit. Sie mögen Zeichen der Nähe und Zärtlich- keit Gottes sein, auf dass die heutige Gesellschaft wiederentdecke, wie sehr sie der Solidarität, der Liebe und der Vergebung bedarf.

Verbunden mit der Bitte, ihn durch das Gebet in seinem Petrusamt zu un- terstützen, erfleht der Heilige Vater Ihnen und allen Teilnehmern, auch den per Satellit zugeschalteten, sowie der ganzen Fraternität, den Schutz der Jungfrau Maria und erteilt ihnen von Herzen den erbetenen Apostolischen Segen.“

Kardinal Pietro Parolin, Staatssekretär Seiner Heiligkeit, 29. April 2016

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Freitag, 29. April, abends

Beim Betreten und Verlassen des Saales:

Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem in d-moll, KV 626 Herbert von Karajan - Wiener Philharmoniker

„Spirto Gentil“ Nr. 5, Deutsche Grammophon

n EINFÜHRUNG Julián Carrón

Kein Akt, den wir bewusst vollziehen, ist wahrhaftig, wenn wir dabei nicht von dem Bewusstsein ausgehen, dass wir Sünder sind. „Wir sind hier, weil wir vor allem diese eine Wahrheit anerkennen: dass wir Sünder sind. Wenn ihr euch für frei von Fehlern haltet, dann hättet ihr nicht herzukommen brauchen. Es wäre unnütz“, sagte Don Giussani. Denn „das Bewusstsein, ein Sünder zu sein, ist eine Grundwahrheit für den Menschen, der in seinem Leben und in der Ge- schichte handelt.“1 Sünder zu sein heißt bedürftig zu sein. Von dieser Bedürftig- keit nimmt jener Schrei seinen Ausgang, jene Bitte, die wir soeben im Requiem von Mozart gehört haben: „Salva me, fons pietatis“2. Wie auch der Zöllner hinten im Tempel stehen blieb und betete: „Gott, sei mir Sünder gnädig“.3

Bitten wir den Heiligen Geist, dass er uns das Bewusstsein schenkt, wie sehr wir seiner Barmherzigkeit bedürfen.

Discendi Santo Spirito

Beginnen wir diese gemeinsamen Tage mit der Lektüre des Telegramms, das Papst Franziskus uns gesandt hat:

„Anlässlich der jährlichen Exerzitien für die Angehörigen der Fraternität von Comunione e Liberazione in Rimini unter dem Titel: ‚Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, denn ich hatte Erbarmen mit deiner Nichtigkeit‘ (vgl. Jer 31,3) grüßt Seine Heiligkeit Papst Franziskus alle Teilnehmer von Herzen und wünscht ihnen alles Gute. Er erinnert daran, dass das Jubiläum der Barmher- zigkeit eine günstige Gelegenheit darstellt, die Schönheit eines Glaubens wieder-

1 „Questa cara gioia sopra la quale ogni virtù si fonda“, Exerzitien der Fraternität von Comu- nione e Liberazione, Mitschrift der Vorträge [von Luigi Giussani], Rimini 1993, Beilage zu Litterae communionis-CL, Nr. 6, 1993, S. 5.

2 W.A. Mozart, Requiem in d-moll, KV 626, III. Sequenz, Nr. 3 „Rex Tremendae“, CD „Spir- to Gentil“ Nr. 5.

3 Lk 18,13.

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zuentdecken, in dessen Mittelpunkt die barmherzige Liebe des Vaters steht, die im Antlitz Christi sichtbar geworden ist, gestützt vom Heiligen Geist, der die Schritte der Gläubigen in den Wechselfällen der Geschichte lenkt. Die Barmher- zigkeit ist der Weg, der Gott und Mensch zusammenführt. Denn sie öffnet unser Herz für die Hoffnung, dass wir für immer geliebt sind, trotz der Begrenzung durch unsere Sünden. Der Heilige Vater wünscht allen, die dem Charisma von Monsignore Luigi Giussani folgen, dass sie Zeugnis für die Barmherzigkeit able- gen, indem sie sie bekennen und durch ihr Leben verkünden, sie in ihrem Leben Fleisch werden lassen durch leibliche und geistliche Werke der Barmherzigkeit.

Sie mögen Zeichen der Nähe und Zärtlichkeit Gottes sein, auf dass die heuti- ge Gesellschaft wiederentdecke, wie sehr sie der Solidarität, der Liebe und der Vergebung bedarf. Verbunden mit der Bitte, ihn durch das Gebet in seinem Pe- trusamt zu unterstützen, erfleht der Heilige Vater Ihnen und allen Teilnehmern, auch den per Satellit zugeschalteten, sowie der ganzen Fraternität, den Schutz der Jungfrau Maria und erteilt ihnen von Herzen den erbetenen Apostolischen Segen. Kardinal Pietro Parolin, Staatssekretär Seiner Heiligkeit“.

„Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte, dass es der Herr sei, gürtete er sich das Obergewand um, weil er nackt war, und sprang in den See.“ Als sie dann mit ihm zusammensaßen, wagte

„keiner von den Jüngern [...] ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war.“4

„Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lob- preis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr. Und sie sagten zueinander:

Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“5

Die Berichte über die Erscheinungen des auferstandenen Herrn verzeich- nen durchgängig das Staunen der Jünger darüber, Ihn lebendig vor sich zu sehen. Das, was dominiert, ist Seine lebendige Gegenwart, die ihr Sein und Handeln bestimmt.

Es ist bewegend zu sehen, wie Jesus auf ihre Bedürfnisse und ihre Fas- sungslosigkeit über Sein Leiden und Seinen Tod eingeht: Er antwortet auf die Angst der Jünger, auf ihre Tränen und ihre Einsamkeit, auf ihre Zweifel und ihre Sehnsucht nach Ihm mit Seiner Gegenwart. Was ist der Ursprung ihrer Not? Wieso verspüren sie ein so drängendes Bedürfnis – nach all dem, was sie in den Jahren zuvor gesehen und erlebt haben? Weil ihre ganze Geschichte mit

4 Joh 21,7.12.

5 Lk 24,30-32.

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Jesus, die drei Jahre, die sie mit ihm verbracht haben, alles, was sie gesehen und gehört haben, nicht ausreicht als Antwort auf das Bedürfnis, das sie in diesem Augenblick verspüren.

Die Erinnerung an etwas Vergangenes, egal wie faszinierend es auch war, reicht nicht aus, um den gegenwärtigen Moment anzugehen. Nicht von ungefähr sagten die Emmausjünger zueinander: „Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist.“6 Alle Zeichen, die Er gewirkt und die sie gesehen hatten, ihr Beisammensein, das gemeinsame Essen und Trinken mit Ihm, all das konnte ihre Verwirrung, ihre Angst und ihre Einsamkeit nicht besiegen. Die Tränen der Ma- ria von Magdala dokumentieren dies für immer. Nur Seine lebendige Gegenwart stellt eine Antwort dar, die ihrem Bedürfnis entspricht. Und so offenbart sich den Jüngern in dieser Erfahrung die eigentliche Natur des Christentums: Das Christentum ist keine Doktrin, keine Ethik, kein Gefühl, sondern das Faktum einer gegenwärtigen Gegenwart, die den Blick desjenigen beherrscht, der auf sie trifft. Eine Gegenwart, die allein darauf bedacht ist, sich zu zeigen und das Le- ben ihrer Freunde so in Beschlag zu nehmen, dass sie schließlich ein Leben ohne Angst und Traurigkeit erleben können, auch wenn Er nicht mehr in derselben Weise bei Ihnen ist, wie Er es vor Seinem Sterben war.

Es ist diese lebendige Gegenwart, was sie gemein haben. Sie bildet das ein- zige und wahre Fundament ihrer Gemeinschaft. Und genau diese Erfahrung macht ihnen auch bewusster, wie verschieden sie voneinander sind.

1. Der Stil Gottes

Die Art, wie Gott hier handelt, wie Er sich ihnen nach der Auferstehung offen- bart, das, was sie von allen anderen Menschen unterscheidet, macht die Frage, die Judas Thaddäus beim letzten Abendmahl gestellt hatte, um so dringlicher:

„Herr, warum willst du dich nur uns offenbaren und nicht der Welt?“7 Benedikt XVI. greift diese Frage in seinem Jesus-Buch auf und fügt noch hinzu: „Warum bist du nicht machtvoll deinen Feinden gegenübergetreten, die dich ans Kreuz gebracht haben? […] Warum hast du ihnen nicht mit unwiderlegbarer Kraft ge- zeigt, dass du der Lebendige bist, der Herr über Leben und Tod? Warum zeig- test du dich nur einer kleinen Schar von Jüngern, deren Zeugnis wir uns nun anvertrauen müssen? […] Warum nur Abraham – warum nicht den Mächtigen der Welt? Warum nur Israel und nicht unbestreitbar allen Völkern der Erde?“8

6 Lk 24,21.

7 Joh 14,22.

8 J. Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Herder, Freiburg im Breisgau 2011, S. 301.

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Benedikts Antwort darauf lautet: „Es ist das Geheimnis Gottes, dass er leise handelt. Dass er nur allmählich in der großen Geschichte der Menschheit seine Geschichte aufbaut. Dass er Mensch wird und dabei von den Zeitgenos- sen, von den maßgebenden Kräften der Geschichte übersehen werden kann.

Dass er leidet und stirbt und als Auferstandener nur über den Glauben der Seinigen, denen er sich zeigt, zur Menschheit kommen will. Dass er immerfort leise an die Türen unserer Herzen klopft und uns langsam sehend macht, wenn wir ihm auftun.“9 Und dann verstehen wir auch.

An diesem Punkt führt Benedikt XVI. eine Beobachtung an: „Ist nicht gera- de dies die göttliche Art? Nicht überwältigen mit äußerer Macht, sondern Frei- heit geben, Liebe schenken und erwecken. Und ist das scheinbar so Kleine, wenn wir es gut bedenken, nicht das wahrhaft Große? Geht nicht von Jesus eine durch die Jahrhunderte wachsende Lichtspur aus, die von keinem bloßen Menschen kommen konnte und in der wirklich das Licht Gottes in die Welt hereinleuchtet?

Hätte die Predigt der Apostel Glauben finden und eine weltweite Gemeinschaft aufbauen können, wenn nicht die Kraft der Wahrheit in ihr gewirkt hätte? Wenn wir den Zeugen wachen Herzens zuhören und uns den Zeichen öffnen, mit de- nen der Herr sie und sich selbst immer neu beglaubigt, dann wissen wir es: Er ist wahrhaft auferstanden. Er ist der Lebende. Ihm vertrauen wir uns an und wissen, dass wir auf dem rechten Weg sind. Mit Thomas legen wir unsere Hände in die durchbohrte Seite Jesu und bekennen: ‚Mein Herr und mein Gott!‘ (Joh 20,28).“10 Das ist wahrhaft umwälzend, damals wie heute!

Der Ausgangspunkt der Jünger war dieses unauslöschliche Faktum. Ihr Bewusstsein war von der Erscheinung Christi geprägt, von der lebendigen Be- gegnung mit Ihm als dem Lebenden. Und genau dieser Sachverhalt rief in ihnen die Frage hervor: „Warum hast du gerade uns erwählt?“ Diese Frage öff- nete sie für das Bewusstsein der Methode Gottes, Seiner Art zu handeln, Sei- nes demütigen Stils: dass Er einige auswählt (Erwählung, Bevorzugung), um damit zu allen zu gelangen. Es ist nicht der Stil Gottes, mit Macht und Gewalt einzugreifen, sondern Er fordert die Freiheit heraus – ohne irgendetwas aufzu- zwingen. Charles Péguy formuliert das wunderbar: „Für diese Freiheit, diese Freiwilligkeit habe ich alles geopfert, spricht Gott, / Für diese Freude daran, von freien Menschen geliebt zu werden, / Aus freien Stücken, / Freiwillig“.11

Diese Methode Gottes bzw. sich dieser Methode Gottes bewusst zu sein, ist im gegenwärtigen Augenblick ganz besonders wichtig. Denn wir erleben heute, wie es Papst Franziskus ausdrückt, „nicht so sehr eine Zeit des Wandels [...],

9 Ebd., S. 301 f.

10 Ebd., S. 302.

11 Ch. Péguy, Das Geheimnis der unschuldigen Kinder, Johannes Verlag, Einsiedeln, Freiburg i.

Br. 2014, S. 88.

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sondern vielmehr einen Zeitenwandel“12. Wir sind in den letzten Jahren häufig auf das Thema des Wandels zu sprechen gekommen. Die neue Lage, die vom Schwinden vieler alter Sicherheiten geprägt ist, ruft auch in uns wie in den Jün- gern Verwirrung und Angst hervor und Zweifel, wie wir uns ihr stellen sollen.

In einem aufsehenerregenden Interview hat Benedikt XVI. kürzlich auf- gezeigt, was der Dreh- und Angelpunkt dieses Zeitenwandels ist: „Für den Menschen von heute haben sich die Dinge gegenüber der Zeit Luthers und ge- genüber der klassischen Perspektive des christlichen Glaubens [bei der die Sor- ge um das ewige Heil im Vordergrund stand] in gewisser Hinsicht umgekehrt:

Nicht mehr der Mensch glaubt der Rechtfertigung vor Gott zu bedürfen. Er ist der Meinung, dass Gott sich rechtfertigen müsse angesichts alles Schrecklichen in der Welt und angesichts aller Mühsal des Menschseins, das letztlich doch alles auf sein Konto geht.“13

Es handelt sich um eine regelrechte Umkehr der Beweislast. Nun ist Gott an der Reihe, sich irgendwie zu rechtfertigen, nicht mehr der Mensch. In die- ser Situation befinden wir uns, das ist die „Grundtendenz unserer Zeit“14. In gewisser Weise soll sich Gott vor dem Menschen rechtfertigen und nicht umge- kehrt. Gott soll paradoxerweise beweisen, um es positiv zu sagen, dass Er dem Menschen, seiner Bitte, seinem Schrei entspricht. „Die Dinge haben sich in gewisser Weise umgekehrt“, die Beweislast wurde umgekehrt. Sie liegt jetzt bei Gott. Er soll beweisen, dass Er für den Menschen wichtig ist, dass der Mensch Ihn braucht, um leben zu können.

Es beeindruckend, wie Don Giussani bereits die Anzeichen und auch die Trag- weite dieses Zeitenwandels erfasst und seine Methode diesen Umwälzungen an- gepasst hat. Es ist, als müsse sich Gott, der menschgewordene Gott, und Seine geschichtliche Präsenz, die Kirche, vor den Menschen rechtfertigen oder – um es mit vertrauteren Worten zu sagen – „als müsse Gott bzw. die Kirche vor einem Tri- bunal erscheinen, bei dem du – auf deine Erfahrung gestützt – der Richter bist.“15 Genau das kennzeichnete den Anfang unserer Bewegung. Anders als viele andere hat Don Giussani bereits in den 1950er Jahren gemerkt, dass das Chris- tentum für die jungen Leute, mit denen er in Mailand und im Unterricht zu tun hatte, keine Bedeutung mehr hatte, obwohl sie alle noch einen traditionell katholischen Background hatten. Ihm war klar, dass sich der menschgeworde-

12 Franziskus, Begegnung mit den Vertretern des 5. nationalen Kongresses der Kirche in Italien, Florenz, 10. November 2015.

13 Interview mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI. über die Frage: „Was ist der Glaube und wie kommt man zum Glauben?“, Radio Vatikan, 19.3.2016, unter: http://de.radiovaticana.va/

news/2016/03/19/im_wortlaut_interview_mit_benedikt_xvi/1216537 (Stand: 26.5.2016).

14 Ebd.

15 L. Giussani, L’io rinasce in un incontro (1986-1987), Bur, Mailand 2010, S. 300.

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ne Gott, Christus, erneut würde „rechtfertigen“ müssen vor den jungen Men- schen, die nichts mehr von Gott wissen wollten, ja glaubten, sich seiner endlich entledigen zu können. Deswegen musste das Christentum wieder so verkündet werden, wie es seiner Natur entsprach: als Ereignis, das das Leben hier und heute ergreift und verwandelt.

Ohne irgendetwas äußerlich aufzwingen zu wollen, unterstellte sich Don Giussani vom ersten Tag seines Unterrichts am Gymnasium an dem Urteil seiner Schüler und verließ sich darauf, dass sie in der Lage wären, seinen Vor- schlag zu bewerten. „Ich bin nicht hier, damit ihr das, was ich euch sage, über- nehmt, sondern um euch eine wahre Methode beizubringen, mit der ihr das, was ich euch sage, beurteilen könnt.“16

Maßgeblich für diese Methode ist die Verkündigung des Christentums als Er- eignis, das uns auffordert, es in unserer eigenen Erfahrung zu verifizieren. Von Anfang an macht Don Giussani seinen jugendlichen Gesprächspartnern klar (wie das erste Kapitel von Der religiöse Sinn zeigt), dass sie das Urteilskriterium zur Bewertung des Vorschlags, den er ihnen machen wird, in sich tragen: ihr Herz.

Im dritten Band seines PerCorso (Warum die Kirche?) bekräftigt er noch einmal, dass die Kirche, die Christus heute den Menschen vorschlägt, sich diesem Urteilskriterium unterwerfen muss und „sich dem Urteil der authen- tischen menschlichen Erfahrung ausliefern. Sie unterstellt ihre Botschaft den ursprünglichen Kriterien unseres Herzens. Sie stellt keine Bedingungen, die mechanisch erfüllt werden müssten, sondern sie vertraut sich dem Urteil unse- rer Erfahrung an, ja sie ruft diese sogar dazu auf, den Weg ihrer Verifizierung bis zum Ende zu gehen. […] Das Kriterium der Verifizierung durch die Er- fahrung, dem sich die Kirche unterwerfen will, ist nicht nur das der Urerfah- rung, so wenig wie möglich verfälscht durch vermeintliche Bedürfnisse, wie sie das gesellschaftliche Umfeld suggeriert. Die Kirche wiederholt auch mit Je- sus, dass sie als glaubhaft erkannt werden kann durch einen Vergleich mit den Grundbedürfnissen des Menschen in ihrer authentischsten Form. Genau das meint Jesus nämlich, wenn er seinen Jüngern ‚das Hundertfache‘ auf Erden verheißt.“ Und Don Giussani fährt fort: „Auch die Kirche verspricht also dem Menschen: Mit mir wirst du eine Fülle des Lebens erfahren, die du nirgendwo sonst finden wirst. Gerade an dieser Verheißung will sich die Kirche messen lassen, wenn sie sich allen Menschen als ‚Fortdauer‘ Christi anbietet.“17

Wodurch aber rechtfertigt sich Gott im Angesicht des Menschen? Wodurch rechtfertigt Er sich vor uns? Die Rechtfertigung heißt „Entsprechung“, eine sonst unmögliche Entsprechung zu den tiefen und unausrottbaren Bedürfnis-

16 L. Giussani, Das Wagnis der Erziehung, EOS Verlag Sankt Ottilien 2015, S. 18 f.

17 L. Giussani, Warum die Kirche, EOS Verlag Sankt Ottilien 2013, S. 279 f.

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sen des menschlichen Herzens, des Herzens jedes Menschen, des realen Men- schen, zu den Bedürfnissen, aufgrund derer der Mensch – ob er will oder nicht –, jedes Mal wenn er ein Ziel erreicht hat, von einer unheilbaren Unruhe er- fasst wird. Gott rechtfertigt sich vor dem Menschen durch das „Bessere“. Er rechtfertigt sich dadurch, dass Er das Leben aufblühen lässt, durch die Fülle an Menschlichkeit, die Er in unsere Existenz bringt, eine Fülle, die der Mensch aus eigenen Kräften nie erreichen kann.

Die Kirche trickst nicht – darauf beharrt Don Giussani –, denn „alles, was sie sagt und tut, unterstellt sie vorbehaltlos einer Überprüfung durch je- dermann. Ihre Formel lautet: ‚Überprüfe es, überprüfe es!‘ Sie liefert ihren Vorschlag voll und ganz dem Inhalt deiner Erfahrung aus.“ Und er fügt hinzu:

„Noch mehr Offenheit geht nicht!“ [...] Dass die Kirche nicht trickst, heißt, dass sie dir nichts auferlegt, was du übernehmen müsstest, auch wenn du nicht überzeugt wärest.“18

2. Die „Zeichen der Zeit“

Wie kann sich die Kirche nun rechtfertigen vor uns und den Menschen? Es ist wichtig, die Frage genau zu formulieren, wie uns Don Giussani oft mit einem Zitat von Niebuhr in Erinnerung gerufen hat: „Nichts ist so unglaubwürdig wie die Antwort auf eine Frage, die sich nicht stellt“.19 Es kommt darauf an, genau zu fassen, was das Problem unserer Zeit ist, damit jeder von uns die Antwort als glaubwürdig wahrnehmen kann.

Was ist die Frage, die der Mensch sich heute stellt? In dem bereits erwähn- ten Interview formuliert Benedikt XVI. es so: „Das Wissen [...], dass wir der Gnade und der Vergebung bedürfen“.20 Folglich kann sich die Kirche vor dem Menschen von heute rechtfertigen, wenn sie auf sein Bedürfnis nach Gnade und Vergebung antwortet.

Aus diesem Grund kann Benedikt XVI. feststellen: „Es ist für mich ein ‚Zei- chen der Zeit‘, dass die Idee der Barmherzigkeit Gottes immer beherrschender in den Mittelpunkt rückt [...]. Papst Johannes Paul II. war von diesem Impuls zutiefst erfüllt, auch wenn er nicht immer ganz offen zutage liegt. Aber es ist doch wohl kein Zufall, dass sein letztes Buch, das unmittelbar vor seinem Tod erschien, von der Barmherzigkeit Gottes handelt. Aus seiner Lebenserfahrung heraus, die ihn in früher Stunde mit aller Grausamkeit des Menschen kon- frontiert hatte, sagt er, dass die Barmherzigkeit die einzig wirkliche und letzte

18 L. Giussani, Una presenza che cambia, Bur, Mailand 2004, S. 294.

19 Vgl. R. Niebuhr, Il destino e la storia, Bur, Mailand 1999, S. 66.

20 Interview mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI. über die Frage: „Was ist der Glaube und wie kommt man zum Glauben?“, a.a.O.

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Gegenkraft gegen die Macht des Bösen sei. Erst da, wo Barmherzigkeit ist, endet die Grausamkeit, endet das Böse, endet die Gewalt.“21 Johannes Paul II. hat nichts anderes getan, als die Barmherzigkeit als einzig wahre Antwort auf das Böse und die Gewalt vorzuschlagen. „Papst Franziskus steht ganz in dieser Linie. Seine pastorale Erfahrung drückt sich gerade darin aus, dass er uns immerfort von Gottes Barmherzigkeit spricht. Es ist die Barmherzigkeit, die uns zu Gott hinzieht, während die Gerechtigkeit uns vor ihm erschrecken lässt. Dies zeigt nach meinem Dafürhalten, dass unter der Oberfläche der Selbstsicherheit und der Selbstgerechtigkeit des heutigen Menschen sich doch ein tiefes Wissen um seine Verwundung, um seine Unwürdigkeit Gott gegen- über verbirgt. Er wartet auf Barmherzigkeit. Es ist gewiss kein Zufall, dass das Gleichnis vom barmherzigen Samariter die Menschen von heute besonders anspricht – nicht nur weil dort die soziale Seite des Christseins stark betont ist und nicht nur weil dort der Samariter, der nicht religiöse Mensch, gegenüber den Religionsdienern sozusagen als der wirklich gottgemäß handelnde Mensch erscheint, während die amtlichen Diener der Religion sich gleichsam gegen Gott immunisiert haben. Beides ist natürlich dem modernen Menschen sym- pathisch. Aber ebenso wichtig scheint mir, dass im Stillen doch die Menschen für sich selbst den Samariter erwarten, der sich zu ihnen niederbeugt, Öl in die Wunden gießt, sie umsorgt und in die Herberge bringt. Sie wissen im Letzten doch, dass sie der Barmherzigkeit Gottes, seiner Zärtlichkeit bedürfen. In der Härte der technischen Welt, in der die Gefühle nicht mehr zählen, wächst dann doch die Erwartung nach einer heilenden Liebe, die umsonst geschenkt wird.

Mir scheint, dass so im Thema der Barmherzigkeit Gottes auf eine neue Weise ausgedrückt ist, was Rechtfertigung durch Glauben heißt. Von der Barmher- zigkeit Gottes her, nach der alle Ausschau halten, lässt sich der wesentliche Kern der Rechtfertigungslehre auch heute neu verstehen und erscheint wieder in seiner ganzen Bedeutung.“22

Die Beschreibung, die Benedikt XVI. hier vornimmt, ist von seinem Nach- folger eins zu eins aufgegriffen worden. Die Genialität von Papst Franziskus be- steht darin, dass er dieses Bedürfnis, das wir alle haben, zutiefst begriffen und ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hat. Franziskus hat (wie auch Johannes Paul II. und Benedikt XVI., wie wir soeben gesehen haben) ein tiefes Gespür für den Menschen von heute. Er versteht seine Lage und vollzieht die Unrast und die Verletzungen des Menschen innerlich nach. Und damit über- rascht, ja verblüfft er, innerhalb und außerhalb der Kirche. Denn das sprengt das gewöhnliche Maß und bricht eingefahrene Muster auf, egal auf welcher Seite.

21 Ebd.

22 Ebd.

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Auf die Frage des Interviewers: „Warum brauchen unsere Zeit und wir heutigen Menschen gerade Barmherzigkeit?“, antwortet Franziskus: „Weil die Menschheit verletzt ist, ja tiefe Wunden trägt. Sie weiß nicht, wie sie diese heilen soll, oder glaubt, dass das nicht möglich sei.“ Das ist also das Drama, das heute noch hinzukommt, „dass wir unser Übel, unsere Sünde als unheilbar betrachten, als etwas, das weder geheilt noch vergeben werden kann. Es fehlt die konkrete Erfahrung der Barmherzigkeit. Die Verwundbarkeit unserer Zeit ist auch das: mangelnder Glaube daran, dass es Erlösung gibt, eine Hand, die uns aufhebt, eine Umarmung, die uns rettet, uns vergibt, uns aufnimmt, uns mit unendlicher Liebe überschwemmt, geduldig und nachsichtig.“23 Man sieht, wie genau der Papst das Problem und den zu beschreitenden Weg erkannt hat, was die Wunden sind und wodurch sie geheilt werden können, wie wir sie hei- len können.

Der heutige Mensch bedarf der „konkreten Erfahrung der Barmherzig- keit“. Auch angesichts der gedanklichen Verwirrung, die durchaus vielen Men- schen Wunden zufügt, ist dem Papst klar, dass man die Ontologie – das heißt die Wahrheit über das Menschsein, das klare Bewusstsein, was dieser ist, – nicht einfach dadurch wiederherstellen kann, dass man die Wahrheit darlegt oder die Inhalte der Morallehre wiederholt, sondern einzig und allein durch die Erfahrung der Barmherzigkeit, die dann dazu führen kann, dass man auch die Doktrin versteht.

Aus diesem Grund hat der Papst, um auf die tiefen Verwundungen des zeitgenössischen Menschen zu reagieren, nicht etwa nur einen Kongress über die Barmherzigkeit veranstaltet oder eine Reflexion über das Thema ange- stellt. Er hat vielmehr einen Gestus vorgeschlagen, der es zunächst und vor allem uns selbst ermöglicht, die Barmherzigkeit zu erfahren, ein ganzes Jahr lang. Und er hat uns mit seinen ständigen Aufrufen dabei begleitet, es auch zu leben.

Um der menschlichen Zerrissenheit wirksam zu begegnen, um dem konkre- ten Menschen in seiner Zerbrechlichkeit zu helfen, muss die Kirche, also jeder von uns, in der Tat zunächst selbst die Erfahrung einer Umarmung durch die göttliche Barmherzigkeit machen, um diese dann auch allen Menschenbrüdern, denen die Kirche auf ihrem Weg begegnet, mitteilen zu können.

Das ist der Sinn des Jahres der Barmherzigkeit, der in Einklang steht mit dem „demütigen“ Stil Gottes: zu allen zu gelangen mittels der Seinen, das heißt durch die Kirche, die Weggemeinschaft derjenigen, die Er erwählt hat und die Ihn anerkennen. Durch den Vorschlag, den der Heilige Vater der Kirche mit dem Heiligen Jahr macht, zeigt er, dass er das Subjekt, dass die Barmherzigkeit

23 Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornielli, Kösel-Verlag, München 2016, S. 36 f.

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bezeugen muss, nicht als selbstverständlich voraussetzt, ebenso wenig wie den

„Ort“, wo so ein Subjekt hervorgebracht wird.24

Dieses Bewusstsein, was Sinn und Methode des Ganzen ist, kommt auch darin zum Ausdruck, dass Franziskus die Frage stellt: „Warum feiern wir ein Ju- biläumsjahr der Barmherzigkeit? Was bedeutet es?“ Und antwortet: „Die Kirche [also jeder von uns] braucht diesen außerordentlichen Moment. Ich sage nicht:

Dieser außerordentliche Moment ist gut für die Kirche. Ich sage: Die Kirche braucht diesen außerordentlichen Moment. In unserer Zeit, in der ein tiefgrei- fender Wandel stattfindet, ist die Kirche aufgerufen, ihren besonderen Beitrag zu leisten und die Zeichen der Gegenwart und der Nähe Gottes sichtbar zu ma- chen. Und das Jubiläumsjahr ist eine günstige Zeit für uns alle, um die göttliche Barmherzigkeit, die über alle menschlichen Grenzen hinausgeht [...], zu betrach- ten und so zu überzeugteren und fruchtbareren Zeugen zu werden.“25 Das Ziel ist es also, zu Zeugen zu werden. Und die Methode ist die Betrachtung, also sich in die Erfahrung der Barmherzigkeit hineinzuversenken. Denn der erste, der der Barmherzigkeit bedarf, ist das christliche Volk, also wir, jeder von uns.

Was bedeutet das alles in letzter Konsequenz für uns? „Den Blick Gott, dem barmherzigen Vater, und den Brüdern zuzuwenden, die der Barmherzigkeit be- dürfen, bedeutet, die Aufmerksamkeit auf den wesentlichen Inhalt des Evan- geliums zu richten: auf Jesus, die menschgewordene Barmherzigkeit, der das große dreifaltige Geheimnis Gottes für unsere Augen sichtbar macht. Ein Jubi- läum der Barmherzigkeit zu feiern ist gleichbedeutend damit, das Besondere des christlichen Glaubens, also Jesus Christus, den barmherzigen Gott, wieder in den Mittelpunkt unseres persönlichen Lebens und unserer Gemeinschaften zu stellen.“26 Und in der Verkündigungsbulle zum Heiligen Jahr betont der Papst:

„Jesus Christus ist das Antlitz der Barmherzigkeit des Vaters. Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Satz auf den Punkt gebracht zu sein.

In Jesus von Nazareth ist die Barmherzigkeit des Vaters lebendig und sichtbar geworden.“27 Das Heilige Jahr dient also dazu, „die Barmherzigkeit zu leben. Ja, liebe Brüder und Schwestern, dieses Heilige Jahr wird uns angeboten, damit wir

24 „Der Glaube benötigt in der Tat einen Bereich, in dem er bezeugt und mitgeteilt werden kann und der dem entsprechend und angemessen ist, was mitgeteilt wird. Um einen bloß lehrmäßigen Inhalt, eine Idee weiterzugeben, würde vielleicht ein Buch oder die Wiederholung einer mündlichen Botschaft genügen. Aber was in der Kirche mitgeteilt wird, was in ihrer lebendigen Tradition weitergegeben wird, ist das neue Licht, das aus der Begegnung mit dem lebendigen Gott kommt;

es ist ein Licht, das den Menschen in seinem Innern, im Herzen anrührt und dabei seinen Verstand, seinen Willen und sein Gefühlsleben mit einbezieht“ (Franziskus, Enzyklika Lumen fidei, 40).

25 Franziskus, Generalaudienz, 9. Dezember 2015.

26 Ebd.

27 Franziskus, Misericordiae Vultus. Verkündigungsbulle zum Außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit, 11. April 2015, 1.

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in unserem Leben von der süßen Vergebung Gottes berührt werden und Seine Nähe verspüren vor allem in den Augenblicken besonderer Not.“28 Es ist der auferstandene Herr, der sich heute über unsere Wunden beugt.

„Dieses Jubiläumsjahr ist also ein hervorragender Augenblick für die Kirche zu lernen, einzig und allein das zu wählen, ‚was Gott am meisten gefällt‘. Und was ist es, das ‚Gott am meisten gefällt‘? Seinen Kindern zu vergeben, ihnen Barm- herzigkeit zu erweisen, damit sie ihrerseits den Brüdern vergeben können und wie Fackeln der Barmherzigkeit Gottes in der Welt erstrahlen können. [...] Das Jubi- läum wird eine ‚Zeit der Gnade‘ für die Kirche sein, wenn wir lernen werden, das zu wählen, ‚was Gott am meisten gefällt‘, ohne der Versuchung zu erliegen zu meinen, dass es etwas Anderes gäbe, das wichtiger oder vorrangiger ist. Nichts ist wichtiger als das zu wählen, ‚was Gott am meisten gefällt‘, also seine Barmher- zigkeit, seine Liebe, seine Zärtlichkeit, seine Umarmung, seine Liebkosungen!“29

Um einem möglichen Einwand zuvorzukommen, ergänzt Franziskus noch, als könne er unsere Gedanken lesen: „Gewiss könnte nun jemand einwenden: ‚Aber Va- ter, müsste die Kirche in diesem Jahr nicht etwas mehr tun? Es ist recht, die Barmher- zigkeit Gottes zu betrachten, aber es gibt viele dringende Nöte!‘ Das ist wahr, es gibt viel zu tun, und ich werde als Erster nicht müde, daran zu erinnern. Man muss jedoch berücksichtigen, dass an der Wurzel der Vergessenheit der Barmherzigkeit stets die Ei- genliebe steht. In der Welt nimmt diese die Form der ausschließlichen Suche nach eige- nen Interessen, nach Genuss und Ehren an, vereint mit dem Wunsch, Reichtümer an- zuhäufen, während sie im Leben der Christen oft als Scheinheiligkeit und Weltlichkeit daherkommt. All diese Dinge stehen der Barmherzigkeit entgegen. Die Bewegungen der Eigenliebe, die die Barmherzigkeit in der Welt zu einer Fremden machen, sind so viele und so zahlreich, dass wir oft nicht einmal mehr in der Lage sind, sie als Grenzen und als Sünde zu erkennen. Daher müssen wir erkennen, dass wir Sünder sind, um in uns die Gewissheit der göttlichen Barmherzigkeit zu stärken. ‚Herr, ich bin ein Sünder;

Herr, ich bin eine Sünderin: Komm mit deiner Barmherzigkeit.‘ Das ist ein wunder- schönes Gebet. Es ist ein Gebet, das man jeden Tag einfach sprechen kann: ‚Herr, ich bin ein Sünder; Herr, ich bin eine Sünderin. Komm mit Deiner Barmherzigkeit.‘“30

28 Franziskus, Generalaudienz, 9. Dezember 2015.

29 „Auch das notwendige Werk der Erneuerung der Institutionen und der Strukturen der Kirche ist ein Mittel, das uns dahin führen muss, die lebendige und lebenspendende Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes zu machen: Sie allein kann der Kirche gewährleisten, jene Stadt zu sein, die auf einem Berg liegt und die nicht verborgen bleiben kann (vgl. Mt 5,14). Nur eine barmherzige Kirche sendet ihren Glanz aus! Wenn wir auch nur einen Augenblick lang vergessen sollten, dass die Barmherzigkeit das ist, ‚was Gott am meisten gefällt‘, dann wäre alle unsere Mühe umsonst, denn wir würden zu Sklaven unserer Institutionen und unserer Strukturen, so erneuert sie auch sein mögen. Wir würden jedoch immer Sklaven bleiben.“ (Franziskus, Generalaudienz, 9. Dezember 2015).

30 Ebd.

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3. „Ich habe bei Tag und bei Nacht auf dich gewartet“

Wir alle haben jetzt Gelegenheit, uns mit dieser wichtigen Rede von Papst Fran- ziskus auseinanderzusetzen, die völlig mit dem übereinstimmt, was Johannes Paul II. gesagt hat, und auch Benedikt XVI., wie dieser selbst bestätigt. Die

„Vergessenheit der Barmherzigkeit“ hat ihre Wurzel darin, dass in uns andere Interessen vorherrschen. Propheten werfen uns immer aus unserer gewohnten Bahn. Wir können nur hoffen, dass wir dafür bereit sind.

Als ich die eben zitierten Texte nochmals las, musste ich unweigerlich daran denken, dass Don Giussani in einer besonders heiklen Situation – zu Beginn der 1968er Aufstände, kurz nach der Besetzung der Katholischen Universi- tät Mailand, an der auch viele Anhänger von GS teilgenommen hatten – das grundlegende Problem darin sah, dass wir nicht „Tag und Nacht auf den Herrn gewartet“ hätten. Wir hatten andere Interessen und Wichtigeres zu tun, als „auf Ihn zu warten bei Tag und bei Nacht“.

In Bezug auf diese Situation stellt Don Giussani ohne Umschweife fest: „Wir haben damals die Lage nicht erkannt und nicht verstanden, was zu tun war [...], weil wir nicht Tag und Nacht auf Ihn gewartet haben.“ Warum? Was bedeutet es, dass wir nicht auf Ihn gewartet haben? Es bedeutet, dass wir auf etwas anderes gewartet haben. Es heißt, dass man mehr auf etwas anderes gewartet hat, dass also Christus für uns nicht im Mittelpunkt stand. „Nach meinem Dafürhalten wäre auch die Haltung unserer Freunde an der Katholischen Universität damals eine andere gewesen, wenn wir Ihn Tag und Nacht erwartet hätten. Sie war zwar von einer besonderen Großzügigkeit geprägt, aber war sie deswegen schon wahr?“ Für Don Giussani „bemisst sich jedenfalls die Wahrheit eines Gestus nicht an seiner politischen Klugheit“, sondern „daran, ob man ‚Ihn Tag und Nacht erwartet‘.

Sonst unterscheidet sich das, was wir zu sagen haben, kaum noch von dem, was die anderen sagen, und kann von den anderen instrumentalisiert werden. Wir mögen zwar unser Ding machen, bleiben dabei jedoch – ohne es zu merken – den Denk- mustern verhaftet, die auch von allen anderen bemüht werden. Wenn wir Ihn aber Tag und Nacht erwarten, dann reden und handeln wir auch anders.“31

Es kommt also nicht darauf an, kohärent zu sein oder dass einem bereits alles klar ist. „Man kann Ihn auch angesichts der Vorläufigkeit all unserer Versu- che und im Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit Tag und Nacht erwarten.“ Es ist eine Frage der Sehnsucht, eine Frage der Erwartung. Und irgendetwas „Letztes“

erwartet, ersehnt und bejaht man ja immer, in jedem Augenblick, und zwar „al-

31 arChivio StoriCo dELL’aSSoCiazionE ECCLESiaLE mEmorES domini (aSaEmd), Bild- Ton-Aufzeichnung des Besinnungstags im Advent für den „Gruppo Adulto“, Mailand, 19.

November 1967; vgl. A. Savorana, Vita di don Giussani, Bur, Mailand 2014, S. 391 ff.

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lein schon dadurch, dass [man] auch nur fünf Minuten lebt“32. Und wenn nicht Christus das Erwartete, das Ersehnte ist, dann ist es zwangsläufig etwas anderes.

Was wiederum bedeutet, dass wir eine Veränderung der Dinge, der persönlichen oder gesellschaftlichen Situation von eben diesem anderen erwarten – und nicht von Christus und der lebendigen Begegnung mit Ihm, von der Gemeinschaft mit Ihm, vom Sich-Ausbreiten Seiner Gegenwart in der Welt. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob unsere Unternehmungen nun ausgereift sind oder nicht, sondern darauf, dass unser Tun seinen Ausgang nimmt von der Sehnsucht nach Seiner Gegenwart, daraus, dass man Ihn erwartet.

„Mag sein“, so sagte Don Giussani im November 1967, „dass man es nicht explizit ausspricht, aber man erwartet doch etwas anderes. [...] Es geht hier wohlgemerkt nicht um ein Prinzip, das man nur einmal zu bekräftigen bräuch- te. Nein, es geht um ein Prinzip, das man jeden Tag wieder aufgreifen muss.

Es bedarf eines geistigen Habitus, einer Mentalität, die alles einbezieht: das Gerechte und das Ungerechte, das Verdienstvolle und den Irrtum, den Tag und die Nacht. ‚Ich habe bei Tag und bei Nacht auf dich gewartet‘. Ich möchte euch bitten, einmal darüber nachzudenken, wie alles davon seinen Ausgang nimmt – sei es ein möglicher Verrat, sei es, dass man Ihn nicht mehr erwartet, oder dass die Sehnsucht nicht zu einem geistigen Habitus, zu einer Mentalität wird –, wie also alles daraus entspringt, dass man sich die Ohren zustopft, damit man die Prophezeiung nicht hören muss, die an uns ergangen ist. Denn der Herr schickt Propheten, um uns zu mahnen. Die Berufung geschieht stets durch einen Propheten, durch die Stimme eines Propheten. Versteht ihr, dass die Wurzel von all dem darin liegt (und damit konkretisiert sich die Sehnsucht, ohne dass man sie banalisiert, das ‚Komm‘, von dem wir vorhin sprachen,), dass man der Gemeinschaft gegenüber taub ist? Denn die Gruppe ist die Pro- phezeiung, der Ort der Ermahnung. Und hier liegt die bittere, faulende Wur- zel. Doch seltsamerweise können wir uns gerade auch hier wieder falsch po- sitionieren. Denn wenn man der Gruppe eine besondere Bedeutung beimisst, muss das nicht unbedingt heißen, dass man sie sentimental überhöht als einen Ort menschlicher Nähe und Wärme, sondern es kann auch bedeuten, dass man sie als einen Ort des Gespräches [und damit des Urteils] schätzt.“33

Don Giussani hat uns unablässig dazu aufgerufen, Christus bei Tag und bei Nacht zu erwarten, was entscheidend ist für unser Leben. Wie oft hat er uns daran erinnert, auch angesichts unseres Versagens, unseres Verrats, ohne daran Anstoß zu nehmen: „Um zu verstehen, was der Verrat ist, Leute, müssen wir an unsere eigene Zerstreuung denken. Denn es ist ein Verrat, wenn wir Tage, Wo-

32 L. Giussani, Der religiöse Sinn, EOS Verlag Sankt Ottilien 2011, S. 91.

33 aSaEmd, Bild-Ton-Aufzeichnung des Besinnungstags im Advent für den „Gruppo adulto“, Mailand, 19. November 1967.

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chen, Monate verbringen … Schaut, zum Beispiel gestern Abend, wann haben wir an Ihn gedacht? Wann haben wir ernsthaft an Ihn gedacht, von Herzen, wahrend des letzten Monats, in den letzten drei Monaten, von Oktober bis jetzt?

Nie. Wir haben nicht an Ihn gedacht wie Johannes und Andreas, als sie Ihn beim Sprechen anblickten. Und sollten wir uns doch in Bezug auf Ihn Fragen gestellt haben, so allenfalls aus Neugierde, aus dem Bedürfnis heraus, zu analysieren, nachzuforschen, zu klären. Aber dass wir so an ihn dächten wie einer, der auf- richtig verliebt ist, an die geliebte Person denkt (und sogar dort geschieht es sehr selten, weil alles auf der Grundlage einer Erwiderung berechnet wird), ganz rein, absolut und vollkommen losgelöst, als reine Sehnsucht nach seinem Wohl … So sehr, dass er auch bei fehlender Anerkennung von Seiten des anderen eine noch stärkere Sehnsucht nach dem Wohl des anderen in sich nährt!“34 Wie selten den- ken wir doch an Ihn wie an eine gegenwärtige, geliebte Gegenwart! Man braucht es nur zu vergleichen mit den Jüngern in den Tagen nach Ostern, nachdem sie ge- sehen hatten, dass Er auferstanden war. Was beherrschte ihren Blick, was stand ihnen immerzu vor Augen? Sie waren alle ergriffen von einer Gegenwart, die ihnen alle Angst und Traurigkeit nahm. Jemand hat mir geschrieben: „Zufällig las ich einen sehr einfach gehaltenen Brief, den Emily Dickinson einer Freundin schrieb. Er hat mich berührt, weil dort ohne Umschweife die Sehnsucht nach Christus auf den Punkt gebracht wird: Morning without you is a dwindled Dawn [Ein Morgen ohne dich ist wie eine schwindende Morgenröte]. Inmitten all der Verwirrung ist es allein die Zuneigung zu Ihm, die das Leben verwandelt. Ohne Ihn hat das Leben weniger Geschmack – a dwindled Dawn.“35

Im Jahr 1982 sagte Don Giussani zu den vielen Teilnehmern der ersten Exerzitien der Fraternität, als er ihre Gesichter betrachtete und dabei die Le- bendigkeit der Begegnung vor Augen hatte, die sie einst ergriffen und nun bis hierhin geführt hatte: „Wer weiß, ob wir uns noch rühren lassen, so wie wir in Varigotti gerührt waren?“, damals, als GS seinen Anfang nahm. Und er fuhr fort: „Ihr seid groß geworden. Ihr habt es als Menschen zu etwas gebracht in euren Berufen, doch möglicherweise besteht zugleich eine gewisse Ferne von Christus (wenn man es vergleicht mit der Begeisterung vor vielen Jahren und besonders unter gewissen Umständen vor vielen Jahren). […] Es ist, als wäre Christus dem Herzen fern.“36

34 L. Giussani, Kann man so leben? Christsein als Lebensform, Sankt Ulrich-Verlag, Augsburg 2007, S. 248.

35 Vgl. „April 1885“ (L 981), in: The Letters of Emily Dickinson, Edited by Thomas H.

Johnson, Associated Editor: Theodora Ward, Cambridge MA, The Belknap Press of Harvard University Press, 1958.

36 L. Giussani, „La familiarità con Cristo“, in: Tracce-Litterae communionis, Nr. 2, Februar 2007, S. 2.

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Wie sieht es bei uns aus? Empfinden wir es als dringend notwendig, dass uns vergeben wird, dass wir erneut umarmt werden, aufgrund all unseres Strauchelns, unserer Abgelenktheit, aufgrund der stillschweigenden Vergessenheit, die sich in unserem Alltag breitmacht, aufgrund unseres Verrats, unserer Armseligkeit? Was beherrscht unser Leben, unsere Gedanken, unseren Blick in dieser Zeit der Verwir- rung und Ungewissheit? Sind wir uns darüber im Klaren, dass wir Seiner Barmher- zigkeit bedürfen? Der heilige Bernhard bringt es gut auf den Punkt: „Der Mensch nähert sich seiner Wahrheit durch das Eingeständnis seiner Armseligkeit.“37

Es reicht aber nicht, sich seine Armseligkeit einzugestehen. Das steht am Anfang unserer Annäherung an die Wahrheit, aber es reicht nicht. Es gibt in der Tat genügend Gelegenheiten, wo uns klar wird, dass das nicht ausreicht. Wir brauchen auch jemanden, der in uns das Bedürfnis nach Vergebung wachruft.

Dazu soll das Heilige Jahr der Barmherzigkeit dienen. Es soll uns dabei helfen, uns bewusst zu werden, wie notwendig es ist, dass Er sich uns in all unserer Abge- lenktheit und Verletztheit zuwendet, um uns erneut an sich zu ziehen, wie es auch bei den Jüngern geschah, als sie nach Seinem Leiden und Sterben ganz verwirrt waren. Es ist, als benötigten wir das, was Dostojewski beschreibt: „Wollen Sie ei- nen Menschen schwer und hart bestrafen, mit der schrecklichsten Strafe, die man sich denken kann, aber so, dass Sie seine Seele retten und für alle Zeit erneuern?

Wenn Sie das wollen, dann erdrücken Sie ihn durch Ihr Mitleid! Sie werden sehen, Sie werden hören, wie seine Seele zusammenfahren und erschrecken wird. ‚Dass mir diese Gnade erwiesen wird, dass mir so viel Liebe zuteil wird! Bin ich denn dessen würdig?‘, wird er ausrufen.“38 Das tut Gott mit uns: Er „erdrückt“ uns ein Jahr lang mit Seiner Barmherzigkeit, auf dass wir am Ende dieses Jahres dieser Barmherzigkeit gewisser sind und für sie Zeugnis ablegen können.

Wir müssen wachsen in der „Überzeugtheit von der Barmherzigkeit“. Des- wegen müssen wir auf die Stimme des Papstes hören. Er ist der Prophet, den Gott gesandt hat, um Sein Volk in dieser Zeit epochalen Wandels zu leiten:

„Dieses Außerordentliche Heilige Jahr ist selbst ein Geschenk der Gnade. Durch diese Pforte einzutreten bedeutet, die Tiefe der Barmherzigkeit des Vaters zu entdecken, der alle aufnimmt und jedem persönlich entgegengeht. Er ist es, der uns sucht; er ist es, der uns entgegenkommt! Es wird ein Jahr sein, in dem man sich immer mehr von der Barmherzigkeit überzeugen kann. Wie viel Unrecht wird Gott und seiner Gnade getan, wenn man vor allem behauptet, dass die Sünden durch sein Gericht bestraft werden, anstatt allem voranzustellen, dass sie von seiner Barmherzigkeit vergeben werden (vgl. Augustinus, De praedestina- tione sanctorum 12,24)! Ja, genauso ist es. Wir müssen die Barmherzigkeit dem

37 „Primus veritatis gradus est, primum seipsum attendere, seu propriam miseriam agnoscere“

(Bernhard von Clairvaux, De gradibus humilitatis et superbiae, PL 182, Sp. 948).

38 F.M. Dostojewski, Die Brüder Karamasow, 12. Buch, 13. Kapitel.

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Gericht voranstellen, und in jedem Fall wird das Gericht Gottes immer im Licht seiner Barmherzigkeit stehen. Möge das Durchschreiten der Heiligen Pforte uns also das Gefühl vermitteln, Anteil zu haben an diesem Geheimnis der Liebe, der zärtlichen Zuwendung. Lassen wir jede Form von Angst und Furcht hinter uns, denn das passt nicht zu dem, der geliebt wird; erleben wir vielmehr die Freude über die Begegnung mit der alles verwandelnden Gnade!“ 39

Wir müssen in der Gewissheit wachsen, dass allein die Barmherzigkeit die wahre Antwort auf die Situation des Menschen von heute, auf die Gewalt, die Verletzungen, die Mühsal und die Widersprüche ist, die wir durchleben müssen.

Der Papst erläutert, warum die Barmherzigkeit so dringend ist: Es geht darum, „in uns die Freude tiefer zu verspüren, dass wir von Jesus wieder ge- funden wurden, der als Guter Hirt gekommen ist, uns zu suchen, weil wir uns verirrt hatten“.40 Und er stellt klar: „Das ist das Ziel, das die Kirche sich in diesem Heiligen Jahr setzt. So werden wir in uns die Gewissheit stärken, dass die Barmherzigkeit wirklich zum Aufbau einer humaneren Welt beitragen kann. Besonders in unserer Zeit, in der die Vergebung ein seltener Gast in den Bereichen des menschlichen Lebens ist, wird der Aufruf zur Barmherzigkeit dringender, und das an allen Orten: in der Gesellschaft, in den Institutionen, am Arbeitsplatz und auch in der Familie.“41

Nur wenn wir diese Gewissheit erlangen, die uns durch alle Angst, Einsam- keit und Zweifel trägt, können wir auch die enormen Herausforderungen des gegenwärtigen Zeitenwandels angehen – und zwar mit der einzig wirksamen Waffe, dem Zeugnis. Denn darauf zielt das Heilige Jahr letztlich ab: „Genau darum habe ich ein außerordentliches Jubiläum der Barmherzigkeit ausgeru- fen. Es soll [...] helfen, das Zeugnis der Gläubigen stärker und wirkungsvoller zu machen“42, wie es Jesus mit seinen Jüngern gemacht hat.

„Es ist naiv zu meinen, dass das die Welt verändern kann? Ja, mensch- lich gesprochen ist es verrückt, aber ‚das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen‘ (1 Kor 1,25).“43 Aus dieser Überzeugung des heiligen Paulus heraus sagte der Papst den Bischöfen Mexikos: „Die einzige Kraft, die fähig ist, das Herz der Men- schen zu gewinnen, [ist] die Zärtlichkeit Gottes [...]. Das, was begeistert und

39 Franziskus, Außerordentliches Jubiläum der Barmherzigkeit: Predigt bei der Heiligen Messe und Öffnung der Heiligen Pforte, 8. Dezember 2015.

40 Franziskus, Predigt bei der Feier der Ersten Vesper vom Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit, 11. April 2015.

41 Franziskus, Generalaudienz, 9. Dezember 2015.

42 Franziskus, Misericordiae Vultus. Verkündigungsbulle zum Außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit, 11. April 2015, 3.

43 Franziskus, Generalaudienz, 9. Dezember 2015.

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anzieht, was nachgiebig macht und überwältigt, was öffnet und Fesseln löst, ist nicht die Kraft der Mittel oder die Härte des Gesetzes, sondern die allmächtige Schwachheit der göttlichen Liebe, das heißt die unwiderstehliche Kraft seiner Sanftmut und die unwiderrufliche Verheißung seiner Barmherzigkeit.“ Doch

„wenn unser Blick nicht bezeugt, dass wir Jesus gesehen haben, dann wirken die Worte, mit denen wir von ihm sprechen, wie leere rhetorische Phrasen.

Vielleicht drücken sie die Nostalgie derer aus, die den Herrn nicht vergessen können, doch in jedem Fall sind sie nur das Stammeln der Waisen am Grab.

Worte, die letztlich unfähig sind zu verhindern, dass die Welt der eigenen hoff- nungslosen Macht überlassen und auf sie beschränkt bleibt.“44

Lassen wir zu, dass sich unser Herz in diesen Tagen für diese Barmherzig- keit öffnet – indem wir zuhören, die Stille einhalten – auf dass das, was wir hören werden, uns verwandle und Seine Gegenwart in uns vorherrsche, so wie sie nach der Auferstehung auch das Leben der Jünger beherrscht hat. Wir sind beisammen, um uns gegenseitig dabei zu unterstützen.

HEILIGE MESSE

Schriftlesungen: 1 Joh 1,5-2,2; Ps 102 (103); Mt 11,25-30 PREDIGT VON DON STEFANO ALBERTO

Wir vertrauen uns selbst, unsere Lieben, unser ganzes geliebtes Land, Italien, seiner Patronin, unserer Patronin Caterina von Siena an und fragen uns, wie- so ein Mensch, eine junge Frau zum Werkzeug der Einheit der Kirche werden konnte und den Papst nach Rom zurückbringen, zu einem Werkzeug des Frie- dens inmitten von Bruderkriegen, damals wie heute. Giussani antwortet mit an- deren Worten, wie wir gerade gehört haben, aber der Inhalt ist der gleiche: „Ich habe Tag und Nacht auf dich gewartet“. Ich habe nach dir gesucht, Christus.

Diese Möglichkeit hat jeder für uns in diesem Moment der Gnade: Entweder wir bleiben die Schlauen, voll von dem, was wir schon wissen. Oder wir bitten darum, dass wir wieder klein werden, dass wir wie Kinder werden im Zuhören und in der Stille. Und vor allem in der Begeisterung, was auch immer unsere Geschichte sein mag, was auch immer wir gerade leben, in der Begeisterung über die Einladung: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. [...] Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.“

44 Franziskus, Ansprache bei der Begegnung mit den Bischöfen Mexikos, Mexiko-Stadt, 13.

Februar 2016.

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Samstag, 30. April, morgens

Beim Betreten und Verlassen des Saales:

Franz Schubert, Sonate für Arpeggione und Klavier, D 821 Mstislaw Rostropowitsch, Violoncello - Benjamin Britten, Klavier

„Spirto Gentil“ Nr. 18, Decca

Don Pino. Wenn wir jetzt auf den Engel schauen, wie er dieser jungen Frau die Botschaft bringt, und wenn wir auf Maria schauen, die ihr Ja spricht, dann rufen wir damit nicht etwas Vergangenes in Erinnerung, sondern begeben uns mitten hinein in die Gegenwart, in diese Stunde, in die Möglichkeit, zu lernen – wie uns gestern Abend mit einem Zitat von Papst Franziskus gesagt wurde –, „das zu wählen, ‚was Gott am meisten gefällt‘, ohne der Versuchung zu er- liegen zu meinen, dass es etwas Anderes gäbe, das wichtiger oder vorrangiger ist. Nichts ist wichtiger als das zu wählen, ‚was Gott am meisten gefällt‘, also seine Barmherzigkeit, seine Liebe, seine Zärtlichkeit, seine Umarmung, seine Liebkosungen!“

Der Engel des Herrn Laudes

n ERSTE LEKTION Julián Carrón

„Das Aufwallen des Herzens [Gottes]

ist Sein Erbarmen mit deiner Nichtigkeit“

„Unter der Oberfläche der Selbstsicherheit [...] des heutigen Menschen [ver- birgt] sich doch ein tiefes Wissen um seine Verwundung“.45 Deshalb wartet der Mensch, deshalb wartet jeder von uns auf Barmherzigkeit. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass wir uns die Geschichte dieser Barmherzigkeit vor Augen führen. Denn nur so können wir auch unsere Verwundungen anschauen und uns selbst annehmen. Sich diese Geschichte zu vergegenwärtigen ist mehr als

45 Interview mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI. über die Frage: „Was ist der Glaube und wie kommt man zum Glauben?, a.a.O.

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die Erinnerung an etwas Vergangenes. Wenn wir sie noch einmal Revue passie- ren lassen, dann lernen wir dabei jene Gegenwart noch besser kennen, ohne die wir unser Leben nicht anschauen könnten.

1. Die Barmherzigkeit Gottes

„Gott gefiel es nicht, seinem Volk durch Nachdenken das Heil zu schenken“46, sagt der heilige Ambrosius. Das Nachdenken taugt nicht, um unsere Verwun- dungen zu heilen. Gott, der uns erschaffen hat, weiß das genau. Und so steht am Anfang des von Gott gewirkten Heils auch ein Akt des Erbarmens. Der Ausgangspunkt ist ein Akt der Rührung, ein Akt der Liebe, ein Akt des Mit- leids. Gott tritt ein in die Geschichte durch das Erbarmen, das Er mit Seinem Volk hat.

„Der Herr sprach [zu Mose]: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie zu befreien […] Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken. Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus! Mose antwortete Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte? Gott aber sagte: Ich bin mit dir; ich habe dich gesandt und als Zeichen dafür soll dir dienen: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr Gott an diesem Berg verehren.“47

Darin besteht „die grundlegende Erfahrung des auserwählten Volkes“, schreibt Johannes Paul II. in Dives in misericordia: „Der Herr sah das Elend des versklavten Volkes, hörte seine Schreie, erkannte seine Bedrängnis und be- schloss, es zu befreien [vgl. Ex 3,7]. In dieser Rettung durch den Herrn sieht der Prophet dessen Liebe und Mitleid am Werk [vgl. Jes 63,9]. Hier hat die Sicherheit ihre Wurzeln, mit der das auserwählte Volk und jedes seiner Glieder auf Gottes Erbarmen baut, das man in jeder Bedrängnis anrufen kann.“48

Übergeht bitte keinen dieser Sätze. Denn ohne diese Barmherzigkeit gibt es keine Sicherheit, ohne sie gibt es nichts, worauf man wirklich bauen könnte, so groß ist unsere Zerbrechlichkeit. Wie unser Alltag zeigt, bricht nach nur einem Augenblick, nach einem Moment der Euphorie alles wieder in uns zusammen.

Es ist deshalb entscheidend für uns, dass wir die Geschicke des Volkes Israel, den Verlauf seiner Geschichte genau betrachten und bedenken. Das ist nicht nur ein

46 Ambrosius, De Fide, I, 42: „Sed non in dialectica conplacuit deo saluum facere populum suum“.

47 Ex 3,7-12.

48 Johannes Paul II., Enzyklika Dives in Misericordia, 4.

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schönes Detail in unserem Leben. In den Berichten der Bibel sehen wir vielmehr, wie das Volk Israel aus dem Gedächtnis dessen lebt, was seine Geschichte geformt hat. Das Volk Israel lebt im Gedächtnis an den Akt seiner Befreiung, an den Akt seiner Rettung, den Gott vollbracht hat, wie die Worte des Propheten Jesaja bele- gen: „Die Huld des Herrn will ich preisen, die ruhmreichen Taten des Herrn, alles, was der Herr für uns tat, seine große Güte, die er dem Haus Israel erwies in seiner Barmherzigkeit und seiner großen Huld.“49

Wieso handelt Gott so? „Dein großes Mitleid und dein Erbarmen“50, sagt Jesaja. In seinem tiefsten Inneren ist Gott dieses „große Mitleid“ für unsere Be- stimmung. Das Handeln Gottes ist keine momentane Reaktion auf das Elend Seines Volkes. Seine Initiative ist eingebettet in eine Geschichte der Erwählung, die mit dem Begriff „Bund“ beschrieben wird. Deshalb konnte Er nicht gleichgül- tig bleiben angesichts der Klagen der Israeliten. „Ferner habe ich gehört, wie die Israeliten darüber stöhnen, dass die Ägypter sie wie Sklaven behandeln. Da habe ich meines Bundes gedacht.“51

Der Bund, den Er mit Abraham geschlossen hatte, beinhaltet eine Verhei- ßung: „Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet“, der die Beziehung darstellt, die er mit den Israeliten eingegangen ist, „werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein“, das heißt ich werde euch in einzigartiger Weise bevorzugen „unter allen Völkern“.52

Welche Antwort würde man angesichts der Zeichen dieser unerhörten Bevor- zugung von demjenigen erwarten, dem sie zuteil wurde, der sie erfahren durfte?

„Das eigene Leben auf Gottes Wink hin zu leben“53, sagt Don Giussani. Das erste Gebot des Dekalogs bringt es klar zum Ausdruck, nicht in erster Linie als eine Pflicht, die es zu erfüllen gilt, sondern als eine Einladung, die ausgesprochen wird, um die Anhänglichkeit zu befördern. Was das erste Gebot bedeutet, wird deutlich durch die Befreiung und Errettung, die Gott für Sein Volk gewirkt hat.

Nachdem Er das Volk mit starker Hand aus Ägypten herausgeführt und dabei aufsehenerregende Zeichen getan hatte, was hätte das Volk Israel da Intelligente- res tun können, als Ihn anzuerkennen? „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“54 Was wäre vernünftiger gewesen, als Seiner Liebe zu entspre- chen? „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den

49 Jes 63,7.

50 Jes 63,15.

51 Ex 6,5.

52 Ex 19,5.

53 L. Giussani, Wem gleicht der Mensch? Beitrag zu einer christlichen Anthropologie, Johannes Verlag, Einsiedeln 1987, S. 23.

54 Ex 20,2-3.

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Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit gan- zer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst.“ Was gäbe es Interessan- teres zu tun? „Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.“55

Die Erinnerung ist die Bedingung für das neue Leben, das aus diesem Ereignis der Befreiung hervorgeht. Es ist wichtig für uns, dass wir uns in dieses Gedächtnis hineinversetzen, das nicht einfach nur in der Erinnerung an etwas Vergangenes besteht. Die Befreiung vollzog sich natürlich in der Vergangenheit, aber derjenige, der sich in der Vergangenheit geoffenbart hat, ist der Herr, für immer.

Beinahe sofort jedoch zeigt das Volk, das wie kein anderes bevorzugt wurde, sein wahres Gesicht. Dem muss man ins Auge schauen. „Ich habe dieses Volk durchschaut: Ein störrisches Volk ist es!“56, sagt der Herr zu Mose. „Schnell sind sie von dem Weg abgewichen, den ich ihnen vorgeschrieben habe. Sie haben sich ein Kalb aus Metall gegossen und werfen sich vor ihm zu Boden. Sie bringen ihm Schlachtopfer dar und sagen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben.“57 Sie ersetzten den lebendigen Gott durch ein Detail. Hier wird glasklar beschrieben, wie Götzen entstehen: Das Kalb wird mit Gott gleich- gesetzt. Der Mensch wirft sich vor ihm nieder, bringt ihm Opfer dar und sagt:

„Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben.“

Die Erschütterung Gottes über dieses Verhalten des Volkes ist bewegend:

„So spricht der Herr: Was fanden eure Väter Unrechtes an mir, dass sie sich von mir entfernten, nichtigen Göttern nachliefen und so selber zunichte wur- den?“58 Es scheint, als wolle Gott sich vor seinem Volk, das den Bund gebro- chen hat, irgendwie rechtfertigen.

Angesichts des Verrats hätte Gott Israel zugrunde gehen lassen können. Er hätte es seiner Nichtigkeit überlassen können, seinen Launen, wie Psalm 81 andeutet: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich heraufgeführt hat aus Ägyp- ten. Tu deinen Mund auf! Ich will ihn füllen. Doch mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört; Israel hat mich nicht gewollt. Da überließ ich sie ihrem verstockten Herzen und sie handelten nach ihren eigenen Plänen.“59

55 Deut 6,4-9.

56 Ex 32,9.

57 Ex 32,8.

58 Jer 2,5.

59 Ps 81,11-13.

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Doch kaum hat er diese Worte ausgesprochen, bettelt Gott – statt sich Sei- nem Zorn zu überlassen – wieder um die Liebe Seines Volkes. Er kann gar nicht anders. „Ach dass doch mein Volk auf mich hörte, dass Israel gehen wollte auf meinen Wegen! Wie bald würde ich seine Feinde beugen, meine Hand gegen seine Bedränger wenden. Alle, die den Herrn hassen, müssten Is- rael schmeicheln und das sollte für immer so bleiben. Ich würde es nähren mit bestem Weizen und mit Honig aus dem Felsen sättigen.“60 Bald! Sobald wir auch nur einen kleinen Hinweis geben, eilt Er herbei und bemüht sich um uns, was auch immer vorgefallen sein mag. Deshalb muss man sich die ganze Geschichte Israels vergegenwärtigen, denn sie ist die Geschichte eines jeden von uns. Wenn wir sie nicht in allen Einzelheiten durchgehen, wenn wir sie nicht ganz durchschreiten, wird uns alles Mögliche Angst einjagen und wir werden schließlich sagen: „Es ist nicht möglich!“ Wie Recht hat Papst Franzis- kus doch, wenn er sagt, wir meinten, eine Befreiung aus unserem Irrtum und eine Umarmung, die uns verzeiht, seien nicht möglich.

Ohne Barmherzigkeit also gibt es für das Volk keinen Weg und ist keine Beziehung zwischen Gott und Mensch möglich. So entstand der Kampf zwi- schen der Liebe Gottes, die nie aufhört, den Menschen zu suchen, und der Verweigerung des Menschen in der Geschichte. Es ist ein Kampf zwischen Be- vorzugung und Widerstand, zwischen der Bevorzugung durch Gott und dem Widerstand des Menschen, ein Kampf zwischen dem eigenen Selbst und dem geheimnisvollen Maß, das in der Geschichte des Volkes sichtbar geworden ist.

„Das angemessene Kriterium für menschliches Handeln ist Gott [...]. Doch der Mensch versucht seit Anbeginn, seine Natur als geschöpfliches Bild, als

‚Ebenbild Gottes‘ zu entfremden, das Leben nach seinem eigenen Maß einzu- richten, was in mehr oder weniger schlauen und vielgestaltigen Formen nichts anderes ist als die jeweilige Reaktion des Augenblicks, mag sie sich als Ge- mütsverfassung, als Impuls oder als Meinung äußern. [...] Diese Lüge auf der Ebene des Bewusstseins ist auch die Versuchung für das kleine Volk, das sich Gott erwählt hat; doch hier äußert sie sich dramatischer, als Kampf zwischen sich selbst und dem geheimnisvoll Maßgebenden: Es ist, als müsste der Mensch hier auf seinem Weg sich etwas vorbehaltlos anvertrauen, das keinem mensch- lichen Maß entspricht, und als bräche Freude erst auf, wenn er sich preisgege- ben hat [welch ein Friede entsteht, wenn wir uns preisgeben!]; für gewöhnlich [dagegen] ist der Weg dazu für ihn Mühsal, Widerstand und Aufruhr.“61

Angesichts der verbissenen Sturköpfigkeit des Menschen ist Gott gewisserma- ßen gezwungen, Sein Innerstes zu zeigen, das voller Liebe und Barmherzigkeit ist.

60 Ps 81, 14-17.

61 L. Giussani, Wem gleicht der Mensch?, a.a.O., S. 23 f.

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Genau wie ihr Eltern es tut, wie es eine Mutter tut angesichts der Sturköpfigkeit ihres Sohnes: Entweder sie lässt ihn gegen die Wand laufen, oder sie muss ihre ganze Mutterliebe aufbieten. Auch wenn das Volk weiterhin Widerstand leistet, bringt Gott es nicht über sich, ihm den Laufpass zu geben: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten. Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir weg. Sie opferten den Baalen und brachten den Götterbil- dern Rauchopfer dar. Ich war es, der Efraim gehen lehrte, ich nahm ihn auf meine Arme. Sie aber haben nicht erkannt, dass ich sie heilen wollte. Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, mit den Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die (Eltern), die den Säugling an die Wange heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen. […] Mein Volk verharrt in der Treulosigkeit; sie rufen zu Baal, doch er hilft ihnen nicht auf. Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich aufgeben, Israel? [...] Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf.“62

Der Abschnitt, in dem dieser Kampf zwischen der Bevorzugung durch Gott und dem Widerstand des Menschen am dramatischsten zum Ausdruck kommt, ist wahrscheinlich das 16. Kapitel bei Ezechiel, das Papst Franziskus und Don Giussani so beeindruckt hat.

„Das Wort des Herrn erging an mich: Menschensohn, mach Jerusalem seine Gräueltaten bewusst! Sag: So spricht Gott, der Herr, zu Jerusalem: Deiner Herkunft und deiner Geburt nach stammst du aus dem Land der Kanaaniter. Dein Vater war ein Amoriter, deine Mutter eine Hetiterin. Bei deiner Geburt, als du geboren wurdest, hat man deine Nabelschnur nicht abgeschnitten. Man hat dich nicht mit Wasser abgewaschen, nicht mit Salz eingerieben, nicht in Windeln gewickelt. Nichts von all dem hat man getan, kein Auge zeigte dir Mitleid, niemand übte Schonung an dir, sondern am Tag deiner Geburt hat man dich auf freiem Feld ausgesetzt, weil man dich verabscheute. Da kam ich an dir vorüber und sah dich in deinem Blut zappeln; und ich sagte zu dir, als du blutverschmiert dalagst: Bleib am Leben! Wie eine Blume auf der Wiese ließ ich dich wachsen. Und du bist herangewachsen, bist groß geworden und herrlich aufgeblüht. Deine Brüste wurden fest; dein Haar wurde dicht. Doch du warst nackt und bloß. Da kam ich an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war gekommen, die Zeit der Liebe. Ich breitete meinen Man- tel über dich und bedeckte deine Nacktheit. Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen Bund ein – Spruch Gottes, des Herrn – und du wurdest mein [als König David Jerusalem eroberte]. Dann habe ich dich gebadet, dein Blut von dir abgewa- schen und dich mit Öl gesalbt. Ich kleidete dich in bunte Gewänder, zog dir Schuhe aus Tahasch-Leder an und hüllte dich in Leinen und kostbare Gewänder.“ Die fol- genden Verse beschreiben, wie Gott Jerusalem kleidet wie eine Braut: „Ich legte dir prächtigen Schmuck an, legte dir Spangen an die Arme und eine Kette um den Hals.

62 Hos 11,1-4.7-8.

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