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Kooperative und unkooperative Verwendung von Pronomen in Texten der Physik und der Literatur (Kafka, Thomas Mann) aus dem frühen 20. Jahrhundert

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Kooperative und unkooperative Verwendung

von Pronomen in Texten der Physik

und der Literatur (Franz Kafka, Thomas Mann)

aus dem frühen 20. Jahrhundert

1. Textrezeption, grammatische und pragmatische

Polyfunktionalität: Zur Einleitung

Hauptanliegen dieser Arbeit ist, das hermeneutische Potenzial der vergleichenden Untersuchung grammatischer Phänomene aus textstilis-tischer Perspektive zu erproben. Das stilistische Profil von Texten kann dadurch hervorgehoben werden, dass formale Elemente identifiziert wer-den, von denen aus verschiedenen Gründen angenommen wird, dass sie Poetizität vermitteln (Foschi 2010a; 2009). Zu Textelementen dieser Art

können grammatische Phänomene gerechnet werden, die – wie Pronomen – funktional mehrdeutig und deshalb aus rezeptiver Sicht besonders re-levant sind. In den folgenden Abschnitten wird zuerst der Mechanismus der Pronominalreferenz der deutschen Sprache kurz geschildert (2.), um den mit Bezug auf die allgemeinen Kommunikationsmaximen von Grice (1975) formulierten Begriff der kooperativen und unkooperativen

Verwendung der Pronomen zu verdeutlichen. Es werden danach (3.) das

Korpus, das Verfahren und die ersten Ergebnisse einer Untersuchung präsentiert, die anhand eines kleines Korpus von Texten der Physik

(2)

und der Literatur aus dem frühen 20. Jahrhundert durchgeführt worden ist. Die Untersuchungsergebnisse werden in diesem Beitrag unter der Fragestellung dargelegt, ob Pronominalisierung text- und textsortenspezi-fische Besonderheiten zeigt und wie diese auf die Textrezeption einwirken können.

2. Pronomen in schriftsprachlichen Texten

Die syntaktische Funktion der Pronomen ist mit derjenigen von Nomina und Nominalphrasen vergleichbar. Ähnliches gilt für ihre allgemeine se-mantische Funktion, nämlich die Bezugnahme auf Gegenstände, obwohl Pronomen – anders als Nominalphrasen – wenig über die Charakteristiken ihrer Referenten sagen (z. B. Person vs. Sache; weiblich vs. männlich usw.) (ziFonun 2001: 9). Pronominalisierung ermöglicht, schon eingeführte Themen

synthetisch wieder aufzunehmen und damit ganze Textausschnitte auszulas-sen, die aus Nomina, Nominalphrasen oder größeren sprachlichen Einheiten bestehen. In dieser Hinsicht ist Pronominalisierung gemäß Grices Maxime der Quantität1 als „kooperative“ Operation anzusehen. Pronomen sind al-lerdings semantisch undeterminierte Zeichen, die durch Referenz bestimmt werden. Pronomen sind deshalb aus pragmatischer Perspektive als “schwie-rige” Zeichen bezeichnet worden (thurmair 2003: 212), weil die formalen

Relationen zu den Referenten unterschiedlich genau und deutlich ausgedrückt werden können. Wenn diese Relationen nicht klar zum Ausdruck kommen, ist hier von „unkooperativer“ Verwendung der Pronomen die Rede, im Sinne eines kommunikativen Verhaltens, das gegen das Kooperativitätsprinzip ver-stößt, das Grice (1975) als Modalität bezeichnet.2

Texte, die unbedingt klar und eindeutig sein müssen, neigen dazu, Pro-nomen schlechthin zu vermeiden. Ein Beispiel dieser Art stellt die Produkt-übersicht der Resveratrol-Kapseln aus der Homepage der Heilprodukt firma

Terraternal dar (1). Die entsprechende Referenzkette besteht hier aus vier

Nomina und keinem einzigen Pronomen:

1 Vgl. Grice (1975: 45): “The category of Quantity relates to the quantity of information

to be provided”.

2 “Under the category of manner, which I understand as relating not (like) the previous

categories) to what is said but, rather, to how what is said is to be said, I include the su-permaxim – ‘Be perspicuous’ – and various maxims such as: / 1. Avoid obscurity of ex-pression. / 2. Avoid ambiguity. / 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). / 4. Be orderly.” (Grice 1975: 46).

(3)

(1) Resveratrol ist ein Phytolalexin, welches von verschiedenen Pflanzen als natürliche Antwort auf Stress, Verletzungen, Pilzinfektionen und UV-Bestrahlung produziert wird. Unter anderem ist Resveratrol in der Fruchthaut von Roten Trauben, Himbeeren, Maulbeeren, Blaubeeren, Pflaumen und Erdnüssen sowie den Wurzeln des japa-nischen Polygonums, einer traditionellen chinesisch-japajapa-nischen Heilpflanze, aus der wir unsere Extrakte gewinnen, enthalten.

Seit kurzer Zeit erregt Resveratrol als Zusatzpräparat mit lebenszeit-verlängernder Wirkung eine Menge Aufmerksamkeit, weil Resveratrol in allen Species, die bisher diesbezüglich untersucht wurden, eine le-benszeitverlängernde Wirkung hatte. (http://www.terraternal.com/ Home.aspx. 09.05.2012)

Textsorten, die auf diese Art Grices Klarheitsmaxime (1975: 45) über diejenige der Synthese setzen, können u.a. Regelungen und Gebrauchsanweisungen, Kurzgeschichten für Kinder, auch konstruier-te Texkonstruier-te für den DaF-Unkonstruier-terricht sein. Pronomenkarge Texkonstruier-te skonstruier-tellen im deutschsprachigen Textuniversum eher die Ausnahme dar. Normal ist es dagegen, eine relativ hohe Anzahl von Pronomen in allen Texten vorzufin-den. Um die Eindeutigkeit der Referenz zu sichern, werden im Text ana-phorische Ketten gebildet, in denen das Pronomen erst auftaucht, wenn der Referent deutlich definiert ist (thurmair 2003: 208). Ein Beispiel

von Standardreferenz zeigt Beispiel (2): Der Referent wird im Titel durch die Nominalphrase Mini-Mammuts genannt; der Inhalt der Überschrift (So groß wie Schafe) bietet als kataphorisch wirkendes Attribut eine ers-te Bestimmung desselben. Zwei weiers-tere Nominalphrasen im Text (eine

Zwergform des Mammuts. Die Tiere in der Größe von Schafen) sagen

et-was über seine Beschaffenheit und Eigenschaften. Erst dann – wenn der Referent eindeutig bestimmt ist – taucht das Pronomen sie auf.

(2) So groß wie Schafe

Mini-Mammuts lebten auf Mittelmeerinsel Kreta

Mittwoch, 09.05.2012, 10:06

Auf der griechischen Mittelmeerinsel Kreta entdeckten Forscher Hinweise auf eine Zwergform des Mammuts. Die Tiere in der Größe

von Schafen könnten vor mehr als einer Million Jahren gelebt haben. Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen Riesen der kalten

nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in den „Proceedings” der britischen Royal Society. (http://www.focus.de. 23.06.2012)

(4)

Pronominalreferenz kann unterschiedlich determiniert sein. Durch de-monstrative Pronomina kann die deutsche Sprache mehrere Stufen der refe-renziellen Auffälligkeit ausdrücken (BisLE-MüLLEr 1991: 49). Als Pendant

der wenig definierten er/sie/es-Pronomen dienen die stärker definierten Formen der Demonstrativa der/die/das und dieser/diese/dieses mit un-terschiedlichen „Horizont-” versus „Fokus-Funktionen” (wEinricH 1993:

384). Ein Beispiel von Gebrauch eines Pronomens mit Fokus-Funktion ist das Demonstrativum diese in (3):

(3) Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen Riesen der kalten nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in den „Proceedings” der britischen Royal Society. Schon länger war bekannt, dass es auf Sizilien und Malta im Zeitalter Pleistozän Zwergformen von Elefanten gab. Diese wurden als Abkömmlinge einer einzelnen Festlandart ge-deutet, des Europäischen Waldelefanten. Einzelne Stoßzähne, die nahe von Kap Malekas, einer steilen Landzunge im Nordwesten Kretas, ge-funden wurden, hatten den Forschern jedoch Rätsel aufgegeben, be-richten Victoria Herridge und Adrian Lister vom Naturkundemuseum in London. (http://www.focus.de. 23.06.2012)

Klarheitshalber werden pronominale Referenzketten durch Renomina-lisierung unterbrochen, wenn ein neues Thema im Text erscheint, wie in (4) bei der Referenzkette Die Tiere in der Größe von Schafen […] Sie ge-schieht: die Nominalphrase britische Forscher führt das neue Thema ein; Renominalisierung folgt (Die Mini-Mammuts).

(4) Die Tiere in der Größe von Schafen könnten vor mehr als einer Million Jahren gelebt haben. Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen Riesen der kalten nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in den „Proceedings” der britischen Royal Society. Die Mini-Mammuts seien ein extremes Beispiel für die Entstehung von Zwergformen auf Inseln. (http://www.focus.de. 23.06.2012)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Anschaulichkeit der Texte von den eindeutigen Beziehungen zwischen Pronomen und Referenten abhängig ist: Nach standardmäßigem Gebrauch zeigen Texte genau die-se Art von Relationen. Wenn dadurch die pronominale Referenz im Text klar und eindeutig bestimmt wird, reden wir von kooperativer Verwendung der Pronomen. Umgekehrt – wenn aus dem jeweiligen Kontext keine ein-deutigen Relationen zwischen Pronomen und Referenten resultieren – ist

(5)

von unkooperativer Verwendung die Rede. Unkooperative Verwendung der Pronomen im Text wird insofern als bewertende Kategorie angesehen, als sie Stilzüge desselben hervorhebt, die angesichts eines Standardgebrauchs der Sprache auffällig sind.3 In den folgenden Abschnitten (2.1-2.5) wer-den fünf Varianten unkooperativer Verwendung von Pronomen geschildert, d. h. solche, die in einer früheren Studie (Foschi 2009) an Hand

erzähle-rischer Texten von Franz Kafka beobachten werden konnten.

2.1. Kataphorik

Eine kataphorische Verwendung von Pronomen präsentiert sich insge-samt nicht als Idealmodell der Kooperativität, weil darin die semantische Funktion des Pronomens erst dann bestimmt werden kann, wenn die ent-sprechende Nominalgruppe seine Referenz verdeutlicht. In Kafkas Texten kann Kataphorik derart stark gedehnt werden, dass der nominale Referent des Personalpronomens im Beispiel (5) am Ende des relativ langen Erzählungstextes (die Abkürzung im Zitat betrifft 569 Wörter) vorkommt. (5) Es ist, als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres

Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind unserer Arbeit nachgegangen; die Ereignisse der letzten Zeit machen

uns aber Sorgen. […] „Wie wird es werden?” fragen wir uns alle. „Wie

lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu ver-treiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns

Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes

an-vertraut [...]”. (Ein altes Blatt: 208 u. 210)4

3 Meine früheren Studien über die Verwendung des es-Pronomens bei Franz Kafka, Fritz

Mauthner (Foschi 2009) und Sigmund Freud (Foschi 2010b), haben bei Kafkas Texte das Primat der unkooperativen Verwendung deutlich feststellen können. Dieser Stilzug kann mit neumann (2011) als Charakteristik einer Sprache beschrieben werden, die sich weigert, „von den institutionellen Ritualen der Gesellschaft stereotyp geformt oder deformiert” zu werden, um sich „in freien, spielerischer Eigenkraft” zu entfalten (neumann 2011: 39).

4 Ab jetzt stammen alle Beispiele aus dem Analysekorpus (Beschreibung im Abschnitt 3).

Die aus Projekt Gutenberg-DE abgerufenen Texte der Schriftsteller Franz Kafka und Thomas Mann sind mit den kritischen Ausgaben ihrer Werke (kaFka 1994; mann 2004) verglichen und dementsprechend korrigiert worden. Die angegebenen Seitenzahlen ver-weisen auf diese Ausgaben. Die Beispiele aus Kafkas Texten werden mit Angabe der je-weiligen Erzählung verzeichnet, aus der sie entnommen worden sind. Die Beispiele aus Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig werden durch die Sigle TiV, die Beispiele aus den Texten der Physiker werden durch die Siglen der Autoren (Karl Schwarzschild: KS: Hendrik Antoon Lorentz: AL; Hermann Minkowski: HM) vermerkt.

(6)

2.2 Pronominale Homonymie

Homonymie besteht, wenn verschiedene Referenzketten mit identischen

morphologischen Zügen in kürzeren Kontexten erscheinen. Im Beispiel (6) besteht die durchnummerierte Abfolge 5-11 aus identischen er-Formen, die für zwei verschiedene Referenten stehen (vor allem bei den er-Formen 7 und 9 muss sich der Leser zweimal überlegen, ob vom Kaiser oder vom Boten die Rede ist).

(6) Der Kaiser1 – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser2 von seinem3 Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten4 hat er5 beim Bett niederknien lassen und ihm6 die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm7 an ihr gelegen, daß er8 sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er9 die Richtigkeit des Gesagten bestä-tigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines10 Todes – alle hin-dernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er11 den Boten12 abgefertigt. (Eine kaiserliche Botschaft: 221)

Eine andere Form der Homonymie zeigt Beispiel (7), in dem identische

ich-Formen in einem kürzeren Kontext je nach Erzähltechnik verschiedene

Funktionen ausüben: a) in der Ich-Erzählung verweist das Ich-Pronomen auf den Ich-Erzählung (ich1, ich3,ich5); b) im inneren Monolog (ich2) ver-weist das Ich-Pronomen wiederum auf den Ich-Erzählung; c) in den di-alogischen Textteilen verweist das Pronomen ich auf den Sprecher: ich4 referiert somit auf den Landarzt, ich6, ich7 auf den Kutscher.

(7) Mit so schönem Gespann, das merke ich1, bin ich2 noch nie gefahren, und ich3 steige fröhlich ein. „Kutschieren werde aber ich4, du kennst nicht den Weg”, sage ich5. „Gewiß”, sagt er, „ich6 fahre gar nicht mit, ich7 bleibe bei Rosa.” (Ein Landarzt: 201)

2.3 Pronominale Synonymie

Als entgegengesetzter Fall der Homonymie gilt Synonymie, bei der meh-rere Pronominalformen auf einen einzigen Referenten hinweisen, wie in Beispiel (8):

(7)

(8) „Hilf ihm”, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht das Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres […]. (Ein Landarzt: 201).

2.4 Scheinreferenz

Als besonderer Fall der Homonymie wird Scheinreferenz betrachtet. Es handelt sich dabei um den alternierenden Gebrauch von identischen es-Pro-nominalformen mit unterschiedlichen Funktionen in kürzeren Kontexten, woraus sich – wie in (9) – semantische Erwartungen auch bei Formen von nicht referenziellem es ergeben.

(9) Aus dem Schweinestall muß ich mein Gespann ziehen; wären es nicht zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen fahren. So ist es. Und ich nicke der Familie zu. Sie wissen nichts davon, und wenn sie es wüßten, wür-den sie es nicht glauben. (Ein Landarzt: 203)

2.5 Tautologische Referenz

Der letzte Fall unkooperativer Pronominalverwendung wird

tautologi-sche Referenz genannt. Diese ergibt sich, wenn deiktitautologi-sche Personalpronomen

im Text über ihre kommunikative Rolle hinaus nicht weiter determiniert werden können. Als tautologische Pronomen werden auch diejenigen ange-sehen, deren Referenten aus den auf generische Gegenstände der konkreten Welt verweisenden Nomen bzw. Nominalphrasen inferiert werden können, die im Titel enthalten sind, wie z. B. die indefinite Nominalphrase in (10) oder die definite Nominalphrase in (11).

(10) Ich war in großer Verlegenheit […] (Ein Landarzt: 200)

(11) Es ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben […] (Der

Kaufmann: 22)

Zwischenfazit: Die verschiedenen Typen unkooperativer Verwendung der Pronomen bei Kafka zeigen insgesamt, dass konkrete Texte die la-tente Mehrdeutigkeit der Pronomen zu realisieren vermögen. Das Attribut mangelnder Kooperativität soll keineswegs als negative Bewertung des Kommunikationspotenzials der betreffenden Texte aufgefasst werden.5 Es

5 Bei literarischen Texten kann allerdings die Existenz eines “fiktionalen Lesepakts”

(pérennec 2011: 51) zwischen Leser und Autor postuliert werden, der die kommunikati-ven Maximen außer Kraft setzen würde. Während „fiktionaler Lesepakt” als poetologische Kategorie zu interpretieren ist, geht es in meinem stilanalytischen Verfahren darum,

(8)

allge-soll im Gegenteil als eine Beschaffenheit von Texten verstanden werden, die Interesse zeigen, „effektiv” zu wirken, wenn auch auf Kosten ihrer kommunikativen „Effizienz”.6 So können Beispiele von unkooperativem Gebrauch von Pronomen als textuelle Indikatoren der Poetizität betrachtet werden.

3. Korpus, Verfahren und Ergebnisse der Analyse

Die vergleichende Analyse erfolgt auf der Basis eines kleinen Korpus, das aus 27 Erzählungen Kafkas aus der Sammlung Ein Landarzt (1919) (= 17.873 Wörter) und aus den ersten fünf Kapiteln (= 17.901 Wörter) der Erzählung Der Tod in Venedig (1912) von Thomas Mann besteht. Als Vergleichsinstanz gilt ein quantitativ homogenes Korpus (17.927 Wörter) zeitgenössischer Texte aus dem Bereich der theoretischen Physik, die das damals aktuelle Thema der Relativitätstheorie behandeln: Über das

Gravitationsfeld eines Massenpunktes nach der Einsteinschen Theorie von

Karl Schwarzschild (1916); Das Relativitätsprinzip von Hendrik Antoon Lorentz (1914) und Das Relativitätsprinzip von Hermann Minkowski (1915). Gezählt wurden dabei die gesamte Anzahl und die jeweiligen Frequenzen der folgenden Unterarten von Pronomen: Personalpronomen und die Demonstrativa der/die/das und dieser/diese/dieses in ihren jeweils vorkommenden Numerus- und Kasusformen; das Indefinitum man; da-Prä-positionaladverbien mit Pro-Funktion vom Typus daran, damit, dadurch. In den folgenden Abschnitten werden die jeweiligen Ergebnisse bezüglich der relativen Anzahl der Pronomen tabellarisch wiedergegeben (Tab. 1-6). Auffällige Frequenzfälle bestimmter Arten von Pronomen werden aus der Perspektive ihrer textuellen bzw. textsortenspezifischen Funktionalität her-vorgehoben und kommentiert (3.1). In einem nächsten Schritt (3.2) wird auf die aus rezeptiver Sicht relevanten Phänomene der Kettenlänge und der Pronominaldichte eingegangen.

meine Kategorien zu finden, um poetische Elemente in Texten jeder Art zu identifizieren, nicht nur in solchen, die (tautologisch) als solche aufgefasst werden.

6 Zu den entsprechenden Begriffen vgl. de beauGrande/dressler (1981: 14): „Die

Effizienz eines Textes hängt vom möglichst geringen Grad an Aufwand und Anstrengung der Kommunikationsteilnehmer beim Gebrauch des Textes ab. Die Effektivität hängt da-von ab, ob er einen starken Eindruck hinterläßt und günstige Bedingungen zur Erreichung eines Ziels erzeugt.“

(9)

3.1 Anzahl der Pronomen und Verteilung ihrer Unterarten

Die tabellarisch wiedergegebenen Ergebnisse bestätigen die Eindrücke, die aus einer ersten Lektüre der Texte entstehen: a) Pronomen sind zahl-reicher in den literarischen als in den wissenschaftlichen Texten; b) eine überdurchschnittliche Menge von Pronomen – und dementsprechend laten-ter Mehrdeutigkeit – ist in Kafkas Texten vorhanden. Die verhältnismäßig niedrige Anzahl von Pronomen in den Texten der Physik bestätigt funk-tionale Erwartungen gegenüber einer Typologie von Texten, die Klarheit anstreben und aus diesem Grund den Gebrauch der schwer verständlichen Pronomen vermeiden sollten.7

Autor Pronomen

Kafka 1.698

Mann 837

Physiker 755

Tab. 1 Gesamtzahlen der Pronomen in den untersuchten Texten

Die relativ hohe bzw. niedrige Anzahl von Pronomen sagt dennoch nicht viel über die Verständlichkeit der Texte. Diese hängt vielmehr von der Eindeutigkeit der Pronominalreferenz ab. Eindeutigkeit der Referenz ist wiederum von verschiedenen Faktoren abhängig, u.a. von der Verwendungsfrequenz unterschiedlicher Arten von Pronomen bzw. Pro-Formen im Text. Die entsprechenden Ergebnisse sind in Tab. 2 synoptisch dargestellt und werden in den folgenden Abschnitten einzeln berücksichtigt und kommentiert.8

7 Der Stiltopos der perspicuitas (als Gegensatzpol der obscuritas) des Wissenschaftsstils,

u.a. in Thomas Hobbes‘ Leviathan thematisiert, ist seit der Aufklärung verbreitet (vgl. dazu kretzenbacher 1995: 25).

8 Der ebenso interessanten Frage nach dem verhältnismäßigen Vorkommen von sach-

und personenbezüglichen Personalpronomen kann hier nicht nachgegangen werden. In Bezug darauf wird angenommen und durch grammatische Argumente begründet (HarwEg 2005: 98 ff.), dass vor allem erzählerische Texte sachverweisende Personalpronomen re-lativ selten verwenden. Eindrucksmäßig verhalten sich Kafkas Pronomen auch in diesem Bezug auf unkonventionelle Weise, indem weibliche Pronominalformen oft auf sachliche Gegenstände verweisen, wie es in den folgenden Beispielen der Fall ist: „ich fasse eine

Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und lege sie wieder hin.” (Ein Landarzt: 202); „Den

Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ.” (Eine

kaiserliche Botschaft: 221); „Zur Unzeit begann nun auch eine kleine Glocke von der

Grabkapelle zu läuten, aber der Künstler fuchtelte mit der erhobenen Hand und sie hörte auf.” (Ein Traum: 233).

(10)

Autor Personalpronomen pronomen

Indefinit-man

adverbiale Pro-Formen gesamt Ausdrückedeiktische

Kafka 1.557 817 90 51

Mann 766 33 37 32

Physiker 471 205 196 88

Tab. 2 Frequenz der unterschiedlichen Pro-Formen in den untersuchten Texten 3.1.1 Deiktische Personalpronomen

In schriftlichen Texten kann erwartet werden, dass die primären Kommunikationspartner vor allem in sekundären, durch direkte Rede ein-geleiteten Sprechsituationen erscheinen. Wenn man davon ausgeht, dass die Ich-Form in der Wissenschaftssprache „verboten” ist (wEinricH 1989:

232),9 sollten wissenschaftliche Texte tendenziell keine deiktischen Formen enthalten. Wie Tab. 2 zeigt, ist in den literarischen Texten insgesamt eine viel höhere Anzahl der Personalpronomen mit deiktischer Funktion vorhan-den (wobei der Kontrast zwischen der spärlichen Quantität derselben bei Thomas Mann gegenüber der enormen Anzahl, die in Kafkas Texten ge-zählt wurde, auffällig ist). Immerhin scheinen die Physiker dem Gebrauch dieser Form von Personalpronomen keineswegs auszuweichen. In den un-tersuchten Texten werden Pronominalformen der ersten und seltener der zweiten Person relativ oft verwendet, wenngleich mit markanten individu-ellen Präferenzen unter den Autoren (Tab. 3).

Autor deiktische Pronominalformen

ich wir du ihr / Ihr Sie

Karl Schwarzschild ∅ 1 ∅ ∅ ∅

Hendrik Antoon Lorentz 2 138 ∅ ∅ ∅

Hermann Minkowski 35 27 ∅ ∅ 2

Tab. 3 Unterschiedliche Gebrauchsfrequenz deiktischer Pronominalformen bei den Physikern

Den deiktischen Personalpronomen der Physik können unterschied-liche Funktionen zugewiesen werden. In (12) dienen ich und Ihnen wie im Standardgespräch dazu, die Gesprächsrollen zu markieren. Das Pronomen

ich weist auf den Sprecher (hier: der berichtende Wissenschaftler) hin, die

9 Nach kretzenbacher (1995: 27) stehen in wissenschaftlichen Texten – auf Grund des

angenommenen Ich- und Du-Tabus der Wissenschaftler – weit über 90% aller Verben in der 3. Person.

(11)

Sie-Form auf (s)einen Adressaten, das Publikum im (fiktiven) Hörsaal.

Die gleichen Referenten werden in (13) und (14) durch die verwendeten

wir-Formen, woraus das Gefühl einer bestehenden wissenschaftlichen

Gemeinschaft entsteht. In (15) wird ein fiktiver Dialog zwischen den Referenten A und B inszeniert, in dem das Pronomen ich auf den Sprecher (A), die Possessivform Ihre auf seine Adressaten (B) zurückzuführen ist. Schließlich verweist das ich-Pronomen in (16) auf einen generischen Referenten.

(12) Das Prinzip der Relativität, über das ich Ihnen heute referieren will, […]. (HM)

(13) Wir wählen nun die durch die Beziehung a2-b2 = 1 miteinander

ver-knüpften Größen a und b so, daß […]. (AL)

(14) Nach dieser Vorbereitung können wir zur Besprechung von Einsteins Betrachtungen über die Schwerkraft übergehen. (AL)

(15) A könnte zu B sagen: ich habe deutlich gesehen, daß Ihre Maßstäbe kürzer waren als die meinigen. B sagt aber dasselbe zu A, und die Diskussion wäre wieder hoffnungslos. (AL)

(16) Es seien Wx, Wy, Wz die Komponenten der Geschwindigkeit an einer Stelle der Materie, w die Größe der Geschwindigkeit, so würde ein Vektor im Raume dem nur bei wirklicher Bewegung, nicht jedoch im Falle der Ruhe entsprechen. Ich will nun aber statt dessen einen vierdi-mensionalen Vektor in Betracht ziehen; ich nehme gleich das wesentli-che Resultat vorweg, daß Geschwindigkeiten der Materie gleich oder größer als die Lichtgeschwindigkeit sich als ein Unding erweisen, daß also stets w < 1 sein muß. (HM)

In literarischen Erzähltexten müssen die Referenten der jeweiligen

ich-Formen je nach Erzählform bestimmt werden. In den erzählerischen

Textteilen verweist das Pronomen ich auf den Erzähler, in den dialogi-schen Textteilen auf die (fiktiven) Gesprächsrollen. Die abwechselnde Erzählform kann dennoch kooperativ wirken, wenn die Relationen zwi-schen Gesprächsrollen und Referenten wie in (15) deutlich sind. In der Erzählung Tod in Venedig kommen Deiktika selten vor und üben zwei Hauptfunktionen aus. Beispielsweise in (17) und (18) – Textpassagen, die dialogischen Textteilen entsprechen – weisen sie auf Gesprächsrollen,

(12)

de-ren Refede-renten im Text als zwei bestimmten Erzählfigude-ren unproblema-tisch identifiziert werden können: in (17) nämlich als der Coiffeur und

Aschenbach. Analog kann in (18) Der Knabe als Referent des

du-Prono-mens und Adressat des stillen fiktiven Gesprächs des Protagonisten leicht erkannt werden. Nicht gleichsam leicht zu identifizieren ist dagegen der Referent der zwei wir-Formen in (19), genauer gesagt, es ist in diesem engen Kontext nicht völlig eindeutig, wer Adressat des Ich-Erzählers ist: die Leser? die anderen Schriftsteller? die ganze Menschheit?10 Zusammenfassend kann die Verwendung der Deiktika bei Mann als poly-funktional und teilweise als unkooperativ angesehen werden.

(17) Eines Tages dann fing er beim Coiffeur, den er jetzt häufig besuchte, im Gespräche ein Wort auf, das ihn stutzig machte. Der Mann hatte einer deutschen Familie erwähnt, die soeben nach kurzem Verweilen abgereist war, und setzte plaudernd und schmeichelnd hinzu: “Sie blei-ben, mein Herr; Sie haben keine Furcht vor dem Übel.” Aschenbach sah ihn an. (TiV: 563)

(18) Der Knabe fehlte. / Aschenbach lächelte. Nun kleiner Phäake! dachte er. Du scheinst vor diesen das Vorrecht beliebigen Ausschlafens zu genießen. (TiV: 534)

(19) Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere Aufmerksamkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge wendet? Sie betäu-be und betäu-bezaubetäu-bere, hieß es, Verstand und Gedächtnis dergestalt, daß die Seele vor Vergnügen ihres eigentlichen Zustandes ganz vergesse und mit staunender Bewunderung an dem schönsten der besonnten Gegenstände hangen bleibe: ja, nur mit Hilfe eines Körpers vermöge sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben. Amor fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der Gott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt und Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit allem

10 Die Frage nach dem Referenten des wir-Pronomens kann mit Bezug auf Textstellen

erklärt werden, die den Gedankenfluss der Erzählfigur Aschenbach und seine platonischen Reminiszenzen wiedergeben. Im folgenden Beispiel wird der Referent explizit ausge-drückt: „Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft, führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.“ (TiV: 589).

(13)

Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten. (TiV: 553-554)

Weniger eklektisch scheint die funktionale Verwendung der deiktischen Pronomen bei Kafka. Dafür kann die Anhäufung derselben in kürzeren Textpassagen, wie z. B. die außergewöhnliche Dichte der ich-Formen im bereits beobachteten Beispiel (7), zu einer gewissen Unsicherheit bei der Zuweisung der Gesprächsrollen führen.

3.1.2 Personalpronomen und demonstrative Pronomen der dritten Person Da Demonstrativa typische Mittel der gesprochenen Sprache sind (wEinricH 1993: 385), wird in allen untersuchten Texten eine niedrige

Frequenz derselben erwartet. Auffällig ist deshalb ihr relativ häufiges Vorkommen in den Texten der Physik, wobei es sich vor allem – wie die tabellarischen Angaben zeigen (Tab. 4) – um Demonstrativa des Typus

dieser/diese/dieses handelt, die die expressive Fähigkeit besitzen, auch

in schriftlichen Texten auf einen zeitlich oder räumlich naheliegenden Gegenstand zu verweisen (duden82009: 286).

Autor er sie Es Pl. samt der die dasge- Pl. die-ser die-se dies/es Pl. samt

ge-Kafka 296 30 134 106 566 4 ∅ 52 ∅ 3 ∅ 8 1 68 Mann 504 38 24 43 609 1 ∅ 18 ∅ 2 2 10 1 34 KS ∅ 1 ∅ 2 ∅ ∅ 2 ∅ ∅ ∅ 1 ∅ AL 45 21 16 23 ∅ ∅ 4 ∅ 4 4 32 1 HM 8 1 7 6 ∅ ∅ 1 ∅ ∅ ∅ 3 ∅ Physiker gesamt 53 24 23 31 131 ∅ ∅ 7 ∅ 4 4 36 1 52

Tab. 4 Frequenz der Personalpronomen und der Demonstrativa in den untersuchten Texten

Die relativ seltenen Demonstrativprononima der literarischen Texte erscheinen vorwiegend in ihren dialogischen Teilen, in denen sie ersicht-lich dazu dienen, den Gesprächsduktus nachzuahmen. Beispiele dieser Art kommen bei beiden Autoren vor, wie (20) und (21) zeigen:

(20) „Ich habe aber gehört, daß man sie auffüttern kann.” / „Da sind Sie gut berichtet. Das kann man. Aber wer wird das machen?” (Unglücklichsein: 35)

(14)

(21) „Ich fahre Sie gut.“ / Das ist wahr, dachte Aschenbach und spannte sich ab. Das ist wahr, du fährst mich gut. (TiV: 526)

In den Texten der Physik scheinen die demonstrativen Pronomen die Funktion auszuüben, eindeutige Relationen zwischen den Referenten herzustellen. Beispielsweise verweist dieser in (22) auf den Nahbereich. Daraus wird der Bezug des Pronomens zu der am nächsten liegenden mor-phologisch passenden Nominalgruppe (einen Stab) deutlich ausgedrückt (duden 2009: 286).

(22) Wir denken, daß A einen Stab hat; dieser ruht für ihn und liegt auf der z-Achse […] (AL)

3.1.3 Phorische und leere es-Formen

Tab. 5 zeigt das Verhältnis von phorischen es-Formen, die auf ein Nomen bzw. eine Nominalphrase oder eine Textstelle hinweisen, und leeren es-Formen, die nur grammatische und keine verweisende Funktion ausüben. Gemäß den Angaben erscheinen rein grammatische es-Formen mit jeweils 88, 90 und 83 Okkurrenzen in den quantitativ vergleichbaren Korpora als gleichmäßig verteilt. Was das Frequenzverhältnis zwischen den zwei funk-tionalen es-Typen angeht, fällt die Höhe desselben in Kafka auf11.

es leeres es %

Kafka 134 88 1,5%

Mann 24 90 0.3%

Physik gesamt 23 83 0.3%

Tab. 5 Frequenz der phorischen und der leeren es-Formen

Unauffällig ist das Verhalten der es-Formen bei Thomas Mann. Bemerkenswert ist es dagegen, dass die wissenschaftlichen Texte es (bzw.

das/dies/dieses) als formales Subjekt in einer syntagmatischen Verbindung

mit Konjunktiv I-Formen der Verben sein (23) oder mögen (24) routiniert gebrauchen, in der der Konjunktiv als Ausdruck von Konditionalität ver-wendet wird. Daraus resultieren es sei/es möge-Konstruktionen, die ty-pischerweise als einleitender Ausdruck für die Darstellung theoretischer Modellbildungen dienen, und formale Eigenschaften, die bestimmte

se-11 Die Angaben sollten allerdings einzeln überprüft werden, weil es in manchen Fällen

richtig schwierig ist, die jeweilige Funktionalität der es-Formen zu erkennen, was hier als Phänomen der Scheinreferenz erklärt wurde.

(15)

mantische Erwartungen erwecken: Ihr Auftauchen gilt für den Leser als Zeichen, dass eine Demonstration folgt. Derartige sei/möge-Konstruktionen mit es-Subjekt kommen in den beobachteten literarischen Texten nicht vor. (23) Es seien Wx, Wy, Wz die Komponenten der Geschwindigkeit an einer

Stelle der Materie, w die Größe der Geschwindigkeit, so würde ein Vektor im Raume dem nur bei wirklicher Bewegung, nicht jedoch im Falle der Ruhe entsprechen. (HM)

(24) Es mögen nun A und B dieselbe Erscheinung betrachten. (AL) 3.1.4 Das Indefinitpronomen man

Die Frequenz des Indefinitpronomens man (Tab. 2) ist erwartungsgemäß (vgl. 3.1.1 und Fußnote 9) höher bei den Physikern. Das man-Subjekt der Physik bezieht sich eindeutig – wie in (25) – auf die neutrale Handlung einer nicht näher bestimmten Person.

(25) Die Lösung ist räumlich symmetrisch um den Anfangspunkt des Koordinatensystems in dem Sinne, daß man wieder auf dieselbe Lösung stößt, wenn man X1, X2, X3 einer orthogonalen Transformation (Drehung) unterwirft. (KS)

Anders steht es bei den Schriftstellern, die die potenziale mehrfache Expressivität des Indefinitpronomens man ausgiebig ausnutzen. Diese kann nach Duden (2009: 320) von der Vertretung des eigenen Ichs bis zur ge-samten Menschheit reichen. Sowohl bei Kafka als bei Mann können unter-schiedliche Funktionen von man beobachtet werden. Im Beispiel (26) steht die erste man-Form für ein generisches Subjekt, wobei die Formulierung

man kann nicht sagen als es kann nicht gesagt werden paraphrasiert werden

kann. Das man-Subjekt der Verbalform tritt muss hingegen in Relation zum Pronomen wir und dessen Referenten (die Handwerker und Geschäftsleute) stehen, damit dem Satz ein gewisser Sinn zugeschrieben werden kann. Auch in Thomas Mann können man-Formen mit unterschiedlicher Funktion be-obachtet werden. In Beispiel (27) dient man als das unpersönliche Agens des Satzes man kann sagen. Dagegen verweist man in (28) auf einen be-stimmten Referenten (die an einer früheren Stelle genannten Stewards der

Dampfer). Ein derartig personaler man-Gebrauch kann mehr oder

weni-ger bestimmt sein. In (29) kann (oder kann nicht) die Relation zwischen

man und der Hauptfigur erstellt werden. Dieser Funktionalgebrauch von man erweist sich bei Kafka als entschieden unkooperativ, wenn er

(16)

ande-ren Pronominalformen in einem kürzeande-ren Kontext alterniert wird, z. B. die Abfolge wir-man in (30), was Pronominalsynonymie und eine gewisse Referenzunsicherheit verursacht.

(26) Man kann nicht sagen, daß sie [die Nomaden] Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles. (Ein altes

Blatt: 209)

(27) man kann sagen, daß seine ganze Entwicklung ein bewußter und trot-ziger, alle Hemmungen des Zweifels und der Ironie zurücklassender Aufstieg zur Würde gewesen war. (TiV: 512)

(28) Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu reg-nen begann. (TiV: 520)

(29) Eine Stunde verging, bis sie [die Barke des Sanitätsdienstes] erschien.

Man war angekommen und war es nicht; man hatte keine Eile und

fühlte sich doch von Ungeduld getrieben. (TiV: 521)

(30) Alles war gleichmäßig erwärmt, wir spürten nicht Wärme, nicht Kälte im Gras, nur müde wurde man. (Kinder auf der Landstraße: 15) 3.1.5 Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion

Da Präpositionaladverbien mit da als Indikatoren von Textkohärenz die-nen köndie-nen, kann erwartet werden, dass sie häufiger in den klarheitsanstre-benden Texten der Physik als in den erzählerischen Texten erscheinen. Eine Tendenz dieser Art wird von den Untersuchungsergebnissen bestätigt (Tab. 6), obwohl der Unterschied der jeweiligen Frequenzen nicht überwältigend groß ist. Die Varietät der adverbialen Pro-Formen erscheint als minimal (12) bei Kafka und als maximal (17) bei Mann; die Texte der Physik ent-halten 15 verschiedene Typen derselben. Man kann daraus entnehmen, dass Thomas Mann das rhetorische Prinzip des variatio delectat auch auf gram-matischer Ebene, nämlich was die Auswahl der Präpositionaladverbien be-trifft, gelten lässt.

(17)

Kafka [Romane]12 Mann gesamt

(lit. Korpus) Physiker gesamt

dabei 5 [102] 3 8 22 30 dadurch 5 [114] 0 5 9 14 dafür 7 [95] 2 9 4 13 dagegen 2 [77] 0 2 1 3 daher 0 [63] 2 2 4 6 dahin 0 [10] 1 1 1 2 damit 11 [226] 6 17 14 31 danach 2 [16] 0 2 1 3 daneben 0 [6] 0 0 1 1 daran 5 [157] 3 8 2 10 darauf 3 [147] 2 5 6 11 daraus 0 [13] 0 0 2 2 darein 0 [0] 1 1 0 1 darin 0 [96] 3 3 3 6 darüber 1 [126] 1 2 2 4 darum 3 [43] 2 5 1 6 darum 0 [12] 1 1 0 1 davon 4 [120] 2 6 11 17 dazu 3 [102] 1 4 4 8 dazwischen 0 [6] 2 2 0 2 gesamt 51 32 88

Tab. 6 Frequenz der Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion in den untersuchten Texten12

Was die Auswahl der einzelnen Adverbien angeht, erscheint damit als die am häufigsten vorkommende Form, ein Befund, den die Angaben von Lenders/Schanze/Schwerte (1993) bestätigen. Die relativ am häufigsten rekurrierende Form ist das Präpositionaladverb dabei der Physik, womit seine Beschaffenheit als typisches Sprachmittel der Wissenschaftssprache mit wissensorganisatorischer Funktion (redder 2009: 195) auch unter

Berücksichtigung anderer Ergebnisse (bonGo 2011) empirisch bestätigt

wird.13

12 Die Werte der Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion können in diesem Fall mit den

Konkordanz-Angaben betreffend Kafkas Romanen Der Verschollene – Der Prozeß – Das

Schloß nach Lenders / Schanze / Schwerte (1993) verglichen werden (eckige Klammern).

Andere Ergebnisse sind nicht vergleichbar, weil darin die jeweiligen Serien ich/du/er/sie/

es/wir/ihr/sie und mein/dein/sein/unser/ euer/ihr unter einem einzigen Lemma

zusammen-gefasst, Demonstrativpronomen zusammen mit homographen bestimmten Artikeln und Relativpronomen unter dem Lemma der/die/das eingeordnet worden sind.

13 Entsprechende Angaben können aus einer empirischen Untersuchung über die

(18)

3.2 Pronominaldichte und Kettenlänge

Pronominaldichte und Kettenlänge sind wichtige Faktoren der Textverständlichkeit.14 Unkooperative Verwendung der Pronomen kann vor allem da beobachtet werden, wo Pronominaldichte in kürzeren Kontexten vorliegt. Lange pronominale Referenzketten scheinen in den wissenschaft-lichen Texten relativ selten zu sein. Beispiel (31) zeigt einen Ausnahmefall. Die Pronominalkette im Text, die zwischen der Benennung des Referenten durch die Nominalphrase die schon öfters genannten Beobachter A und B und der Renominalisierung durch A und B enthalten ist, besteht aus sieben einschlägigen Formen vom Plural-Pronomen sie bzw. von dem Numeral-Pronomen beide. Der Text zeigt insgesamt eine gewisse Pronominaldichte, da in der Umgebung der Pronominalkette auch andere Pronominalformen (z. B. wir, es, es, es) vorkommen. Die Pronomen werden allerdings auf kooperative Weise verwendet.

(31) Stellen wir uns also vor, daß die schon öfters genannten Beobachter

A und B ihre1 Gedanken austauschen können. Dann wird zwischen ih-nen2 eine Diskussion eintreten können über die Frage, wer von beiden3 sich bewegt hat und wer nicht. Es ist klar, daß, wenn nichts anderes da ist als sie4 und ihre5 Laboratorien, diese Frage sinnlos ist. Gibt es aber einen Äther, der noch so viel Substanzialität besitzt, daß es einen Sinn hat, von Bewegung relativ zu demselben zu reden, so würde die Frage: wer hat sich relativ zum Äther bewegt, wohl einen Sinn ha-ben. Die Frage, wer von beiden6 sich relativ zum Äther bewegt hätte, oder ob beide7 sich relativ zum Äther bewegt hätten, könnte aber (das Relativitätsprinzip ist hier immer als allgemeingültig vorausgesetzt) von A und B wieder nicht entschieden werden. (AL)

Pronominaldichte, die zu einem unkooperativen Gebrauch der Pronomen führt, kann bei den Physikern sehr selten aufgezeichnet werden. Ein Beispiel bietet (32), in dem eine Nominalphrase (der Zeiger einer Uhr) und zwei Namen (A, B) auftauchen, die mögliche Referenten von identischen wurde unter den insgesamt 10.182 Wörtern, die in 20 Einleitungstexten von wissenschaft-lichen Zeitschriftenartikeln enthalten sind, die jeweilige Frequenz der folgenden da-Prä-positionaladverbien registriert: dabei (16x); damit (12x); dagegen (4x); dafür, daher (2x);

danach, daneben, dazu (1x).

14 Die vorliegenden Beobachtungen über Pronominaldichte, Kettenlänge und

Renominalisierung entstehen aus analytischen Eindrücken, die noch empirisch abgesichert und generalisiert werden müssen.

(19)

er-Pronominalformen sind: Der nominale Bezug des Possessivs seines2 ist

dabei (mindestens für Laien der Physik) nicht eindeutig.

(32) Der Zeiger einer Uhr, die relativ zu A keine Translationsbewegung hat, läuft in einem Zeitintervall T herum (der Zeiger wird so klein gedacht, daß wir für all seine1 Punkte x, y und z = 0 setzen kön-nen). An derselben Uhr kann nun B beobachten, daß, während sie in dem Ursprung seines2 Koordinatensystems steht, der Zeiger eine bestimmte Lage in den Momenten

(21) t´1 = 0, t´2 = T erreicht. (AL)

Typisch für Kafkas Texte ist Pronominaldichte innerhalb von Kontexten, in denen meistens sehr kurze Pronominalketten ineinanderfließen und auf verschiedene Referenten hinweisen. Daraus ergeben sich zahlreiche Beispiele der unkooperativen Verwendung von Pronomen, wie beispiels-weise in (33): a) Homonymie der wir1- und wir3-Ketten sowie der ich1- und ich3-Ketten, wobei wir-ich1 auf den Ich-Erzähler, wir-ich3 hingegen auf die Figur Ein Schakal verweist; b) Homonymie von er2 und er3, die auf zwei verschiedene Referenten (ein Araber / einer) Bezug nehmen; c) Homonymie der weiblichen Possessivform ihre4 (die sich auf die Nominalphrase meine Mutter bezieht) und der Pluralform ihre5 (die als Referent meine Mutter […] und ihre Mutter hat); d) Synonymie von er3 und ich3, Ko-Referenten von Einer (seinerseits auf ein Schakal bezogen); e) Synonymie von ich1 und den du1-Formen, die sich auf den Ich-Erzähler beziehen; f) tautologi-sche Referenz der ersten wir- und ich-Formen; g) tendenziell tautologitautologi-sche Determiniertheit der Pronomen Einer und er3, deren Semantik mit Bezug auf ein Schakal zu rekonstruieren ist; h) dasselbe gilt für er2 → ein Araber. (33) Wir1 lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen. Ein Araber2,

hoch und weiß, kam an mir1 vorüber; er2 hatte die Kamele versorgt

und ging zum Schlafplatz.

Ich1 warf mich rücklings ins Gras; ich1 wollte schlafen; ich1 konn-te nicht; das Klagegeheul eines Schakals in der Ferne; ich1 saß wie-der aufrecht. Und was so weit gewesen war, war plötzlich nah. Ein

Gewimmel von Schakalen3 um mich1 her; in mattem Gold erglänzende, verlöschende Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetz-mäßig und flink bewegt.

(20)

eng an mich1, als brauche er3 meine1 Wärme, trat dann vor mich1 und

sprach, fast Aug in Aug mit mir1:

„Ich3 bin der älteste Schakal, weit und breit. Ich3 bin glücklich, dich1 noch hier begrüßen zu können. Ich3 hatte schon die Hoffnung fast auf-gegeben, denn wir3 warten unendlich lange auf dich2; meine3 Mutter hat gewartet und ihre4 Mutter und weiter alle ihre5 Mütter bis hinauf zur Mutter aller Schakale. Glaube es!” (Schakale und Araber: 213) In diesem Textbeispiel kommt Renominalisierung nicht vor. In den Texten, wo das Phänomen beobachtet werden kann, scheint Renomina-lisierung bei Kafka nicht immer zu kooperativen Zwecken verwendet zu werden. Beispielsweise wird in (34) das durch die Nominalphrase

der Kaiser eingeführte Thema in der direkten Abfolge der Referenzkette

zweimal identisch realisiert (der Kaiser1, der Kaiser2). Eine ähnliche Wiederholung ergibt sich bei den Boten12 und Der Bote13. In Kafkas Texten scheint Renominalisierung ausgerechnet dann realisiert zu werden, wenn es aus kommunikativer Sicht nicht nötig wäre. Als Pendant dazu existieren wirre, ununterbrochene Pronominalketten wie etwa die Abfolge er5-er9. (34) Der Kaiser1 – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen

Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser2 von seinem3 Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten4 hat er5 beim Bett niederknien lassen und ihm6 die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm7 an ihr gelegen, daß er8 sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er9 die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines10 Todes – alle hindern-den Wände werhindern-den niedergebrochen und auf hindern-den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er11 den Boten12 abgefertigt. Der Bote13 hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann14; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er15 sich Bahn durch die Menge; findet er16 Widerstand, zeigt er17 auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er18 kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. (Der Kaiser und der Bote: 221)

In Thomas Manns Texten ist Pronominaldichte anders verteilt als bei Kafka. In seiner Erzählung können oft relativ lange Referenzketten beo-bachtet werden, deren Pronomen-Abfolgen auf kooperative Weise durch Renominalisierung unterbrochen werden, wenn konkurrierende Kandidaten

(21)

für dasselbe Pronomen auftauchen – wie es z. B. in (35) der Fall ist: seiner […] des Willens […] der Schriftsteller […] seinem.

(35) Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monate-lang eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der Prinzregentenstraße zu München aus allein einen weiteren Spaziergang unternommen. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden, hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Innern, jenem “motus animi continuus”, wo-rin nach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastenden Schlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeit

seiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So hatte er bald nach

dem Tee das Freie gesucht, in der Hoffnung, dass Luft und Bewegung

ihn wiederherstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend verhelfen

würden. (TiV: 501)

Text (35) stellt ein typisches Beispiel für den Erzählungstext Der Tod in

Venedig dar, in dem oft lange er-Pronominalketten mit Verweis auf das eine

Thema Gustav von Aschenbach nachgewiesen werden können. Oft werden die Pronominalketten durch Renominalisierung unterbrochen. Diese ergibt sich durch verschiedene Nominalausdrücke, die für denselben Referenten

Gustav von Aschenbach synonymisch stehen, u.a.: der Wartende (TiV: 501), der Autor (TiV:507, 512), der Schöpfer (TiV: 507), der Dichter (TiV: 508), der Künstler (TiV: 507); der Verfasser (TiV: 508), der Schauende (TiV:

530, 592), der Reisende (TiV: 518, 525, 528, 545, 547), der Aufbrechende (TiV: 544), der Alternde (TiV: 545), der Flüchtling (TiV: 548), der Gast (TiV: 549, 570, 585), der Betrachtende (TiV: 552), der Enthusiasmierte (TiV: 554), der, welcher dies Lächeln empfangen (TiV: 562), der Verwirrte (TiV: 567), der Betörte (TiV: 569), der Einsame (TiV: 570, 573, 574, 575),

der Verliebte (TiV: 572), der Starrsinnige (TiV: 577), der Heimgesuchte

(TiV: 584), der Berückte (TiV: 586), der Meister (TiV: 588), der würdig

ge-wordene Künstler (TiV: 588). Auf ähnliche Weise wird der Antagonist der

Erzählung (Tadzio) durch verschiedene Ausdrücke thematisiert. Bei ihrem ersten Auftritt wird die Erzählfigur als ein langhaariger Knabe von

(22)

im Text wird sie als der Knabe (TiV: 530, 532, 534, 537, 588) bezeichnet, später durch andere Nominalphrasen genannt, darunter: der Langschläfer (TiV: 534), der Knabe Tadzio (TiV: 550), der Ausgezeichnete (TiV: 552),

das Idol (TiV: 556), der Schöne (TiV: 556 560, 561 565, 587), der schwä-chere Schöne (TiV: 591), der Abgott (TiV: 563), der bleiche und liebliche Psychagog (TiV: 592). Aus dem in der Erzählung häufig vorkommenden

Gebrauch von Nominalgruppen mit Determinativa zur Bezeichnung der vorwiegend männlichen Schlüsselfiguren (u.a. der Fremde, der falsche

Jüngling, der Gondelführer) ergibt sich eine gewisse Referenz-Ambiguität,

wenn die Figuren zusammen mit dem männlichen Protagonist in kürzeren Kontexten erscheinen. Daraus entstehen zudem homonyme er-Pronomi-nalketten, wie beispielsweise in (36) die erste er-Kette, die auf Aschenbach hinweist, und die zweite, die auf den „falschen Jüngling” (hier als der

schauderhafte Alte bezeichnet) verweist. An der Stelle, wo die beiden

er-Ketten parallel ablaufen (er1 […] des schauderhaften Alten2 […] den2 […] dem Fremden1), ist eine gewisse Referenzambiguität wahrnehmbar, die teilweise auch bei dem Erscheinen eines dritten maskulinen Pronomen der dritten Person (der3) spürbar ist.

(36) Aschenbach1 gab zu verstehen, dass er1 eine Gondel wünsche, die ihn1 und sein Gepäck zur Station jener kleinen Dampfer bringen solle, wel-che zwiswel-chen der Stadt und dem Lido verkehren; denn er1 gedachte am Meere Wohnung zu nehmen. Man billigt sein1 Vorhaben, man schreit seinen1 Wunsch zur Wasserfläche hinab, wo die Gondelführer im Dialekt miteinander zanken. Er ist noch gehindert, hinabzustei-gen, sein1 Koffer hindert ihn1, der3 eben mit Mühsal die leiterartige

Treppe hinunter gezerrt und geschleppt wird. So sieht er1 sich minu-tenlang außerstande, den Zudringlichkeiten des schauderhaften Alten2 zu entkommen, den2 die Trunkenheit dunkel antreibt, dem Fremden1 Abschiedshonneurs zu machen. “Wir wünschen den glücklichsten Aufenthalt”, meckert er2 unter Kratzfüßen. “Man empfiehlt sich ge-neigter Erinnerung! Au revoir, excusez und bon jour, Euer Exzellenz!”

Sein2 Mund wässert, er2 drückt die Augen zu, er2 leckt die Mundwinkel, und die gefärbte Bartfliege an seiner2 Greisenlippe sträubt sich empor. (TiV: 522-523)

(23)

4. Schlussbemerkung

Zusammenfassend klassifizieren wir die dargestellten Beobachtungen in zwei Blöcke, und zwar: 1. Beispiele von kooperativer Verwendung von Pronomen, die die Herstellung eindeutiger Beziehungen zwischen Pronomen und Referenten fördern; 2. Beispiele von unkooperativer Verwendung, die mehrdeutige Relationen ermöglichen. Die Elemente der beiden Blöcke entsprechen keinen exklusiven Eigenschaften der zwei un-tersuchten Texttypologien, obwohl sie sich als dienlich erweisen können, um textsortenspezifische Charakteristiken hervorzuheben, Leseeindrücke zu systematisieren und Textinterpretationen intersubjektiv zu belegen.

Zum ersten Block gehören: a) der Gebrauch von demonstrativen Pronomen als Ausdruck eindeutiger Nähe/Ferne-Relationen; b) der rou-tinierte Gebrauch von es + Konjunktiv I von sein/mögen; c) der routi-nierte Gebrauch von dabei als argumentatives Mittel. Zum zweiten Block: a) die Polyfunktionalität der deiktischen Personalpronomen und des Indefinitpronomens man, vor allem wenn sie in einem kurzen Kontext er-scheinen; b) die Verwendung von demonstrativen Pronomen zum Zweck der realistischen Darstellungsweise der Gesprächssituation, wenn der Text die fiktiven Gesprächspartner und -beiträge nicht deutlich signalisiert, die-se letzten von den erzählerischen Textteilen grafisch nicht klar abgrenzt; c) die textuelle Aufhäufung von es-Pronomen, dabei das Phänomen der Scheinreferenz; d) aus kooperativer Sicht unmotiviert vorkommende Renominalisierung bzw. unmotivierte thematische Wiederaufnahme durch Wiederholung; f) Pronominaldichte in kürzeren Kontexten.

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