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Der Spatial Turn in den deutschen Kulturwissenschaften.

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Für die Neuentdeckung des Raums stehen vor allem die französischen Philosophen Michel Foucault und Henri Lefebvre, die mittlerweile als „kanonische […] Vordenker der räumlichen Wende“1 gelten. Beide sind für Edward Soja zu Impulsgebern bei der

Proklamation eines spatial turn geworden.2 In einem scheinbar marginalen Vortrag über

Andere Räume, den Foucault 1967 im Auftrag einer Gruppe von Architekten in Paris präsentierte und der erst 1984 publiziert wurde3, führt Foucault mit dem Begriff der

„Heterotopie“ eine Kategorie ein, die die verräumlichte Struktur von Ordnungen beschreibt, denen eine strukturelle Spaltung inhärent ist. Heterotopien – als Beispiele nennt Foucault psychiatrische Kliniken, Altersheime und Gefängnisse – bezeichnen real existierende Orte, die durch eine paradoxe Verortung innerhalb und außerhalb der Gesellschaft gekennzeichnet sind und die diskursive Ordnungen vorstrukturieren. Foucault zufolge formiert und stabilisiert sich eine soziale Wissensordnung topologisch durch die Ausgrenzung eines historisch veränderlichen Anderen, also durch etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Kultur nicht mit bestehenden Diskursen erfassbar ist und daher als Außen des Denkens erklärt wird. Noch wichtiger für die Renaissance des Raumdenkens als das Konzept der Heterotopie ist vielleicht die kurze Geschichte des sozialen Raums, die Foucault in seinem Vortrag umreißt und die die jeweilige Funktion heterotoper Orte in ihrem historischen Kontext erst nachvollziehbar macht. Dieser epistemologische Abriss mündet in Foucaults – nunmehr programmatisch interpretierter – Proklamation eines anbrechenden „Zeitalters des Raums“4 . Während das

19. Jahrhundert nämlich noch ganz im Zeichen der Geschichte stand und das abendländische Weltbild dominant durch ein zeitliches Nebeneinander strukturiert gewesen sei, sei „unsere Zeit“5 eher als räumliches Nebeneinander strukturiert. Bei diesem

Übergang von der zeitlichen zur räumlichen Ordnung handelt es sich um einen jener harten

1 M. C. Frank u.a., Räume. Zur Einführung, in: Räume. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2, S. 9.

2 Vgl. hierzu: E. W. Soja, Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places,

Cambridge, Mass./Oxford, Blackwell, 1996.

3 M. Foucault, Des espaces autres, in Architecture, Mouvement, Continuité, n°5, octobre 1984, S. 46-49,

deutsche Ausgabe: Von anderen Räumen, in: J. Dünne und S. Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M., Surhkamp, 2006, S. 317-329.

4 M. Foucault, a.a.O., S. 317. 5 Ebd.

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epistemologischen Umbrüche, die Foucault in seiner Monographie Die Ordnung der Dinge6 diskursanalytisch zu rekonstruieren versuchte. Die „Episteme“7 der Gegenwart

stehen Foucault zufolge im Zeichen der ›Lage‹, sind also durch die relationale Konstitution potenziell inkommensurabler Ordnungen geprägt, die unterschiedlichste Nah- und Fernräume zueinander in spannungsreiche Beziehung setzen: „Wir leben“, so Foucaults Ausführung, „im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten“8.

Die gesellschaftliche Konstitution von Raum, die Foucaults Diskursarchäologie zugrunde liegt, wird in Henri Lefebvres Studie der räumlichen Praxis, Die Produktion des Raums9, zum zentralen Thema. Diese Studie des französischen Philosophen entstand in den 1970er Jahren in der Tradition der marxistischen Theoriebildung. Sie ist nunmehr zum zentralen Referenzpunkt der neomarxistischen Sozialgeographie avanciert, als deren prominenteste Vertreter David Harvey und Edward Soja gelten. Lefebvres Grundgedanke besteht darin, Raum nicht als „Behälter“ bzw. als bloß neutralen Rahmen zu verstehen, innerhalb dessen sich historische Ereignisse abspielen. Vielmehr konzipiert er Raum sowohl als Teil der Produktionsmittel als auch als Produkt einer sozialen Praxis, die aufs Engste mit kulturellen Machtverhältnissen verwoben ist. Raum umfasst damit stets eine physische und eine soziale Seite.

In seiner einflussreichen Studie Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory10 aus dem Jahre 1989 greift der US amerikanische Stadtplaner Edward Soja die Impulse von Foucaults Raumgeschichte sowie Lefebvres raumtheoretischen Modellbildungen auf und entwickelt sie zu einer neomarxistischen Stadtgeographie weiter. Soja kritisiert die anhaltende Dominanz des Historismus innerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung und fordert, dieser einseitigen Fokussierung mit einer stärkeren Akzentuierung der Kategorie „Raum“ zu begegnen. Dass die Bedeutung des Raums als produktiver Faktor kultureller Prozesse weit über das 19. Jahrhundert hinaus vernachlässigt wurde, basiert Soja zufolge – und hierin folgt er Lefebvre – vor allem auf der Vorstellung von Raum als einem bloßen „Behälter“ der Geschichte: In der

6 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main,

Suhrkamp, 1974.

7 Nach Foucault, die die Grenzen und Modi der Erkenntnis strukturierenden Epochenbedingungen. 8 Foucault, Von anderen Räumen, a.a.O., S. 317.

9 H. Lefebvre, Die Produktion des Raums, in: J. Dünne, S. Günzel (Hg.), a.a.O., S. 330-342.

10 E. Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/New York,

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kulturwissenschaftlichen Theoriebildung wurde der soziale Raum zumeist als statischer, von Politik und Kultur eigentümlich unberührter Rahmen verstanden, innerhalb dessen sich die Dynamik geschichtlicher Entwicklung vollziehen kann. Um dieser Einseitigkeit der „temporal master-narrative“11 zu begegnen, fordert Soja eine „weitreichende

Verräumlichung“12 des Denkens. Diese Neuorientierung dürfe allerdings nicht in einer

Umkehr des Verhältnisses von Zeit und Raum münden; vielmehr gelte es, beide Faktoren in ihrer konstitutiven Interdependenz zu erfassen. Sojas Ideal ist eine ausgewogene kritische Theorie, die geschichtliche Entwicklungen mit der sozialen Produktion von Raum, mit der Konstruktion und Konfiguration von menschlichen Geographien verknüpft. In der Tat scheint eben dieses Zusammenwirken von Raum und Zeit in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Raumdebatte zugunsten einer oftmals einseitigen Konzentration auf die Kategorie „Raum“ in den Hintergrund zu treten.13

Mit fast 20 Jahren Verspätung, bezogen auf die Entwicklung in den USA und Zentraleuropa, kommt der „spatial turn“ seit annähernd zwei Jahren in das Blickfeld der italienischen Humanwissenschaften.14 Diese Entdeckung des „turns“ in Italien geschieht

nun allerdings zu einem Zeitpunkt, zu dem in seinen „Mutterländern“ begonnen wird ihn zu problematisieren und hier und da von ihm auch als möglicher Modeerscheinung Abstand zu nehmen.

Es gehört mittlerweile fast zum guten Ton, sich über das Label (des „spatial turn“, G.F.) lustig zu machen machen, und das zumeist gar nicht so sehr um der Sache willen, sondern weil der spatial turn an einer regelrechten Inflation kulturwissenschaftlicher Wende-Bekundungen teilhat, die im Verdacht stehen, aus rein forschungsstrategischen Gründen lanciert zu werden. Mit dem spatial turn konkurrieren zeitgleich noch der performative, der iconic, der pictorial, der mnemonic, der translational turn in den Kulturwissenschaften. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es versteht sich, dass

11Ebd., S. 11. 12 Ebd.

13 Vgl. hiezu auch: W. Hallet, B. Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung, in: W.

Hallet, B. Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld, transcript Verlag, 2009, S. 11-32.

1414 Stellvertretend seien zwei der ersten Veröffentlichungen zum Thema genannt: G. Alfano, Paesaggi,

mappe, tracciati. Cinque studi su Letteratura e Geografia. Napoli, Liguori, 2010. F. Sorrentino (Hg.), Il senso dello spazio. Lo spatial turn nei metodi e nelle teorie letterarie, Roma, Armando Editore, 2010.

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angesichts dieser Fülle von turns Skepsis um sich greift, wie es um Reichweite und Nachhaltigkeit jeweils bestellt sein kann.15

Die Menge der „turns“ wird von anderen Autoren zur gleichen Zeit durchaus begrüßt und aus der Soll-Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander erscheint kein kurzatmiges wissenschaftliches Patchwork, sondern es zeichnet sich überraschenderweise die Gestalt einer aus den Einzelheiten sich erhebenden Universalwissenschaft ab:

Eine derart tiefgreifende erkenntniskritische Funktion der turns wird erst erkennbar, wenn man sie nicht nur auf ihr Vermögen reduziert, bisher unbeachtete Untersuchungsfelder zu entdecken – wenngleich dadurch neue (auch gesellschaftlich und politisch wichtige) Forschungsthemen ausgelotet werden. Doch von einem turn sollte man erst dann sprechen, wenn diese neuen Forschungsthemen auf die Ebene von Konzepten „umschlagen”, wenn Beschreibungsbegriffe zu disziplinenübergreifenden konzeptuell-methodischen Analysekategorien werden, wenn sie also nicht mehr nur Objekt von Erkenntnisbleiben, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium werden. Jegliche turns, von denen gegenwärtig und künftig die Rede ist, wären auf dieses Kriterium hin zu überprüfen – um sich eben nicht vom Wende-Strudel mitreißen zu lassen und jede neue Forschungskurve auch gleich für einen neuen turn halten zu müssen: sei es ein „ethical turn”, ein „forensic turn”, „emotional turn”, „imperial turn”, „practical turn” – ganz zu schweigen von den vielen weiteren turn-Anwärtern, die schon in den Startlöchern stehen.16

Wie also wäre der „Wende-Strudel“ zu vermeiden? Und wie ist dem Verdacht entgegenzutreten ein „turn“ sei aus „forschungsstrategischen Gründen lanciert“17? Indem

die turns von der Ausrufung neuer Untersuchungs-oder Beschreibungsgegenständen in „methodische Analysekriterien umschlagen“, die der Erkenntnis möglichst vieler verschiedener Wirklichkeitsbereiche dienen können. Ein turn wäre also ein spezifischer wissenschaftlicher Zugang zur menschlichen Wirklichkeit in umfassendem Sinne, der sich bewusst anderen Zugängen gegenüber als komplementär verhält. Das ist allerdings, genau betrachtet, eine Definition, die den Begriff „turn“- der das Gewicht auf Neuigkeit, Abgrenzung und Diskontinuität legt - überhaupt in Frage stellt. Aus welchen Gründen aber sollte man einen Begriff retten, wenn dazu dessen wesentlichen Inhalte zu negieren sind? Weil er nun mal im Umlauf ist? Dann handelte es sich allerdings tatsächlich um eine Modeerscheinung.

Mit diesen Vorbehalten dem Konzept „turn“ als solchem gegenüber soll die Frage nach dem „spatial turn“ in der deutschen Kulturwissenschaft so gestellt werden: kann der

15 J. Döring, T. Thielmann: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der

Geographe, in: T. Thielmann, J. Döring (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld, transcript , 2009, S. 12.

16 D. Bachmann-Medick, Cultural Turns, Version 1.0, in: Docupedia- Zeitgeschichte, 29.03. 2010, S. 4 http://docupedia.de/docupedia/images/5/55/Cultural_Turns.pdf

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„Raum“ als ihr primäres, oder jedenfalls eins ihrer entscheidenden Analysekriterien einen spezifischen Erkenntnisgewinn produzieren und – wenn ja – welchen?

„Der spatial turn ist ein Kind der Postmoderne“18, die sich unter anderem dadurch

auszeichnet, dass die jahrhundertelange Unterordnung des Raums unter die Zeit im Denken der kulturwissenschaftlichen Disziplinen sich umzukehren scheint und das Denken des Raums eine neue Wichtigkeit gewinnt. Zugleich kann der turn als durch seit Beginn der 90-Jahre wirksame geschichtliche, ökonomische und politische Dynamiken konditioniert verstanden werden. Seit der Auflösung des sowjetischen Blocks und mit dem Erweiterungsprozess der Europäischen Union geht es ununterbrochen um neue Grenzziehungen, aber auch um den Zerfall alter Nationen. Wir leben in einem Zeitalter neuer Abgrenzungen und militanter Raumansprüche. Gleichzeitig ist dies das Zeitalter der Globalisierung, die, zumindest ihrem eigenen Anspruch nach, durch Internet und die Internationalisierung der Märkte Enträumlichung und Entortung produziert (global village). Die Kulturwissenschaften reagieren auf diese Situation mit der Ausbildung eines kritischen Raumverständnisses.

Vernetzung als Eigenschaft von Globalisierung macht die Raumperspektive unvermeidlich. Die Zeitkategorie in ihrer Verknüpfung mit der europäischen Ideologie evolutionärer Entwicklung und deren Konzeption als Fortschrittsgeschichte ist jedenfalls nicht mehr in der Lage, solche globalen Gleichzeitigkeiten und räumlich-politischer Verflechtungen zwischen Erster und Dritter Welt zu erfassen.19

„Vernetzung (…) macht die Raumperspektive unvermeidlich“, es ist dies eine der Hauptbegründungen für den „spatial turn“ in der deutschen Kulturwissenschaft. Die scheinbare Begründung für diesen Satz lautet: „Die Zeitkategorie ( …) ist jedenfalls nicht mehr in der Lage, solche (…) Verflechtungen (…) zu erfassen“. Die genaue Lektüre beider Sätze zeigt, dass die scheinbare Begründung nichts als die tautologische Wiederholung (in negativer Form) des ersten ist. Es handelt sich hier um die Behauptung einer Evidenz von nicht Evidentem. Im Grunde bedeutet die Privilegisierung des Raums gegenüber der Zeit nichts als die Anerkennung verschiedener Entwicklungsgeschwindigkeiten (in der Zeit!) in verschiedenen Weltzonen, die durch Globalisierung und Kommunikation in Realzeit zur unmittelbaren Erfahrung werden – die es aber immer schon gegeben hat. Was erfahrbar wird, ist also eigentlich die Relativität der Zeit in unterschiedlichen Entwicklungstempi, die im „spatial turn“ als Aufwertung der Dimension des Raums ihren Ausdruck findet. In

18 D. Bachmann-Medick , Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbeck bei

Hamburg, Rowohlt, 2006, S. 284.

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diesem Sinne kann der „turn“ gelesen werden als Chiffre der Aufgabe des Anspruchs einer globalen Leitfunktion der europäischen/westlichen Kultur. Dies ist allerdings nur eine Richtung oder Strömung innerhalb des durchaus nicht homogenen „turns“, sie bewegt sich auf dem

(…) Gleis einer postmodernen und postkolonialen Geographie, die auf eine kritische Geopolitik hinarbeitet und von dort den spatial turn ausgelöst hat. Dieser entscheidende Strang der Raumdiskussion hat (…) zu tun (…) mit einem engagierten postkolonialen Ausloten von (marginalen) Räumen. Von hier aus wird die Absicht verfolgt, die eurozentrische, binäre Kartierung der Welt in Zentrum und Peripherie – durchaus im Schlepptau des Kolonialsimus – kritisch zu hinterfragen.20

Demgegenüber wäre allerdings zu erwägen, inwieweit das Raumparadigma nicht auch eine Denkform sein kann, die der Verteidigung der „Festung Europa“ gegen von der Globalisieurung ausgelöste Migrantenströme dienlich ist. Die Präsenz der Migranten lässt tatsächlich Ungleichzeitigkeit zur unmittelbaren Erfahrung werden und die Wanderungsströme „verflüssigen“ Raum. Es kommt Unordnung in die Trennung der Kontinente voneinander. In diesem Kontext kann die Hervorhebung der Bedeutung der Kategorie „Raum“ in Europa durchaus mehrdeutig sein. Sie kann sowohl „die eurozentrische […] Kartierung der Welt […] kritisch hinterfragen“, sie kann aber auch die geeignete Denkform zur Verfügung stellen, auf dem Wert des Raums (Europa) gegen die weltweite Verflüssigung oder Schrumpfung der Räume und deren menschlichen Protagonisten, den Emigranten, zu bestehen. In Deutschland ist eine – in diesem Sinne – konservative Wende innerhalb des „spatial turns“ im Moment nicht zu beobachten.21 Es

soll hier nur auf ihre prinzipielle Möglichkeit hingewiesen werden.

Eine zweite Denkrichtung innerhalb des „spatial turn“ kann als Antagonist der postkolonial ausgerichteten betrachtet werden. Die postkoloniale problematisiert den Fortschrittsgedanken, soweit er europäische Normen und Werte universalisiert und erkennt mit dem „Raumschild“ die Relativität oder relative Autonomie der Zeiten und Entwicklungen in verschiedenen Räumen an, negiert aber nicht die Kategorie der Entwicklung als solcher. Raum ist hier kein geographischer sondern ein entschieden

20 Ebd., S. 290.

21

Für Italien scheinen derartige Tendenzen schon zu bestehen. In ihrer Veröffentlichung Revitalizing Electoral Geography diskutieren B. Warf und J. Leib, inwieweit die „Lega Nord“ Impulse aus dem spatial turn für ihre Wahlstrategie fruchtbar macht. Vgl. B. Warf , J. Leib, Revitalizing Electoral Geography, London, Ashgate Publishing Limited, 2012.

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politischer Begriff und meint im Grunde der kolonialen oder imperialistischen Herrschaft entzogene Räume. Eher „Freiräume“, als die Raumdimension überhaupt. Die andere Linie innerhalb des „spatial turn“ denkt rigoros und setzt das „Raumparadigma“ an die Stelle des angeblich über Jahrhunderte dominierende Paradigma der Zeit und wendet sich damit gegen evolutionistische Vorstellungen überhaupt22. Sie bewegt sich folglich im Umfeld

des Anfang des 90-er Jahre verkündeten „Endes der Geschichte“23 und damit in der Nähe

eindeutiger Befürworter der Globalisierung – der andererseits unter dem „label“ des „spatial turn“ kritisierten „Raumvernichterin“.

Und doch ersccheint der spatial turn mit seinem Raumdenken wiederum als Nachfolger des linguistic turn, insofern er das Synchrone über das Diachrone stellt, das Systemische über das Geschichtliche, […]. Auch im spatial turn werden Gleichzeitigkeit und räumliche Konstellationen hervorgehoben und eine zeitbezogene oder gar evolutionistische Vorstellung von Entwicklung zurückgedrängt.24

Hier scheint die, gegenüber der politischen tiefer liegende, epistemologische Ambivalenz des „spatial turn“ auf. Einerseits wurde mit der Wende zum Raum in der deutschen Kulturwissenschaft die Hoffnung verbunden, mit der Einführung der Dimension der Ausdehnung der Wirklichkeit im Raum ihre Reduktion auf zeichenhafte Repräsentation im „linguistic turn“25 und den daraus folgenden solipsistischen Diskurstheorien zu

überwinden. Andererseits liefert die Wahrnehmung des Wirklichen als unbewegter Konstellation oder Konfiguration im Raum nur dessen abstraktes Modell, bestenfalls eine „Momentaufnahme“, unfähig, Bewegungen oder Prozesse zu konzeptualisieren. Raum und Zeit hingegen wären in ihrer Beziehung zu betrachten. Wenn Raum sich als menschlicher erst, wie schon Lefebvre betonte, durch die Praktiken und Bewegungen im Raum konstituiert, dann ist ihm stets eine spezifische Zeitlichkeit eingeschrieben:

22So schreibt E. Soja im Klappentext zu Thirdspace, seiner eigenen Aufforderung, Zeit und Raum nicht

gegeneinander auszuspielen widersprechend: „Contemporary critical studies have experienced a significant spatial turn. In what may be seen as one of the most important intellectual and political developments in the late twentieth century, scholars have begun to interpret space and the spatiality of human life with the same critical insight and emphasis that has traditionally been given to time and history on the one hand, and to social relations and society on the other.“ E. Soja, Thirdspace. a.a.O., (Anm. 2).

23Vgl. hiezu: F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York, Penguin,1992. 24 Bachmann-Medick, a.a.O., S. 284 f.

25 Der Begriff “linguistic turn“gründet in der Philosophie Richard Rortys aus den 60er Jahren und beschreibt

eine „kulturgeschichtliche Neuorientierung“ der Geisteswissenschaften. Kurz gesagt ist das wichtigste Merkmal des “linguistic turn” die Fokussierung der Philosophie, später unter ihrem Einfluß der anderen Geisteswissenschaften, auf die Sprache als wirklichkeitstragend und zugleich wirklichkeitsproduzierend. Oder auch: Wahrnehmung von Wirklichkeit produzierend.

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Raum und Räumlichkeit muss, um überhaupt gedacht werden zu können, erfahren werden. Dies bedeutet: die Bewegungen, die wir mit unseren Körpern und als Körper im Raum vollziehen , erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, individuell als Raum verstehen.26

Raum als Funktion menschlicher Bewegung wird von den flexibleren Vertretern des „turns“ letztlich als Modus der bewussten Wahrnehmung von sich in der Zeit vollziehender Bewegung, von Ortswechsel verstanden. Als das Bewusstsein eines zugleich hier- und nicht hier-Seins. Das finden wir ähnlich – in seiner Begrifflichkeit – schon bei Hegel:

Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist.27

Diese Dimension des gleichzeitigen Hier und nicht-Hier der Bewegung ist der Raum. Der „spatial-turn“ scheint verankerter zu sein in der europäischen Geistesgeschichte, als er selbst gemeinhin zugesteht. Seine undogmatischen Vertreter haben verstanden, dass es nicht darum geht, Raum alternativ zu setzen zur Zeit, sondern dass die für uns bedeutenden Räume das sind, was sie immer schon waren: von menschlicher Bewegung in Zeit und Geschichte geschaffene Räume.

26H. Böhme, Topographiender Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, J.B.

Metzler, 2005, S. XV.

27 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, in: G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden, Band VI, Frankfurt am

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