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Neue Leben von Ingo Schulze als Schelmenroman: Formelle Aspekte und wirkungsästhetische Funktion der pikaresken Tradition,

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Neue Leben von Ingo Schulze als Schelmenroman:

Formelle Aspekte und wirkungsästhetische Funktion der pikaresken Tradition

Die literarische Tradition und die zeitgeschichtliche Kontingez

In Neue Leben von Ingo Schulze ist das Erbe der literarischen Tradition Deutschlands zuerst in der Form des Briefromans zu erkennen. Die Wahl einer ruhmreichen deutschen Tradition – man denke z. B. an Goethe und Hölderlin – könnte an die Absicht des Autors denken lassen, eine glanzvolle gemeinsame literarische Vergangenheit des vereinten Deutschlands zu verherrlichen. Denn die Art und Weise der Repräsentation gilt als eine Kommunikation an sich, die sich nicht in der Darstellung einer Wirklichkeit erschöpft. Diese Ansicht wird z. B. von Italo Calvino vertreten, wenn er

behauptet, die Möglichkeiten eines literarischen Kunstwerkes übersteigen die Repräsentation der Welt.1 Wir können Calvino durchaus weiter zustimmen, wenn er folgend behauptet, nur der Stil

vermittle ästhetisch, moralisch und historisch angemessene Ergebnisse.2 Lassen wir diese

Überlegung für Neue Leben gelten, dann erkennen wir, dass die Übernahme einer ruhmreichen gesamtdeutschen Tradition hier eine ganz andere Richtung einschlägt, als jene einer nationalen Verherrlichung. Dies wird deutlich, wenn man etwas genauer beobachtet, wie sich dieser Bezug auf ein deutsch-deutsches literarisches Erbe gestaltet. Das tradierte Modell des Briefromans wird nämlich von Formprinzipien und Kommunikationsmodalitäten anderer literarischer Traditionen kontaminiert, die unter z. T. sehr verschiedenen, ja sogar entgegengesetzten gattungspoetischen Voraussetzungen stehen, und die Wirkung dieser Vermischung entfernter Traditionen ist eher desillusionierend als idealisierend. Das Verhältnis zwischen der Artikulierung zeitgeschichtlicher Kommunikation und den Modalitäten der narrativen Darstellung erscheint also in Neue Leben zwar sehr eng, aber die Nähe signalisiert mehr Widersprüchliches und Fragwürdiges als Harmonisches und Einleuchtendes.

Zuerst gibt es markante Unterschiede zu dem Briefroman, der in der Epoche der Empfindsamkeit entstand. War der Briefschreiber des ursprünglichen Modells auf seine Innerlichkeit konzentriert, so zeigt sich Enrico Türmer fast ausschließlich an der äußeren Wirklichkeit interessiert. Das passiert eigentlich in den meisten Briefen und zwar in denen, die er dem alten Freund Johann schreibt. Hatte

1 Italo Calvino, Usi politici giusti e sbagliati della letteratura, in: ders., „Una pietra sopra. Discorsi di letteratura e

società“, Mondadori, 1995, S. 352

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der Briefschreiber damals einen klaren Blick der gesellschaftlichen Verhältnisse, drückte er darin wie beim Werther sogar eine Anklage an die geltenden gesellschaftlichen Normen aus, so richtet Türmer zwar seine Aufmerksamkeit hauptsächlich darauf, was er in der Gesellschaft erlebt, doch zeigt er kein Interesse an ihr Kritik zu üben. Wollen wir ferner den Unterschied auf eine Formel reduzieren, dann können wir feststellen, im traditionellen Briefroman wird hauptsächlich

kommentiert und reflektiert, im Neuen Leben vor allem beschrieben. Wenn sich Türmer über etwas Gedanken macht, dann um Aufgaben angemessen zu erledigen, und nicht um sich zu fragen, ob sie richtig oder falsch sind. So sind der Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in seinen Beschreibungen und Überlegungen nicht explizit thematisiert.

Die z. T. minuziösen Beschreibungen und die für Johann meistens ins Uferlose mündenden

Erzählungen („Geschichten beeindrucken ihn immer“3, teilt er in einem Brief Vera seiner Schwester

mit), lassen die Vermutung hegen, dass der Erzähler nicht in der Lage ist zu verstehen und zu deuten, was er gerade erfährt.4 Obwohl er sich bemüht, so ausführlich wie möglich über Figuren

und Ereignisse zu berichten, zerfließen sie vor seine Augen, ohne dass er sie in einen formalen und sinngemäßen Zusammenhang bringen kann. So sind die jeweiligen Adressaten der Briefe die einzigen Orientierungspunkte einer zeitgeschichtlichen Erzählung, die sonst kaum die

Eigenschaften einer geschlossenen Darstellung besitzt: Wir erkennen z. B. keine Intentionalität in der Auswahl und in der Zusammensetzung des Stoffes.5 Die Briefe als Medium der Kommunikation

erlauben also ihm, seine Erfahrung in einer losen Form zu gestalten, die keinen Sinnzusammenhang erkennen lässt. Jeder Brief entsteht aus beliebigen Anlässen, die Türmer in einem für ihn plötzlich bezaubernden aber unbegreiflichen Alltag angeboten werden. Es ist daher nicht weiter verblüffend, wenn seine Erzählungen meistens wie Anekdote aussehen, die gar keine Pointe haben.

Die bruchstückhafte und unzusammenhängende zeitgeschichtliche Darstellung, die sich aus den jeweiligen Briefen herausbildet, können wir wieder im Sinne von Italo Calvino auffassen und darin eine literarische Tradition erkennen, die dem Leser eine für sie charakteristische Kommunikation anbietet. Wenn Selektion, Komposition und Möglichkeit einer Sinnvermittlung eine klassizistisch-realistische Poetik kennzeichnen, so deutet die fragmentarische und unzusammenhängende Romanform auf eine manieristisch-barocke Poetik hin. Folglich können wir annehmen, dass in

3 Ingo Schulze, Neue Leben, Deutscher Taschenbuch Verlag, Berlin, 2007, S. 33

4 Wie Türmer schlecht Barrista – den Kapitalist aus dem Westen – schätzen kann, ist eins der deutlichsten Beispiele,

wie er die Regel und Lebensweisen nach dem Fall der Mauer auf eigene Weise bzw. nicht versteht. Er nennt ihn „einen Logiker und Philosophen“ und übersieht seine Geldgier und seine Scharlatanerie. Selbstverständlich versteht er auch nicht, warum er seine „Hotelzimmergruft“ immer wieder verlässt und bevorzugt, bei ihm zu Hause als Gast zu wohnen. Nicht mal wenn Michaela, seine Freundin, ihn verlässt und eine Beziehung mit Barrista anfängt, geht ihm ein Licht auf. Ibidem S. 350

5 Iser, Wolfgang , Akt des Fingierens, in: (Hrsg.) Dieter Heinrich, Wolfgang Iser, „Funktionen des Fiktiven“. Fink,

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Neue Leben auf die Form des Briefromans zurückgegriffen wird, um gerade jene formellen

Eigenschaften zur Geltung zu bringen, die ein wirres und schwer verständliches Bild der Zeit zur Darstellung zu bringen. In diesem Sinne scheint der Bezug auf einige Merkmale des

Schelmenromans durchaus berechtigt. Denn genauso so wie der Schelm erkennt Enrico Türmer nicht die Regel des herrschenden Systems. Daher muss er sich in einer Welt durchschlagen, die er nicht oder auf eine eigene sonderbare Weise versteht.6

Diese Schwäche des Helden, der handelt, ohne die Wirkung und den Sinn seiner Taten abschätzen zu können, verleiht seinen Briefen jene Eigenschaften, die sie mit dem Prädiktat der Authentizität auszeichnen können, auch wenn sie aufgrund einer schelmischen Erzählstruktur eine deutlich fiktive Kommunikationsform etablieren. Denn die Orientierungslosigkeit und das

Sich-durchschlagen-müssen in einer fremden Welt sind authentische Aspekte der zeitgeschichtlichen Erfahrung der Bürger der ehemaligen DDR nach dem Mauerfall. Es sind also Schwächen, die dank eines fiktiven Modells dargestellt und entblößt werden können. Um von einer zeitgeschichtlichen Kontigenz zu berichten, greift der Erzähler ausgerechnet auf einige Merkmale einer Figur der literarischen Tradition zurück. Denn die Schwächen im Orientierungssinn und im Verstehen des Schelms sind sehr geeignet, das schwierige widersprüchliche Leben der Bürger in den neuen Bundesländern angemessen zur Darstellung zu bringen. Durch die Verwebung von Elementen des Briefromans und des Schelmenromans wird es also möglich, eine Form und eine Sprache zu finden, die der Darstellung eines unsicheren zeitgeschichtlichen Zustandes angemessen sind.

Eine Poetik der Unterlassung und des Versäumnisses

Von diesen gattungspoetologischen Voraussetzungen ausgehend können wir nicht erwarten, in

Neue Leben explizit ein kritische Worte über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen

Aspekte der Zeit zu finden. Da sich die zeitgeschichtliche Darstellung durch den Schelm durch Schwächen des Verstehens charakterisiert, werden wir kaum einer totalisierenden Objektivation noch einer kritischen Entlarvung begegnen. Der Blickwinkel von Türmer auf die Zeitgeschichte

6Richard Alewyn schreibt dem Schelmen einige typische Merkmale zu: eben die Eigenschaft, die Welt auf eigene

Weise bzw. überhaupt nicht zu verstehen; eine einseitige Auswahl dessen, worüber er berichtet; eine ins Episodische verfallene Erzählung; der Held als einziges Verknüpfungselement; eine soziale, ästhetische und ethische

Unvollkommenheit; die naive Fähigkeit, Schwächen, Fehler und Laster der Mitmenschen zu entlarven. Diese Eigenschaften können wir ebenso bei Enrico Türmen erkennen und somit, ihn mit Recht im Gefolge der pikaresken Heldentradition betrachten, wie ich in diesem Beitrag zu zeigen versuche.

Alewyn, Richard: Der Roman des Barock. In: Hans Steffen (Hrsg.): Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock

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zeugt eher von den zeitlichen und räumlichen Verhältnissen, in denen er sich befindet.7 Gegen seine

Absicht, die Welt nach dem Mauerfall so genau wie möglich für Johann darzustellen und das Dargestellte als ein geradliniges und zweckmäßig funktionierendes Systems zu gestalten, verfällt Türmer in eine blinde und naive Position, aus der jegliche Kritik unmöglich ist. Gerade das drastische Perspektivische seiner Position, der Gründliches und Bedeutendes entgeht, macht die zeitgeschichtliche Darstellung fragwürdig und stiftet beim Leser Unsicherheit. Denn die Figur eines schwachen Helden wie Enrico Türmer gründen in einer Poetik der Unterlassung und des

Versäumnisses, die keine angemessenen Ausdrucksmittel für ein vertrauenswürdiges Wort zur Verfügung stellt. Angemessene Ausdrucksmittel können nur eine latente, potentielle Dimension seiner Briefe sein, denn nicht das gilt, was der Held aus seinem Blickwinkel erkennt, sondern der Weg ins Perspektivische selbst. Das Perspektivische an sich eröffnet ihm und dem Leser eine Erfahrung mit der Sprache, die sich in der Sprache selbst nicht machen lässt. Aus dem Unvermögen des Briefschreibers selbst ergibt sich eine produktive Herausforderung sowohl für den fiktiven Briefschreiber als auch für den Leser: Beide müssen die Grenzen der Sprache als getreuem und zuverlässigem Darstellungsmittel in Kauf nehmen. Oder anders formuliert: Sie müssen sich mit der Kluft auseinandersetzen, die zwischen der Beschränktheit des Narrativen und der Konsistenz und Komplexität des Geschichtlichen entsteht.

Als Schreiber, der nicht Verstandenes oder Missverstandenes mitteilt, ist er genauso wie ein etwaiger Adressat darum bemüht, in seinen Briefen Bedeutendes vom Unbedeutenden, Aussagekräftiges vom Belanglosen zu unterscheiden. In der Tat erscheint der Briefschreiber Türmer vor allem als ein Leser seiner selbst.8 Das geht auf unmissverständliche Weise allein schon

daraus hervor, dass er immer wieder Briefe schreibt, obwohl er sich wohl dessen bewusst ist, dass sie nicht empfangen bzw. gelesen werden. Es wird übrigens auch sonst nie Bezug auf Antworten von Johann, Vera und Nicoletta genommen. Warum er so einseitige Briefwechsel duldet, ist deutlich genug: Er braucht die von ihm selbst verfassten Briefe, um als lesender Schreiber, die eigene Gegenwart sowie die eigene Vergangenheit wiederzuerkennen. So bringen ihn die Briefe an Nicoletta z. B. dazu, Erinnerungen an seine Jugend- und DDR-Zeit wach zu rufen. In den

unordentlichen und zufälligen Erinnerungen findet er nicht nur einen Weg, eine Zeit

wiederzufinden, die plötzlich durch den Mauerfall und die Wiedervereinigung in Vergessenheit

7 Nicht mal der fiktive Herausgeber ist in der Lage, Breiteres und Genaueres anzubieten, denn er ist genauso wie

Türmer bloß auf bagatellartige Bemerkungen konzentriert. So lassen schon seine erste Anmerkungen den Leser daran zweifeln, sie könnten für ihn eine Hilfe darstellen, den Kontext der erwähnten Begebenheiten besser zu begreifen. So z.B. sind die ersten Hinweise auf seinen beschränkten Blickwinkel schon in den Fußnoten enthalten, die in den ersten Briefen Türmers erscheinen: Die Tatsache, dass Enrico von ihrer Schwester Heinrich genannt wird, oder dass die Geschwister ihre Mutter „Mamus“ nennen, deutet sicher nicht auf einen Herausgeber, der über eine souveräne und klare Perspektive verfügt.

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geraten ist. Durch die Erzählungen von seiner Vergangenheit hat er vor allem die Möglichkeit, die vergangene und die aktuelle Denk- und Lebensweise nebeneinander zu setzen. Die so einander fremd gewordenen Wirklichkeiten werden in parallelen Perspektiven angeboten, die den Abstand zwischen der Welt der DDR vor und nach dem Mauerfall unterstreichen.

Stilmittel für das Individuelle und Vielfältige

Nicht zufällig entstehen seine Erinnerung an die Vergangenheit aus einer dialektischen Wahrnehmung der Gegenwart: Sie entspringen aus dem Kontrast zur ihr, und im Vergleich zueinander werden beide anders erlebt. Sie werden sozusagen neu entdeckt. Es handelt sich aber keinesfalls um eine Art Ostalgie oder sogar eine laudatio temporis acti. Türmer ist zu begeistert von der Gegenwart, um sich nach der Vergangenheit in der DDR zu sehnen. Aber er überlässt sich mehr und mehr dem Genuss der Perspektivenvielfalt, des freien Erzählens und der genau inszenierten Rede für seine jeweiligen sicherlich nicht realen Adressaten. Die perspektivische Strukturierung der jeweiligen Briefe lässt ihn nicht mehr aber auch nicht weniger erfahren, als was jede Perspektive an eigenen Erkenntnissen und eigenen Stellungnahmen hervorbringt. Diese Erfahrung als Briefschreiber kann man wohl als Kern einer Entwicklung betrachten, die in Neue

Leben nicht direkt vorgezeichnet, aber sicherlich gegründet wird: die Entwicklung zur

Emanzipierung von dem in die Neuen Bundesländer aus dem Westen importierten Gesellschafts- und Lebensmodell. Durch die ästhetische Erfahrung des Perspektivischen wächst langsam das Bewusstsein des Oberflächlichen und Spielerischen als prägende Form des menschlichen Lebens. So kann auch keine Erkenntnis dessen, was Sinn und Zweck kapitalistisch regen Treibens ist, in die Tiefe einer grundlegenden Position gehen, die Allgemeingültigkeit beanspruchen darf. Jede

Erkenntnis bleibt gleichberechtigt neben den anderen. Alles ist Oberfläche, aber genau diese Oberfläche ist unerschöpflich, denn sie enthält die Spuren dessen, was nicht direkt zur Sprache kommt.

In dem verschwommenen Status einer Spur versteckt sich jede mögliche Erklärung in einer darstellenden Perspektive, die sich auf das Äußere beschränkt. Sie ist sozusagen bloß eine Potentialität, die noch nicht formuliert ist. Sie zeigt sich frei von einem Vorwissen, das ihren unthematisierten Sinn bedingt9 und also auch frei für die Möglichkeit, etwas Anderes zu sagen. Die 9 “Indem sich Sprecher und Hörer frontal miteinander über etwas in einer Welt verständigen, bewegen sie sich innerhalb

des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt; die bleibt den Beteiligten als ein intuitiv gewusster, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken... Als Totalität, die die Identitäten und lebensgeschichtlichen Entwürfe von Gruppen und Individuen ermöglicht, ist sie nur präreflexiv gegenwärtig.”

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne: zwölf Vorlesungen, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a. M, 1988, S. 348.

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Darstellung des bloßen Geschehens, der Exteriorität also, führt den Leser dazu, auf der Materialität, auf der Oberfläche der Zeichen zu verweilen, ohne sich sofort auf Erklärungen festzulegen, die verdeckte Tiefenschichten ans Licht bringen sollen.

Von dieser Überlegung ausgehend übernimmt der berichtende Stil der Briefe Türmers eine Funktion, die nur im Bereich des Dargestellten als Unvermögen kritischen Verstehens zu

betrachten ist. In der darstellenden Funktion bekundet er jedoch eine bewusste Strukturierung der Erzählung. Genauer gesagt: Türmer erscheint mit dem Gewand des Schelms, damit sich seine Erfahrungen im Vereinigten Deutschland das Verstehen, noch offen also erklärungsbedürftig zeigen. Dadurch können wir erkennen, wie das literarische Modell des Schelms aus einer Dialektik mit der Gegenwart entsteht. Denn die schelmische naive Perspektive verfremdet die gängige zeitgeschichtlichen Darstellung unmittelbar nach dem Mauerfall und zeigt, wie sie

erneuerungsbedürftig geworden sind.10

Die ostentativ verblendete, auf das Äußere konzentrierte Erzählhaltung zeigt sich im Endeffekt als ein Narrativ über das Perspektivische, das sich dialektisch mit den gängigen Diskursen um die Wende auseinandersetzt, die zu Einheitlichkeit neigen.11 Die für den Schelmenroman typische

Verfremdung der herrschenden Betrachtungsweise bringt somit eine dialogische Eigenschaft zu Tage. Diese drückt sich durch die Verweigerung aus, die Vielfalt der Wirklichkeit auf das herrschende uniformierende Bild zu reduzieren. Dieses Narrativ zeigt u. a. die Notwendigkeit, Stilmittel für das Individuelle und Vielfältige zu suchen, nachdem die deutsche Einheit zur Einheitlichkeit der Diskurse geführt hat: Sie sind beinahe ausnahmslos von einem triumphierenden Ton geprägt, der das kapitalistische und soziale Modell der BRD preist, indem es totalisierend für

10 Ostdeutsche und Ostdeutschland sind auch nach zwanzig Jahren deutscher Einheit ein umstrittenes Politikum. Eine

Gruppe behauptet, dass das Problem deutsche Einheit schon vor Jahren erfolgreich erledigt wurde; die "blühenden Landschaften" breiten sich vor uns aus. Für andere ist der Osten Deutschlands weiter ein Synonym für abgehängte Regionen und entleerte Landstriche ohne Zukunft, für eine Transfergesellschaft, soziale Unzufriedenheit und Rechtsextremismus. Eine dritte Gruppe kämpft für eine neue Zukunft ostdeutscher Regionen jenseits alter Angleichungsideologien und eingefahrener Umgestaltungsstrategien. Ostdeutschland erscheint hier als

"avantgardistisches Experimentierfeld", das auch dem Westen des Landes einiges zu bieten und vorzumachen hat. Offenkundig spielen in der Formierung dieser Bilder, Beurteilungen und Zukunftsaussichten die Massenmedien eine wichtige, vielleicht sogar zentrale Rolle. Seit einigen Jahren wird intensiver darüber diskutiert, wer, wo und wie über Ostdeutschland und die Ostdeutschen spricht, und welche Folgen das für die Gestaltung der deutschen Einheit und nicht zuletzt: für die Zukunftschancen der ostdeutschen Länder und ihrer Menschen hat.

“... Unter diesen Voraussetzungen ist die dialogische Machtart des Schelmenroman bzw. die Umkehrbarkeit der Betrachtungsweise, die aus ihr folgt, auch ein Hinweis darauf, dass die Vielfalt der Erscheinungen keiner Ideenlehre gehört.“

Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch, Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2011.

11 „ ... Unter diesen Voraussetzungen ist die dialogische Machtart des Schelmenroman bzw. die Umkehrbarkeit der

Betrachtungsweise, die aus ihr folgt, auch ein Hinweis darauf, dass die Vielfalt der Erscheinungen keiner Ideenlehre gehört. Der Kipp-Bild der verkehrten Welt zeigt, dass die idealistischen Vereinheitlichung der Welt nicht der in sich widersprüchlichen und vielfältigen Realität des menschlichen Zusammenleben gerecht wird“

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Gesamtdeutschland geltend gemacht wird. Der Rekurs auf die Tradition des Schelmenromans entsteht in Neue Leben also aus der Notwendigkeit, für die Zeit der Wende angemessenere aktuellere Sprach- und Erzählformen zu finden.

Der blinde Fleck jedes Sehens

Die Erfüllung einer sozusagen zeitgeschichtlichen Aufgabe des Ästhetischen geht in Neue Leben aber scheinbar aporetisch in die Ausführung einer allgemeinen kritischen Leistung über: Dank des Ästhetischen erfahren wir, wie keine Darstellung der Zeitgeschichte – jene der diskursiven

Vereinheitlichung sowieso nicht – der vielfältigen Wirklichkeit gerecht werden kann. Denn gerade durch die Fiktionalisierung der zeitgeschichtlichen Diskurse – so z. B. jener der

Geschichtsschreibung oder der Publizistik – zeigt sich, wie es unmöglich ist, die Wirklichkeit der Geschichte restlos in die Wirklichkeit der Sprache zu verwandeln oder, anders formuliert, die Erfahrung des Erzählens mit der geschichtlichen Erfahrung gleichzusetzen. Somit wird Literatur eine Praxis, in der wir nach darstellender Angemessenheit streben, aber durch die wir diese Angemessenheit als eine Unmöglichkeit erfahren. Es geht also in der Literatur darum, einen Versuch zu unternehmen, wohlwissend, dass ein Scheitern unabwendbar ist.

In diesem Sinn können wir die Funktion der fiktionalen Geschichtsschreibung darin erkennen, dass sie den Leser kritisch gegenüber jeglicher vereinheitlichenden und totalisierenden

zeitgeschichtlichen Darstellung macht. Und das geschieht, indem sie Paradoxa inszeniert, die in nicht literarischen Diskursen ausgeblendet werden. Der Historiker ist z.B. darum bemüht, seinen Bericht als objektivierte und daher zuverlässige Darstellung der Zeit erscheinen zu lassen. Er tut das, indem er seine Position ausklammert, damit – wie man metaphorisch sagt – die von ihm berichteten Fakten aus sich selbst sprechen. Das heißt aber zwangsläufig, gerade das zu vertuschen, was die fiktionalen Erzählvorgänge des Schelmenromans zwar implizit doch ostentativ genug zu Tage bringen: die untrennbare Zusammengehörigkeit von Beobachter und Beobachtetem, die ausschlaggebende Rolle der Erzählperspektive bei der Konstruktion und der Sinngebung der geschichtlichen Erzählung.

Jeder kann nur aus seiner räumlichen und zeitlichen Perspektive die Welt beobachten und auf seine eigene Weise verstehen und erklären. Das ist es, was die subjektive und adressatenbedingte

Perspektive, die mal rein beschreibende, mal naiv kommentierende Erzählgeste bezeugt. Somit wird der blinde Fleck jedes Sehens und Handels gerade durch das Ästhetische aufgedeckt. Und dadurch kommt jene kritische Dimension zu Tage, die nicht-fiktionalen Texten – so z.B. jenen der

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Geschichtsschreibung oder der Pubblizistik – verwehrt ist: Die Offenlegung ihrer Grenzen, der Beschränkung der Perspektive und der zeitlichen und räumlichen Bedingtheit der Erkenntnis.

Da Berichterstatter prinzipiell die Aufgabe des Informierens haben, sind sie zum Vollzug einer Handlung verpflichtet, die nicht mit der Überlegung zu harmonisieren ist, wie sie informieren. Sie können also nicht eine Handlung ausführen und ihr gleichzeitig kritisch gegenüber stehen. Sie können nicht im selben Zug die informative Geste vollziehen und sie dann auch in Frage stellen, sie anbieten und zurückziehen. Dieses kann eine Eigenschaft bloß der fiktionalen Diskurse sein, aber nicht derjenigen, die sich pragmatisch bei der Ausführung einer bestimmten Aufgabe bewähren müssen. Viele der sonst üblichen dialektischen Oppositionen können daher in der Literatur aufgehoben werden. Gegensätze wie Wahrheit/Lüge, Richtiges/Falsches, Erfahrung/Einbildung usw. sind bei ihr willkommen. Denn sie üben gerade durch das Geltenlassen von Widersprüchen eine ästhetische Funktion aus. Das ästhetische Bewusstsein, das Gegenteiliges gelten lässt, unterminiert z. B. in Neue Leben jene dialektische Auseinandersetzung zwischen

Gewinner/Verlierer, die Ingo Schulz selbst als eine fragwürdige Veränderung der Jahre 1989/90 diagnostiziert hat.12

Das Spiel der Freiheit von gesellschaftlichen Denk- und Machtstrukturen

Das, was als Verlierer und Gewinner-Dialektik der Wiedervereinigung bezeichnet wurde, entlarvt sich in Neue Leben bloß als Spiel: das Spiel des Geld-Machens. Die Untauglichkeit Türmers hängt mit seiner Unfähigkeit zusammen, gerade dieses Spiel zu spielen. Wie hätte er denn auch mithalten können, wenn er in der DDR groß geworden war und in ganz anders gearteten Spielen versucht hatte, erfolgreich zu werden? Es wäre so, als ob wir Michael Schumacher zur Tour de France schicken würden. Er hatte sich tatsächlich intensiv mit dem Gedanken beschäftigt, wie er durch die Karriere eines oppositionellen Schriftstellers zwar nicht unbedingt zu Geld, doch wenigstens zu Ruhm gelangen konnte. Er ist in diesem Sinne weder besser noch schlechter, weder dümmer noch klüger als Barrista und alle anderen, die aus dem Westen nach Altenburg kommen. Nur diese dürfen jetzt auswärts genauso spielen, wie sie bei sich zu Hause fleißig üben könnten. So muss er sich nach dem plötzlichen Mauerfall in einem Wettbewerb bewähren, für den er nicht ausgebildet ist. Aber Türmer macht trotzdem fleißig das, was er kann, um mitmachen zu können, auch wenn er

12 „[...] scheint es mit naheliegend zu beobachten, dass die Veränderungen von 1989/90 das Denken in

Gewinner-Verlierer Relationen befördert haben. In den Neunzigern vollzieht sich eine Verschiebung, die aus einem Verhältnis eine Eigenschaft macht“

Ingo Schulze, Das Wort für die Sache halten. Über den begriff Verliere, in: „Was wollen wir?“, Essays, Berlin Verlag, Berlin, 2009, S. 287-313 (295)

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kaum begreift, was passiert. Der Passivität des Sich-Anpassens stellt er die Verschärfung seines Beobachtungsvermögens entgegen, dessen Leistung wir dann in seinen Briefen bewerten können.

Türmers Beobachtungen und ihre Niederschrift versprechen zu zeigen, wie er an dem von den Westlern importierten Wettlauf teilnehmen kann. Seine Niederlage ist darum ein leicht zu prognostizierendes Ergebnis: Bei einer ihm so fremden Spielart, muss es eine Debakel sein. Wir sind aber keinesfalls berechtigt, ihm nur deswegen die Eigenschaft des absoluten Verlierers zuzuschreiben. Es würde bedeuten, den Fehler zu begehen, den wir dank des Stils bzw. der inszenierten sprachlichen und perspektivischen Wirklichkeit des Romans erkennen können: die Verabsolutierung einer partiellen Sicht der Wirklichkeit. Die aus den Westen importierte

Anschauung der Welt als ein Schlachtfeld, das viele Opfer fordert, kann nur eine, auch wenn sie die herrschende ist, unter verschiedenen möglichen sein. Das ist am Ende die Erkenntnis, die wir aus den Briefen Türmers gewinnen können.

Wenn es nicht nur ein Spiel gibt, gibt es auch keine absoluten Gewinner und Verlierer: Alles verändert sich durch das Spiel, das man gerade spielt. So artikuliert sich die zeitgeschichtlichen Position in Neue Leben durch das Zeigen, wie ein Schelm als Verlierer gilt, nur weil er aus der verabsolutierenden Perspektive der Mächtigen betrachtet wird. Wenn wir aber z. B. denken, dass er als Außenseiter das Spiel der Freiheit von gesellschaftlichen Denk- und Machtstrukturen spielen könnte, so eröffnet sich die Möglichkeit, die Rollen der Verlierer und der Gewinner anders zu verteilen. Der Schelm zeigt sich also als absoluter Verlierer nur aus einer Perspektive, die

autoritativ Allgemeingültigkeit beansprucht. Die Fähigkeit, sich immer wieder auf ein neues Spiel einzulassen, erlaubt ihm, dem autoritativen Anspruch der Gewinner, ihr Spiel zu verabsolutieren, zu entgehen. Anstatt ein bestimmtes Spiel durchsetzen zu wollen, scheint er einfach Lust am Spielen zu haben, ohne sich ein Ziel als Aufgabe zu setzen. Er zeigt dadurch, dass sowohl die Rolle des Verlierers als auch jene des Gewinners vorläufige Erscheinungen sind, die sich bald ändern können, sobald sich auch das Spiel ändert.13 Ein Mensch kann also Vieles nebeneinander sein. Es ist daher

nicht zulässig, ihm nur jene Eigenschaften zuzuschreiben, die ihn vorläufig charakterisieren. Wird die Zeitgeschichte aus dieser schelmischen Perspektive und aus diesem Bewusstsein des

Vielfältigen und Kontingenten dargestellt, dann gewinnen wir eine Sicht auf die deutsche

Wiedervereinigung, die bislang versteckt geblieben war. Denn gerade in der Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung zeigt sich, wie die Welt bzw. das Weltbild der Westler, sich unbeschränkt

13 Wie die Dialektik Gewinner/Verlierer in der Literatur problematisiert wird, zeigt Ingo Schulze am Beispiel von

„Hans im Glück“ der Brüder Grimm: „Das Großartige an diesem Märchen ist, dass sich hier offensichtlich zwei Wahrheiten in die Quere kommen, ohne das sich der Konflikt lösen ließe“

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durchsetzt und „jede andere Betrachtungsweise [...] als unrealistisch [...], als sentimental, als Stoff für Weihnachtmärchen und Sonntagsreden [abgetan wird]“14

Neue Leben bietet uns die Möglichkeit, eine neue Sicht der ersten Jahren in den neuen

Bundesländern zu entdecken und aufzuarbeiten. Wir erfahren durch die Briefe von Enrico Türmer paradigmatisch, wie die Menschen nach dem Mauerfall ausschließlich mit der Frage beschäftigt waren, wie man sich in einer fremdgewordenen Welt durchschlagen konnte. Die Aufmerksamkeit war also auf sich selbst gerichtet, auf die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten bei dem

fremdartigen Spiel mitzumachen. Man musste sich sozusagen neu entdecken und neu gestalten, gerade indem man mit der Erkundung des Neuen beschäftigt war. Man war noch nicht in der Lage, hinter den wunderbaren Entdeckungen in einer wunderbaren Traumwelt versteckte Tücken

auszumachen. Anstatt reflexiv und kritisch zu sein, war man bemüht, alle vom Spiel angebotenen Möglichkeiten aufzugreifen, um Wissen und Erfahrungen nachzuholen und mitspielen zu können.

Über ein Jahrzehnt später sind wir uns dessen bewusst geworden, dass die Ostler das Spiel der Westler wie Schelme gespielt haben, ohne also genau zu wissen, welche Regeln galten und was es zu verlieren und zu gewinnen gab. Jetzt stellt sich die Frage, ob sie in diesen Spielregeln noch gefangen sind, oder ob es ihnen möglich ist, etwas Neues und etwas Anderes zu spielen. Es ist im Endeffekt die Frage, ob sie aus der Erfahrung als Schelme das Bewusstsein des Vorläufigen und des Veränderbaren gewonnen haben oder nicht.

Cesare Giacobazzi, Università di Modena e Reggio Emilia

Italo Calvino, Usi politici giusti e sbagliati della letteratura, in: ders., „Una pietra sopra. Discorsi di letteratura e società“, Mondadori, 1995, S. 352

Italo Calvino, La sfida del Labirinto, in: ders., „“Una pietra sopra...“, S. 128

Ingo Schulze, Neue Leben, Deutscher Taschenbuch Verlag, Berlin, 2007, S. 33

Iser, Wolfgang , Akt des Fingierens, in: (Hrsg.) Dieter Heinrich, Wolfgang Iser, „Funktionen des Fiktiven“. Fink, München 1983 135f.

Alewyn, Richard, Der Roman des Barock. In: Hans Steffen (Hrsg.): Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 21-34

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Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne: zwölf Vorlesungen, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a. M, 1988.

Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch, Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Diskurse der deutschen

Einheit. Kritik und Alternativen, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden

Ingo Schulze, Das Wort für die Sache halten. Über den begriff Verliere, in: „Was wollen wir?“, Essays, Berlin Verlag, Berlin, 2009,

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