• Non ci sono risultati.

"Deutsches Leid": Gründungsmythos des wiedervereinten Deutschland?

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Condividi ""Deutsches Leid": Gründungsmythos des wiedervereinten Deutschland?"

Copied!
8
0
0

Testo completo

(1)

Die periodischen Auseinandersetzungen um die angemessene Weise des Opfergedenkens an den Jahrestagen der Bombardierung Dresdens (13.2.) und zu ähnlichen Anlässen sind aktuelle Manifestationen des Fortbestehens einer nicht wirklich konsolidierten und universell anerkannten Wertung der deutschen Kriegsopfer, deutschen Leids im 2. Weltkrieg.

Insofern ist die Rede vom „deutschen Leid“ als Gründungsmythos sofort zu relativieren – denn um wahre – als solche fungierende - Mythen kann nicht gestritten werden. Sie sind einfach da – unhinterfragbar. Insofern könnte bestenfalls die Rede sein von Ansätzen oder Versuchen der Mythenbildung, sozusagen von der Entstehungsgeschichte eines Mythos – was allerdings wiederum ein Paradox erzeugt, denn der wahre Mythos präsentiert sich geschichtslos. Der Begriff der Mythenbildung ist dennoch nicht unbrauchbar, um gegenwärtige Bemühungen um eine modifizierte Wahrnehmung des deutschen Kriegsopfers kritisch zu beschreiben.

1945 wurde den Deutschen ihr in den Mythos projiziertes Selbstbild (1000-Jähriges Reich, Führer-Volk, Herrenrasse, Blut und Boden) zerschlagen – die aus dieser totalen Dekonstruktion hervorgehenden Einzelindividuen konnten sich eigentlich in keine Beziehung setzten zu dem, was geschehen war, zu dem, was sie „angerichtet“ hatten, denn das waren nicht sie, sondern ihr anonymer Anteil am mythisch überhöhten Kollektiv. Diese Anonymität der Täterschaft spiegelt sich wieder in der Anonymität deutschen Leids als kollektives, „öffentlich begehbares“ Leid. Es blieb verschlossen im privaten, rein persönlichen Bereich der Individuen – mit Ausnahme der öffentlichen Aktivitäten der Vertriebenenverbände. Hierin bestand wohl ein Hauptgrund für das von W.G. Sebald in seinen „Züricher Vorlesungen“ vor mehr als einem Jahrzehnt bemerkte öffentliche Verschweigen des Bombenkriegs („Luftkrieg und Literatur“, 1999).

Die Fragen, denen dieser Beitrag nachgehen möchte, sind folgende: bedeutet eine würdigende Erinnerung deutscher Kriegsopfer notwendigerweise die Rehabilitation des Mythos für den sie gebracht wurden, oder ist diese vermeidbar? Geht eine Umcodierung privaten in öffentlich wahrgenommenes Leid (wie dies im sogenannten „Familienroman“ geschieht) notwendigerweise einher mit dessen Umwandlung in alte oder neue Mythen? Oder kann „Leiderfahrung“ zur öffentlichen Chiffre werden ganz ohne legitimatorischen Diskurs? Welche „Position“ besetzt sie dann aber? Ist ein Inhalt des „kulturellen Gedächtnisses“ (Jan Assmann) denkbar als einfache Summe individueller Erinnerungen, oder beginnen diese als

(2)

Veröffentlichte - und in dieser Form kollektiv Erfahrene - ein „Eigenleben“ als spontane Transformation in einen neuen Opfermythos? Anders gefragt: ist die öffentliche Pflege sinnlosen Leids aushaltbar und kann sie der Kohärenz und der Identitätsfindung des „neuen“ wiedervereinten Deutschlands dienlich sein?

Wenn diese Frage verneint wird, ist die – zumindest – spontane Legitimation des Opfers im kollektiven Narrativ unvermeidlich. Einige Figuren und Diskurse dieses Legitimationsnarrativs zeichnen sich ab und sollen analysiert werden. Wesentlicher aber ist, dass sein bedeutendster Teil wahrscheinlich im nonverbalen Bereich, im Gefühlten verkapselt bleibt und seine Folgen nur schwer absehbar sind.

Will man aber diese Frage nach der Aushaltbarkeit sinnlosen Leids bejahen, sollte bewusst sein, dass dies nur möglich ist bei der gleichzeitigen Entwicklung einer politischen Kultur des „nie wieder“ – es sind keine Heldentaten zu berichten. Dies bedeutete die völlige Umkehrung des Mythos als Gründungsmythos des „neuen“ Deutschland: aus einem „schon immer“ würde ein „nie wieder“.

Der Tod im „sacrificium“ wird schon vom sinnmotiviert handelnden Subjekt als Eventualität akzeptiert und verleiht dem Heldentod die Dimension einer Überwindung individueller Schranken als Quasi-Apotheose, der Handlung somit die Weihe metaphysischer oder innerhistorischer Transzendenz. Dieses Opfer kann zum Garanten eines generationsübergreifenden kollektiven Narrativs werden und ist als solches prädestiniert in der Sprache des Mythos erzählt zu werden, handlungsanleitend und sinnstiftend für die Zukunft. Diese „Option“ bleibt deutschen Kriegsopfern, ihren Kindern und Enkeln – sofern nicht Alt-oder Neonazis – verwehrt, da das deutsche Kollektiv in Folge seiner militärischen Vernichtung auch seine moralisch-ethische Katastrophe, die völlige Delegitimierung seiner Opfer im Sinne eines „Opfers für“ akzeptieren musste. Kein vom „sacrificium“ ausgehendes Narrativ war „offiziell“ möglich. Das schließt nicht aus, dass vor allem in der Bundeswehr, halb-subversiv, sogenannte „nostalgische Traditionspflege“ bis in die 1970er Jahre hinein verbreitet war.

Der Tod der „victima“, des passiven Opfers asymmetrischer Gewalt, wie der der Afrikaner in den Zeiten des Sklavenhandels oder der Opfer der Shoa und aller Völkermorde hat die negative Bedeutung des individuellen, biologischen Lebensendes, aus ihm aus solchen ergibt sich keinerlei Fortschreibung von Sinn oder Verpflichtung. Er ist – aus der Perspektive der Opfer – eigentlich bedeutungslos, da ohne Bezug auf ein zu erreichendes Ziel, das dem Opfer in kollektives Narrativ übersetzbaren Sinn verliehe, nur erlitten – wenn auch millionenfach. Dieser Tod als individueller ist stumm, unheroisch tot, Beispiel für nichts und niemanden,

(3)

sinnlos und leer. Einige Romane W.G. Sebalds teilen eine Ahnung mit von der Leere und der jedem Sinngebungsversuch sich entziehenden Anonymität dieser Todesart.

Die einzig mögliche, aus der Summe der individuellen Leiden sich ergebende öffentliche Botschaft an folgende Generationen und die Menschheit ist die, es nie wieder geschehen zu lassen. Die wesentliche Mahnung aus der Shoa ist eben dies: „Nie Wieder!“. Aus dem millionenfachen Mord von Menschen ergibt sich kein Sinn außer dem, ihn nie zu wiederholen.

Wir alle kennen das Motto: „Nie wieder Auschwitz – nie wieder Krieg“ Das Pathos des „Nie wieder“ – so gerechtfertigt es scheinen mag – konzediert allerdings deutschen Kriegsopfern implizit den victima-Status eben des Opfers, dessen einzige Botschaft aus Sinnlosigkeit die ist, es nie zu wiederholen. Sinnloser Tod, wie der der Opfer in den Konzentrationslagern. Von hier bezieht die Analogisierung von „Krieg“ und „Auschwitz“ im „nie wieder“ ihre Begründung. Deutscher Tod wurde allerdings erst sinnlos durch Niederlage und totale Delegitimierung, er war es in der Perspektive des „3. Reiches“ im Moment seines Geschehens durchaus nicht, sondern hochmotiviert - auch das Leid der Zivilbevölkerung im Kontext des „totalen Krieges“ – derjenige der Holocaust-Opfer war immer schon sinnlos. Deutscher Tod bedarf demnach einer Umwertung um „victima“ zu werden – jüdischer Tod nicht.

Während die im „nie wieder“ sich offenbarende Sinnlosigkeit des deutschen Opfers und dessen derartige Annäherung an den victima-Status der Opfer des Nationalsozialismus die radikale politische, moralische und ethische Kritik des Nazismus voraussetzt, und dabei deren Absolutheit in der Sprache des Mythos als Ewigkeit ausdrückt, besteht ein weiterer, impliziter, scheinbar natürlicher und sprachloser Modus der Anverwandlung des victima-Status für deutsche Kriegsopfer und deutsches Leid.

Diese zweite Operation der Umwertung deutschen sacrificiums in victima ist die der Individualisierung, der Privatisierung und der historischen Dekontextualisierung. Sie wertet das Opfer nicht implizit um durch die explizite Entwertung jüngster deutscher Geschichte, sondern indem sie von ihm nur als Individuum spricht und Geschichte auf das persönlich Erfahrene verengt. Dieser Modus ist spontan im Verhältnis von Individuen. Hier regieren die aus affektiven – meist familiären – Bindungen sich ergebenden Emotionen. Der Schmerz aus dem Verlust von Angehörigen ist authentisch und existenziell, als kreatürliches Leiden jenseits aller historischer Konstellationen und moralischer Wertungen.

Diese Art von Leiden – als solches natürlich wie physischer Schmerz – bleibt immer an seine gefühlte Wirklichkeit im Individuum gebunden und ist als solches über das direkte affektive

(4)

Umfeld (Familie) der Betroffenen hinaus in eine anonyme Öffentlichkeit hinein kaum mitteilbar, da der abstrahierende und distanzierende Charakter der Objektsprache den Schmerz zwar benennen, aber nicht fühlbar machen kann.

Gerade hier öffnet sich freilich der Raum für die Identifikationsangebote literarisch-narrativer Gestaltung des Themas. In der Möglichkeit Leiden auch als individuelles, ohne das individuelle Opfer transzendierende Bedeutung, als „verkapselte“ victima-Erfahrung, als impliziten Appell an einfaches Mit-Leiden in den öffentlichen Raum zu stellen, besteht die spezifische Leistungsfähigkeit der literarischen „Bearbeitung“ des Themas. Von hier aus wird verständlich, wieso Romane, die sich heute auf den letzten deutschen Krieg beziehen, meist als „Familienromane“ daherkommen.

Dass öffentliche oder veröffentlichte Erinnerung an „gemeinsames Leid“ verbindet und die im Prozess der Herausbildung nationaler Identitäten benötigte Kohäsion verstärken kann wird allgemein kaum bezweifelt. So äusserte Ernest Renan schon zu Ende des 19. Jahrhunderts:

Jawohl, das gemeinsame Leiden verbindet mehr als die Freude. In den gemeinsamen Erinnerungen wiegt die Trauer mehr als die Triumphe, denn sie erlegt Pflichten auf, sie gebietet gemeinschaftliche Anstrengungen.1

Und Aleida Assmann fragt sich

(…), welche Rolle diese zurückgekehrte Erinnerung auf der Ebene der nationalen Identitätsbildung spielen wird. Man könnte sich z.B. vorstellen, dass sich die deutsche Leidensgeschichte als ein willkommenes Narrativ erweist, das die ost-und westdeutsche Erfahrung umspannt und sich damit als eine wichtige emotionale Klammer gegenüber den vielen und fortgesetzten Trennungsgeschichten anbietet. Indem man zu diesem gemeinsamen Fundus an Erfahrungen zurückkehrt, betont man eine untergründige Verbundenheit der beiden deutschen Teilstaaten jenseits aller politischen Grenzen und Differenzen. Die Opfergeschichte bietet sich an als neuer nationaler Mythos, der Ost und West verbindet.2

Auf welche spezifische Weise diese Opfergeschichte zum Mythos werden könnte, sagt Assmann allerdings nicht. Nicht jede emotional involvierende Erzählung ist schon notwendigerweise Mythos. Zumal es in den hier zur Diskussion stehenden Texten gerade nicht um das von Renan berufene „gemeinsame Leiden“ geht, sondern ganz im Gegenteil um das von konkreten, häufig auch authentischen Einzelindividuen - mit Vor-und Zunamen. Diese Erzählungen werden erst unterhalb der Oberfläche ihrer unmittelbaren Bedeutung, über ein Netz codierter Chiffren im Sinne des sekundären semiologischen Systems des Mythosbegriffs Roland Barthes’3 zu Erzählungen eines kollektiven Schicksals, das in der

primären Bedeutung der Objektsprache gerade abwesend ist. Sie werden zu Bauelementen einer modifizierten kollektiven Identität, auch wenn die Inhalte der Objektsprache dieser Texte im Bereich des Privat-Intimen, der Familie bleiben. Die generelle Privatheit der Inhalte dieser Erinnerungsliteratur reflektiert gerade das große Problem der Deutschen mit ihrer

1 Ernest Renan, Was ist eine Nation? Vortrag gehalten an der Sorbonne am 11. März 1882, in: Was ist eine

Nation? Und andere politische Schriften, Wien, Bozen 1995, S. 56 f.

2 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Verlag C.H.

Beck, München 2006, S. 193

(5)

jüngsten Geschichte. Sie reflektiert das Akzeptieren des auch nach der Vereinigung noch gültigen Verbots Opfererinnerungen als „sacrificium“ zu interpretieren und sie damit über den Bereich der individuellen Erfahrung hinaus in ein verallgemeinerndes und sinnstiftendes Narrativ zu überführen – das letztlich nur in einer Apologie des Nationalsozialismus enden könnte - und ist damit alles andere als „einfach“ persönlich und spontan, wie es die Erzählung des Opas für seinen Enkel wahrscheinlich wäre. Die veröffentlichte Erinnerung ist gerade in ihrer unmittelbar erscheinenden Privatheit ein Negativabdruck der Abgründe und Tabus deutscher Geschichte, und eben dieses Nicht-Gesagte ist der Subtext, der diese Erinnerungen zu Alltagsmythen im Sinne Roland Barthes’ werden lassen kann. Was Ulrich Greiner in seinem Beitrag zum 70. Geburtstag Uwe Timms in der Zeit (2010) von dessen Familienroman-Bestseller (deutsche Auflage 360.000) Am Beispiel meines Bruders (2003) berichtet, kann in diesem Sinne als symptomatisch gelten:

Aus einer der Schubladen holt Uwe Timm einen winzigen Pappkarton. Er öffnet ihn und zeigt mir den Inhalt: eine eingetrocknete Tube Zahnpasta, einen Orden, einen Kamm mit Haarresten, ein paar Filmnegative, Tabakskrümel, das Foto einer Schauspielerin, ein Oktavheft. Das ist alles, was von seinem Bruder Karl-Heinz, der sich mit 18 freiwillig zur SS gemeldet hatte, geblieben ist.4

Da bleibt wenig, fast nichts und es scheint nicht von primärer Bedeutung zu sein, was im Einzelnen erinnert wird, sondern der auch mit dem Tabubruch („der sich mit 18 freiwillig zur SS gemeldet hatte“) spielende Tatbestand, dass diese Erinnerung über den Familienrahmen hinaus veröffentlicht wird. Nicht was der Text mitteilt ist von primärer Bedeutung, sondern dass er gelesen wird. Die Lektüre selbst wird so zu einer Art zeremonieller Handlung, zum gemeinschaftsbildenden Ritus, der dem Text die Weihe eines profanen Messbuchs verleiht, so wie den verbliebenen Objekten die der Reliquie.

Der Geschichtsbruch von 1945 wurde in den von Affekten beherrschten, historisch dekontextualisierenden Familienerzählungen im privaten Bereich immer schon tendenziell unkenntlich. Durch den Akt ihrer Veröffentlichung als solchen verwandelt sich nun allerdings vor dem Hintergrund kollektiver Erfahrungen und Erinnerungen die semiologische Struktur dieser Texte. Individuen verwandeln sich in Typen im öffentlichen Raum, der einmalige Onkel Franz wird zum Onkel aller Leser, Einzelschicksale werden als repräsentativ wahrgenommen, ohne dass ihre Verallgemeinerung explizit wird. D.h. die Zeichen innerhalb dieser Texte bedeuten anderes als sie unmittelbar sagen, werden insgesamt zu Signifikanten von allerdings implizit und vage bleibenden, in Einzelfällen verpuppten allgemeineren Bedeutungen – dem sekundären semiologischen System - und präsentieren so die geschichtliche Katastrophe des Nationalsozialismus als das natürliche Phänomen eines

(6)

Familienschmerzes – wie Roland Barthes es für die Sprache des Mythos diagnostiziert hatte. Barthes empfand

„meistens ein Gefühl der Ungeduld angesichts der ›Natürlichkeit‹, die der Wirklichkeit von der Presse oder der Kunst unaufhörlich verliehen wurde, einer Wirklichkeit, die, wenn sie auch die von uns gelebte ist, doch nicht minder geschichtlich ist. Ich litt also darunter, sehen zu müssen, wie ›Natur‹ und ›Geschichte‹ ständig miteinander verwechselt werden.“5

Eine wesentliche Leistung der Transformation privater Erinnerung in öffentlichen Mythos, der sich aber als private Erinnerung präsentiert, besteht also in der Anverwandlung des victima-Status für das deutsche Opfer generell. Mit dem Verbleiben der veröffentlichten Leiderfahrung im Bereich des Familiär-Intimen – wie in der Mehrzahl der im letzten Jahrzehnt veröffentlichten „Familienromane“ – erscheint der victima-Status naturhaft gegeben und bedarf keiner expliziten Begründung.

Was geschieht also? Die victima-Bewustsein generierende, kollektiv vollzogene individuelle Erinnerung an den zweiten Weltkrieg stellt ein emotionales Potential in den öffentlichen Raum, das als solches den historischen Täter-Opfer Hiatus tendenziell einebnet, indem es die deutschen Opfer über den beschriebenen Mechanismus der Umwertung den Opfern des Nationalsozialismus annähert und dabei das geschichtliche Profil spezifisch deutschen Tuns abflacht. Effekt dieser emotionalen Besetzung von Momenten der Geschichte als individuellen Geschichten ist auf der Ebene des Bewusstseins die graduelle Zurücknahme der Distanzierung vom deutschen nationalen Kollektiv der Vergangenheit durch dessen undeutlichere Wahrnehmung als Summe von Einzelschicksalen. Das dem verdeckten Raunen des Mythos ausgesetzte Unbewusste wird direkt die emotionale Identifikation mit dem nationalen Kollektiv als vorgestellter Leidensgemeinschaft vollziehen, folglich auch Ressentiments gegen die ehemaligen Feinde mobilisieren und damit das Anwachsen des emotionalen Potentials nationaler Kohäsion im gegenwärtig noch andauernden Vereinigungsprozess der ehemaligen beiden deutschen Staaten gewährleisten und gleichzeitig bedenklich belasten.

Eingangs wurde die Frage aufgeworfen: Ist die öffentliche Pflege, öffentliches Gedenken an als sinnlos erkanntes Leid aushaltbar und kann sie der Kohärenz und der Identitätsfindung des neuen, wiedervereinten Deutschland dienlich sein?

Das vom sekundären, den individuellen Leidensgeschichten eingelagerten mythischen Sprechen evozierte Bild der Leidensgemeinschaft hat – in der Regel – da Derivat dekontextualisierender Familienintimität, eine semantische Leerstelle: die des Täters, des

5 Roland Barthes, Die große Familie der Menschen. In: Roland Barthes, Mythen des Alltags. Suhrkamp,

(7)

Feindes, des Verursachers des Leidens. Diese wird jeder Leser je nach seiner Lebens- und Bildungsgeschichte versuchen spontan auszufüllen, um dem Opfer wenigstens im Ressentiment Sinn zu verleihen. Günter Grass hat in seinem „Familienroman“ Im Krebsgang (2002) sozusagen paradigmatisch gezeigt, wie derart im schlimmsten Falle die Konflikte des zweiten Weltkrieges wie auf einer gespenstischen Bühne nach über 50 Jahren ein wiedergängerisches Scheinleben entfalten können. Und ich selber muss gestehen, dass ich mich bei der Lektüre von Jörg Friedrichs Buch Der Brand (2002) dabei ertappte, zu beginnen die Engländer und England – gegen das ich nie Vorbehalte hatte – als das „perfide Albion“, zu hassen.

Zu derartigen – auch im aktuellen europäischen Einigungsprozess völlig unpassenden – „neuen Ressentiments“ besteht allerdings eine auch das öffentliche Gedenken deutscher Opfer einschließende Alternative.

Das aus Dekontextualisierung unbewusst entstehende victima-Bewusstsein wird transformiert in bewusstes mit dem einzig möglichen aus ihm als solchen zu gewinnenden Sinn, die Botschaft des „Nie wieder“, die die radikale, in gewissem Sinne selbstverleugnerische Distanzierung von der jüngsten Geschichte Deutschlands impliziert, da die deutschen Opfer als geschichtliches Kollektiv begriffen nicht victima waren, für ihre „Rettung“ als individuelle victimae also der nationalsozialistische Staat, der sie zum sacrificium bestimmt hatte, die Negation jeden Sinns repräsentieren muss. Natürlich ist dieses „Nie wieder!“ ein paradoxer Gründungsmythos, Indikator eines ethischen Nullpunkts, der die Schwere der vorherigen Verfehlungen als moralischen Imperativ in eine endlose Zukunft projiziert und diese Zeitlosigkeit mit dem „immer schon“ des traditionellen Gründungsmythos gemeinsam hat. Allerdings nicht als Verpflichtung auf ewige Wiederholung, sondern im Gegenteil als deren ewiges Verbot. Die Sprache dieses Mythos ist in ihrer Zeitlosigkeit traditionell – seine Botschaft aber ist die Umkehrung des traditionellen Mythos. Nicht versichernde Fortsetzung von Ewigkeiten verspricht er, sondern er fordert – gänzlich antimythologisch - verunsichernd radikales Anders-Werden. Als Grundkomponenten aktueller deutscher Identität ergäben sich daraus Antifaschismus und Pazifismus. Deutschland begriffe sich demnach gerade nicht als „normale Nation“, sondern auf einem

(8)

Sonderweg, der die „Sonderrolle“ des nationalsozialistischen Deutschland umgekehrt-proportional reflektierte. Dazu bedürfte es allerdings politischer und geschichtspolitischer Positionierungen, die gegenwärtig auf Bundesebene nur schwer mehrheitsfähig erscheinen.

Riferimenti

Documenti correlati

in der tat stimmt dieses fühlen für andere im sinne von mengzis mit- leid im grunde genommen mit dem einfühlen bei dem akrobaten in der Diskussion von Lipps, Stein, Scheler und

baß ber Angriff jur ©ee ntit ber äußerften unb nacjtjattigften Datfraft burdjgefütjrt roerben roirb, mit bem unbebingten 2Bi!Ieit > unfere gtotte unb unfere

La mia tesi, dal titolo Der Begriff "Gebietsmarketing" mit dem Beispiel der Übersetzung aus dem Italienischen ins Deutsche der Website

In Abschnitt 3 wird erläutert, dass die Grammatikalisierung des definiten Artikels eine entscheidende Rolle in der Herausbildung der Satzklammer des modernen

Auch wenn man diesen (sicherlich bedauerlichen) Umstand nicht als wirkli- chen Hinderungsgrund betrachtet, stellt sich in jedem Fall das Problem, dass Instruktionen, die die

La collaborazione con gli operatori del Centro di Igiene mentale (CIM) diventò perciò una oggettiva necessità che portò all’instaura- zione di rapporti sempre più

avventure di Cipollino um eine gelungene Wiedergabe des Ausgangstextes handelt. Gestützt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass sich hinter dem Pseudonym Pan

An italienischen Universitäten werden studentische Texte von den Dozenten oft pauschal negativ beurteilt, und man beklagt sich über die anscheinend schon in der Muttersprache