Abschied
von
der
Romantik
im
Gedicht
Friedrich Nietzsches Es
geht
ein Wandrer durch die
Nacht
ßrAndreasThomasberger
[1876]
Esgeht
einWandrer durch die NachtMit gutem
Schritt;
Undkrummes Thal und
lange
Höhn-Er nimmt sie mit.
5 Die Nacht ist schön
-Er schreitet zuund steht nicht
still,
Weiß
nicht,
wohinseinWeg
noch will. Dasingt
einVogel
durch die Nacht.
-„Ach
Vogel,
was hast Dugemacht?
10 Was hemmst Du meinen Sinn und Fuß
Und
gießest
süßen Herz-verdraßAuf
mich,
daß ichnun stehen mußUnd lauschen
muß,
Zu deuten Deinen Ton und Gruß?"
15 Dergute
Vogel
schweigt
undspricht:
„Nein, Wandrer,
nein! Dichgrüß
ich nicht Mit dem Getön!Ich
singe,
weil die Nacht so schön:Doch Du sollst immerweiter
gehn
20 Und nimmermehr mein Lied verstehn!
Geh nur von dann'
-Und
klingt
Dein Schrittvon fernnuran,Heb' ich mein Nachtliedwieder an, So gut ich kann.
25 Leb
wohl,
Du armerWandersmann!"[1884]
Der WandererEs
geht
ein Wandrerdurch die Nacht MitgutemSchritt;
Undkrummes Thal und
lange
Höhn-Er nimmt sie mit.
5 Die Nacht ist schön
-Er schreitet zu und steht nicht
still,
Weiß
nicht,
wohin seinWeg
nochwill. Dasingt
einVogel
durch dieNacht:„Ach
Vogel,
was hastdugemacht!
10 Was hemmst du meinen Sinn und Fuß
Und
gießest
süßen Herz-VerdrußIn's Ohr
mir,
daß ich stehen mußUnd lauschen muß
—
Was lockst du mich mit Ton und Gruß?"
-15 Der gute
Vogel
schweigt
undspricht:
„Nein, Wandrer,
nein! Dich lock' ich nichtMit dem Getön
-Ein Weibchen lock' ichvon denHöhn
-Was
geht's
dich an?20 Allein ist mir die Nacht nicht schön.
Was
geht's
dich an? Denn du sollstgehn
Undnimmer,
nimmer stille stehn!Was stehstdu noch?
Was that mein Flötenlied dir an,
25 Du Wandersmann?"
Der gute
Vogel schwieg
und sann: „Was that mein Flötenlied ihm an? Was steht ernoch?
-Der arme, arme Wandersmann!"
(KSA
11,
322)
Einleitung
Zwischen den Jahren der
Jugendlyrik
Nietzsches, 1854-1869,
und der Zeit der fruchtbarenlyrischen
Produktionab1882,
als imZuge
derVorarbeitenzudenIdyllen
vonMessina undder Fröhlichen
Wissenschaft
wieder eine Vielzahl neuer Gedichte und GedichtentwürfeVerhältnis-mäßig
selten dielyrische
Formwählt.1
Eines derwenigen ausgearbeiteten lyrischen
Werkedieser Phase ist sein Gedicht Es
geht
ein Wandrer durch die Nacht aus dem Jahr 1876.Dieses Gedicht ist
wenig
bekannt und wurde meines Wissens von der Nietzsche-Literaturselten
beachtet,
bis auf eineAusnahme,
eineDeutung
von JochenHörisch,
die sich aberkaum auf das Gedicht selber einläßt und daher
vernachlässigt
werdendarf.2
Jedoch weist dasWanderer-Gedichteine VielzahlvonEigentümlichkeiten
inFormgestalt
und Motivik aufsowieeine hohe
Verweisungsdichte
auf die zentralenThemen,
mit denenNietzschezudieserZeit sich
auseinandersetzte,
wodurchesalswichtiges
Dokument einerneuendichterischenund
philosophischen Selbstbestimmung
gelesen
werden kann: alsAbkehr,
das ist die zentraleThese meiner
Interpretation,
von derWagner-Welt
und dereigenen Dionysos-Philosophie
der Frühzeit.
Zunächst werde ich die
Textlage
desGedichts,
von welchem verschiedeneFassungen
existieren,
kommentieren und meine Wahl der frühenFassung begründen.
Danngebe
ich einenÜberblick
über dendazugehörigen biographischen
Kontext seinerEntstehung
undschlüssele die direkten
Bezüge
auf. In einem weiterenDurchgang
durchs Gedicht werden dessenmetrische,
sprachliche
und motivischeElementebeschrieben,
Zitate undAnspielun-gen benannt und im abschließenden Teil über eine
philosophische Ortsbestimmung
einerDeutung
zugeführt.
Philologica
Von Nietzsches Wanderer-Gedicht existieren im wesentlichen zwei
Hauptfassungen
mitjeweils geringfügig
abweichenden Varianten. DieersteFassung
schreibtNietzsche ineinemBrief an Erwin Rohde in der Nacht vom 17. zum 18. Juli 1876 nieder
(KSB
5,
176f.),
notiert sie sich dann mit kleinen
Änderungen
derInterpunktion
in sein Notizbuch(KSA
8,
302,
17[31]);
die zweiteFassung
gehört
unter demTitel Der Wanderer der sogenanntenFragment-Gruppe
28 aus dem Herbst 1884(KSA
11,
322f.;
28[58])3
an, die den Fundusfür das
spätere
lyrische
Schaffen Nietzsches darstellt. Nietzscheprojektierte
zu dieser Zeiteine separate
Gedichtausgabe,
wofür er auch ältere Gedichteheranzog
und überarbeitete.1 Zu dieser Einteilung des lyrischen Werks in drei Gruppen siehe die ausführliche Begründung bei W. Groddeck, „GedichteundSprüche.
Überlegungen
zurProblematik einervollständigen,textkritischenAusgabevonNietzschesGedichten",in: G. Martensu. W. Woesler(Hg.),„EditionalsWissenschaft". Festschrift fürHansZeller, Tübingen1991, 174 f.
2 J. Hörisch, „Deutschland 1875. FriedrichNietzsche: ,Es gehtein Wandrer durch dieNacht'", in: K. Lindemann(Hg.), europalyrik. 1775
-heute,Paderborn1982,219-225(vgl.dazu Anm. 14).Am Rande erwähnenes z. B.: E. Bertram,Nietzsche. Versuch einerMythologie,Berlin1918, 246;J.Köhler, „Die FröhlicheWissenschaft". Versuch über diesprachlicheSelbstkonstitutionNietzsches(Diss.),Würzburg
1977,29f.; H. Pfotenhauer,Die Kunst alsPhysiologie, Stuttgart 1985, 151 u. 172 f. Ein Sonderfall stellt
die „Deutung" vonP. Grundlehner, ThePoetry ofFriedrichNietzsche, Kap. IV/1: „DerWanderer", Oxford1986,64-69dar,da ihr Autorunsinnigerweisedavonausgeht,daß diespäte Fassungdes Wande-rer-Gedichtsvon1884 mit der früherenausgetauschtwerden und sodannausdem Briefkontextgedeutet
werden könnte (s. 320).
3 DieUmarbeitungsschrittesindwiedergegebenin KGWVII/4,2: „NachberichtzursiebentenAbteilung",
EinenTeil dieser Gedichte veröffentlichte Nietzsche dann in seinen PublikationenderJahre
1885-1887, viele,
darunter auch dasWanderer-Gedicht,
welches das älteste der wiederaufgegriffenen
war, ließerunveröffentlicht. Dennochgilt
dieseFassung allgemein
alsdie„endgültige",
auch Montinari bezeichnet sie in seinem KommentarzurStudienausgabe
alssolche
(vgl.
KSA14,
709)
undJost Hermanddruckt sie inseinerNietzsche-Gedicht-Aus-gabe ab.4
Es ist aberfestzuhalten,
daß Nietzsche diespäte
Fassung,
indem er von ihrerVeröffentlichung
absah,
auch niemalsautorisierthat undmandeshalbnur voneiner„letz-ten"
Fassung
sprechen
dürfte,
hingegen
die frühereFassung
durch ihreAbsendung
ineinemBrief
wenigstens
eineschwacheAutorisierung
erhalten hatte. Darüber hinauswäredieFrage
nach der
Endgültigkeit
über einequalitative Abwägung
derFassungen
zubeantworten,
wobei in meinen
Augen
der früheren klar derVorzug
gebührte.5
Mit dieser
Beschreibung
derTextlage
ist auch ein weiteres Problem fürdieInterpretation
der Nachlaß-Gedichteangesprochen:
dieFrage
ihrer Isolierbarkeit. Wolfram GroddecksEinsicht,
daß diepublizierten
GedichteNietzsches„fast
ausnahmslos in einemkomposito-risch kalkulierten
Zusammenhang
mit seinem Gesamtwerkstehen,
aus dem sie sich nichtohne
Sinnverkürzung
isolierenlassen",6
trifftauch auf einen bedeutenden Teil der inKon-voluten
gruppierten
Nachlaß-Gedichtezuund vorallem auch auf dieGedichte,
die ineinenBrief
eingebettet
überliefertsind. Daherwerde ichnunaufdieäußeren,
durchdenBriefkon-text
gegebenen biographischen
Bezüge eingehen,
undsichten,
welchesMaterial dasWande-rer-Gedichtan seinerOberfläche einerersten
Deutung
anbietet.Biographica
Die Leitmotive der
Freundeskorrespondenz
inden WochenvorderEntstehung
desWande-rer-Gedichts setzten sich zusammen aus
Klagen
über die Einsamkeit des Gelehrtendaseinsund
erwartungsfrohen
Betrachtungen
über die imHerbsterstmalig
stattfindendenBayreuther
Festspiele,
andenenNietzscheundRohdegemeinsam
teilnehmen wollten.Soschreibt Rohde am2.7.1876:„[...]
wieeinsam imGrandeunsereinerunterdieser akademischenJetztzeit-lichkeit'
steht,
ander einJunggeselle
sichnoch dazu viel mehr reibenmuß alswer sich insein
eignes
Schneckenhaus zurückziehen kann."Wenige
Zeilenspäter
kündigt
er aberdennoch an, sich zum Winter
„einer
weit strengeren Einsamkeit zubefleißigen".
Hieranknüpft
erschopenhauerisch gefärbte Ausführungen
über seineeigene
unglückselige
„Wil-lens
"-Abhängigkeit
an, bei derNietzsche,
der „so vielglücklicher
angelegt"
sei,
kaumbegreifen
werde,
wieschwerer an seiner „ganzprofan
nach Glückverlangenden
irdischen4 F.Nietzsche, Gedichte,hg. v.J.Hermand,Stuttgart1964,25; ferner J.Köhler,„Diefröhliche
Wissen-schaft", 29; sowieD. Breuer, Deutsche Metrik undVersgeschichte, Stuttgart 1981,236.
5 AusfolgendenGründen:Erstens ist diefrühereFassunglakonischer,diezweite durchdieErgänzungen
weitschweifiger und in den Teilen ungleichgewichtigergeraten; zweitens steht die frühe Fassung in einem dichtenVerweisungszusammenhang, innerhalbdessen sie einewichtigeneuePosition Nietzsches
mar-kiert, während NietzschedieseGedichtthematik, alser die letzte Fassung schrieb, längsthintersich
gelassenhatte undesvermutlichdeshalb in eineeinfache Parodieumzugestaltenversuchte,indemerden
Vogelgesang nuneindeutigalseinenLockruf nach einemWeibchen bestimmte. 6 W. Groddeck, „Gedichteund Sprüche", 170, vgl. 174.
Hälftezu tragenhabe". Schließlich münden Rohdes
Schilderungen
seiner Nötheein indenWunsch nach
Erlösung,
welcheersich durch dieWagnersche
Musikzuerlangen
erhofft:„-Ach
Freund,
wie sehne ich mich nachBayreuth,
demeinzigen
Ort der Weltwoichmich,
undmeine
Leiden,
undzugleich
diePhilologie
und alleWagnerei,
und diese fataleakademi-scheDunstluft
völlig
loswerdeundineinwonnereiches Meereintauchenkann!"(KGB H/6,
352
f.)
Zwei Wochennach diesem
merkwürdigen
Brief,
in dem der Wunsch nach einemgesi-cherten
bürgerlichen
LebenundDionysos-Jüngerschaft
erstaunlichverträglich
nebeneinanderbestehen,
am17.7.1876,
sendet RohdeüberraschendeineVerlobungsanzeige
anNietzsche,
dieermit
folgendem
Begleitschreiben
versieht:„Erschrick nicht,
geliebter
Freund! ich kannaugenblicklich
nichtviel redenunderklären;
möchte ich endlichaneinemjugendlich
mädchenhaften,
mir ganzergebenen
Herzen Ruhefinden,
gefunden
haben.- Ich will morgen
beginnen
meinerBrautausdeiner4.
Betrach-tung
(in
dieichalleine michbereits tiefversenkthabe)
vorzulesen. Sie istnoch sehrjung;
ichmuß und will sie
erziehen,
und ihreHingebung
wird mirsleicht machen."(KGB
II/6,
366)
Nietzsche antwortet
gleich
amnächstenTag:
„Sei
es zumGuten,
liebergetreuerFreund,
wasDu mirdameldest,
zumwahrhaftGuten:das wünsche ich Diraus ganzem vollen Herzen. So willst Dudenn im Jahre des Heils
1876DeinNest
bauen,
wieunserOverbeck,
und ichmeine,
Ihrwerdet mir dadurchdassIhr
glücklicher
werdet,
nicht abhanden kommen.Ja,
ich werderuhiger
an Dich denkenkönnen: wenn ich Dir auch indiesem Schritte vielleicht nicht
folgen
sollte. Denn Du hattest die ganzvertrauende Seelesonöthig
und hast sieund damitDich selbst aufeinerhöheren Stufe
gefunden.
Mirgeht
esanders,
der Himmel weiss es oderweiss esnicht.Mir scheint das alles nicht so
nöthig
-seltne
Tage
ausgenommen.
-Vielleichthabe ich
daeine böse Lücke in mir. Mein
Verlangen
und meine Noth istanders: ich weisskaumes zu sagen und zuerklären. Diese Nacht fiel's mir ein einen Vers daraus zu
machen;
ich bin kein
Dichter,
aberDu wirst mich schonverstehen."Dann
folgt
das Gedicht und nach ihm dieden BriefabschließendenZeilen:„So
geredet
zumir,
Nachts nach der Ankunft Deines Briefs. FN. Nebst den allerherzlichstenGlückwün-schen meiner Schwester."
(KGB
5,
176f.)
Mit diesen
biographischen
Informationen könnte man sich schnell eineInterpretation
zurechtlegen,
dieetwa so aussähe: Durch dieFormulierung:
„sowillst du denn dein Nest bauen" wird Rohde mit demVogel identifiziert,
wofür sich noch weitereBelege
in derspäteren
Korrespondenz
findenlassen,
etwa wenn Nietzsche am 20.5.1877 an Rohdeschreibt:
„ich
dachteDeinerlange,
als ich imhellstenGrüne,
in der stärkendsten Blüthen-baumluft dieVögel singen
und zwitschern hörte. Mir fielein,
daß Rée sagte, es werdeselten ein so schönes Paar
geben
als Dich und DeineBraut,
und ichglaube
wohl gar, Ihr werdet immer schöner."(KGB 5,
239)
DieWendung
„auch
wenn ich Dir vielleicht darinnicht
folgen
sollte"spielt
vermutlich leiseaufNietzschesvergebliches
WerbenumMathildeTrampedach
an, dererzwei Monate zuvoreinenHeiratsantrag
überbringen
ließ. In diesem hielt er, unterVerwendung
von Bildern aus dem Umkreis derWanderer-Metaphorik,
umherzlich nach
Befreiung
und Besserwerden strebt? Auf alle Pfade des Lebens und des Denkens?"(KGB
5,
147)
Somit sähe sich Nietzsche als den rastlos und einsamgehen
müssendenWanderer,
dem dasVogellied
Herzverdrußbereitet,
daesin ihm eineschmerzli-che
Ahnung
von einem Glück der erfüllten Liebewachruft,
das zu teilen ihm aber nichtbeschieden ist. Auch die
spätere
Fassung,
inder derVogel singt:
„Ein
Weibchenlock' ichvonden
Höhn",
fügte
sichbequem
dieser Lesart. FürJanz ist das Wanderer-Gedicht dennauch eine
„dichterische
Vision",
mit welcher Nietzsche seinenStandpunkt
zurFrage
derVerehelichung
schildere,
und auch Ernst Bertram will in ihmentsprechend
StifterscheHagestolz-Motivik
ausmachen undbezeichnetdieStimmung
des Briefes als„tiefernst".7
Dochgibt
es mehrere deutliche Hinweise auf eine weitere Sinnebene des Gedichts. Da ist zunächst eineSpur,
auf die derVerlobungsbrief
Rohdes führt. Wie mansicherinnert,
teilteRohdeNietzsche
mit,
erseigerade
imBegriff
seinerBraut ausder4.Unzeitgemässen
Betrachtung
vorzulesen. Umsoauffälliger
mußteihmsein,
daß sich in dieserSchrift einepräzise
Parallelstelle zum Wanderer-Gedicht findet: Es heißt dort im 3. Abschnitt überWagner:
„Wie
einWanderer durchdieNachtgeht,
mit schwererBürdeund auf das Tiefste ermü-det unddochübernächtig
erregt, somag es ihmoftzu Muthe gewesensein;
einplötzli-cher Toderschien dann vorseinenBlicken nicht als
Schreckniss,
sondern alsverlocken-des liebreizendes
Gespenst.
Last,
Weg
undNacht,
alles mit einemMaleverschwunden!-das tönte verführerisch."
(KSA 1,
441;
vgl.
auch Bd.8,
216)
Offenbar ist für Rohde eine versteckte Botschaft in demWanderer-Gedicht
enthalten,
mit der Nietzsche seinVerhältnis zuWagner
und dessenAuffassungen
thematisiert. Nietzschesetztsich indiesem GedichtandieStelle
Wagners
und nimmt dabei einschneidendeKorrek-turen an seiner
bisherigen Konzeption
vor, durch die er sich vonWagner
entschiedendistanziert. Dies
gilt
es imfolgenden
aufzuzeigen.
Zuvor seiabernochzweierlei nebenbei bemerkt. Zumersten, daßindem eben
angeführ-tenZitat die
Anfechtungen
des Wanderers nichtnur ausderSehnsuchtnacheinem Eheweibbestehen,
wieesja
die 2.Fassung
desWanderer-Gedichtsexplizit
behauptet,
sondern nochdasganze
spätromantische
Erlösungsinventar
vonNacht/Frau/undTod8 präsent
ist undman7 C.P.Janz,FriedrichNietzsche,Bd. 1,München1978,762;und E.Bertram, Versuch einerMythologie, 246. Beidemachen sichbeiihrer unmittelbarbiographischenLesart abernichtdieMühe,dieBezügezu
denBrieftextenaufzuzeigen.Janz kommentiertandieserStelle dasGedichtendeunrichtigmitder
Bemer-kung: „[...]und Nietzschegingweiter: Rohdeerhieltüber einJahrkeinenBriefmehrvonihm"
-denn Nietzsche schreibtihmam22.9. und 30.12.1876undam20.5.1877,außerdem trafensie sichin
Bay-reuth.
-Eineneuerebiographische Deutungsvarianteder
Entfremdung
zwischen RohdeundNietzschefindet sichbeiJ.Köhler,ZarathustrasGeheimnis, Nördlingen 1989,232 f.; und K. Goch, Nietzsche.
ÜberdieFrauen, Frankfurt a.M. 1992, 150f., die das „andere Verlangen" Nietzschesals homosexuelles lesen: „DerWaldvogel singtvonder Liebezwischen MannundFrau, unddieses Lied ist nicht für ihn
gemacht." (Goch,ebd.)VonwasderVogel singt, ist indererstenFassung, auf die sich hierbezogen
wird, m. E. soeindeutig nicht. Bemerkenswertist indes, daß derNachtvogel zumWaldvogel erklärt
wird, und sich sounversehens doch ein Verweis aufWagner eingeschlichen hat (- zum Bruch der
Freundschaftvgl. man auch meine 17.Anm).
8 Zurromantischen Motiv-Konstellationvon„Nacht/Mutter/Tod"vgl.manden lesenswertenAufsatzvon
G. Kaiser, „MutterNacht
-MutterNatur",in: F. Kittler(Hg.),DieAustreibungdes Geistesausden
dieses damit auch dem
Vogellied
der frühenFassung
zuordnen kann. Zumzweiten,
daßdieser Personenwechsel in einer Parallelstelle ein
schlagender Beleg
für dieGültigkeit
vonNietzsches oftnicht ernst genommener Selbstcharakteristik seiner Schrift Richard
Wagner
inBayreuth
aus Ecce homoist,
denn darin erklärt er:„[...]
an allenpsychologisch
ent-scheidendenStellen istnur vonmir dieRede,
-mandarfrücksichtslos meinen Namen oder
das Wort
.Zarathustra'
hinstellen,
woderTextdas WortWagner giebt.
[...]
psychologisch
sind alleentscheidenden
Züge
meinereignen
Natur in dieWagners
eingetragen
[...]."
(EH,
KSA6,
314)
Metrum und Reim
Dieerstemarkante
Distanzierung
wird schon durch Metrum und Reimerreicht,
welche ich zunächstbeschreibeund dann deute. DasWanderer-Gedichtist mit Ausnahmeeiner Freiheitim Vers Zeile
16, „Nein,
Wandrer nein! Dichgrüß
ichnicht",
konsequent
in Jambenabgefaßt.
Zumeist handelt es sich umjambische
Vierheber,
diegelegentlich
von einemZweiheber
abgelöst
werden,
wodurch dieStrophen
aufgelockerter gegliedert
werden(-
dieBrieffassung
istzweistrophig,
diespäteren
vierstrophig).
Die erstenvier Verszeilen sowiedie Zeilen 16 und 17
können,
wie der Reimnahelegt, jeweils
auch als auf zwei Zeilenverteilte Sechsheber
gelesen
werden.Kreuzreimezu
Beginn,
dann Paar- bzw. Haufenreimekennzeichnen dasGedicht,
wobeidie
paargereimten
Vierheber als strengalternierend-akzentuierende,
achtsilbige
„Knittel-verse"9
abgefaßt
sind. Die Verse schließenausnahmslos miteinsilbiger,
voller Kadenz. Die Sätze und die Verse enden meistgemeinsam,
d. h. der Vers istverhältnismäßig
unselbständig,
erpaßt
sich derSyntax
an. Die Verszeilenwerden durch dieseAnordnung
sehr
faßlich,
sie sind leicht undschnell vom Ohr aufzunehmen. Die Verszeilensind damitals
regelrecht
„anti-dionysisch"
zuqualifizieren,
dasie sichnach denOrdnungsbedürfnissen
des Verstandes richten:
-anstelle
dionysisch-rauschhafter
Gefühlsvereinigung
steht dasapollinische
Maß in strengerRegelmäßigkeit.
Durch das strenge Aufund Ab der
Jamben,
die in denEingangsversen
eine hoheGe-schwindigkeit
erreichen,
wird der unbeirrte Schritt des Wanderers durch Thal und Höhnrhythmisch
umgesetzt. Eineerstekurze IrritationstelltdieunvermuteteAussage
des Versesin Zeile
6, „Die
Nacht ist schön-", dar,
dieüberrascht,
daderWandererbislang
nicht aufdie Natur achtete
(„Er
nimmt siemit").
Doch zieht dasTempo
desRhythmus
nach der kleinenUnterbrechung
sofort wiederan, bisplötzlich
dasVogellied erklingt.
Jetztbeginnt
auch derRhythmus
des Gedichtsstillzustehen,
regelrecht
auf der Stelle zu treten, was9 Ichverwendedie Bezeichnung „Knittelvers"uneigentlich, d. h. nichtnach demheutigen Verständnis,
wonach dem Knittelvers ein hohes Maßan Freiheit imMetrumzuerkannt wird. Es ist eine Frageder
Einschätzung, ob Nietzsche der modernen Lesartfolgt, oder noch derjenigen Heines oder Wagners
verhaftetbleibt, welche fälschlicherweise diestureMonotonie des Versmaßes noch alsKennzeichendes Knittelversesbehaupteten(vgl.dazu: A. Schöne,Faust. Kommentare, Frankfurt a.M. 1994,208ff. u.
268). Jenseits dieser terminologischen Frage ist für meine Zwecke nur wichtig, daß das
Wanderer-Gedicht bis aufo. g. Ausnahme sich keinerhythmischen Freiheiten gestattet.Gleichwohl muß ich
Nietzschebesonderskunstvoll in denZeilen 10-14 durch den
fünfmaligen
Endreim aufdemdunklen U-Vokal
erreicht,
in den diebisherige Bewegung
hinein und sich leer läuft. Dies bleibtsobiszumEnde des Gedichts. Nach einemPaarreim,
indem derVogel
dasGespräch
aufnimmt,
folgen
inseiner Rede wiederje
zweiHaufenreime,
mit vier- undfünfmalig
glei-chemEndreim.
Deutungsvorschlag
Ganz entgegen dem
„tiefernsten" Eindruck,
den Bertram von diesem Gedicht gewann, nimmt Nietzsche mit der eben beschriebenen Reim- und Versform denironisch-parodisti-schen Reimverston Heines
auf,10
den erauchspäter
nochöfter,
z. B. inScherz,
List undRache verwenden wird. Derdamals
häufig
noch alsInbegriff
der Unbeholfenheitgeltende
„Knittelvers"
weist das Gedicht als Parodieaus. Durch den strengenRhythmus
und den Endreimbewegt
sich Nietzsches WanderervonAnbeginn
anaber auchaufKonfrontations-kurs mit der
„Poetik"
Wagners,
diejede Beschränkung
des Affektausdrucks durchme-trischen
Zwang
ablehnt und dabei besonders den Jambus verdammt. InOper
und Dramabeurteilt erihn
folgendermaßen:
„Die
Unschönheit diesesMetrons[...]
istanund für sichbeleidigend
für das Gefühl." Der EndreimistWagner
bekanntlichalleinschon durch seine romanische Abkunftverdächtig.
Über
ihn befindet er:„Durch
die bloßeSteigerung
derWortsprache
zumReimverse kannderDichter nichtsAndereserreichen,
als dasempfangen-deGehörzueiner
theilnahmslosen,
kindisch oberflächlichen Aufmerksamkeit zunöthigen,
die für ihren
Gegenstand,
eben den ausdruckslosenWortreim,
sich nicht nach Innen zuerstrecken
vermag."11
Dieskönnte schon eine ganz brauchbare
Beschreibung
dessensein,
was sich imWande-rer-Gedicht zwischen
Vogel
undWandererabspielt,
in derenKommunikation per„Knittel-vers" undEndreim ein
„inneres"
unmittelbares Verstehennichtgelingt.
Bezeichnenderweise sind hier aber die Akzente anders gesetzt,und dieWertung
des Geschehensfälltnun alleinschon dadurch ganz verschieden aus, daß Nietzsches Wanderer
weiterzieht,
ohne daß ihm eineErlösung
ausdenZwängen
gebundener
RededurchMusikmöglich
geworden
wäre,
ja
diese ihm vielleicht auch gar nicht mehr zuteil werden
konnte,
wie ich imfolgenden
zubegründen
versuche. Dazuwerde ichdieverschiedenenBezugnahmen
aufWagner
undauchauf Nietzsches Frühwerk skizzieren und die Art von Nietzsches Wanderschaft über eine
knappe Untersuchung
des Wanderer-Motivs charakterisieren.Nietzsche
parodiert
indervonWagner
verfemtenReimversformdieWagnersche
Sprache
und Motivik selber. Zahlreiche archaisierende
Wendungen
aus demWagner-Wortschatz
werden
aufgenommen,
wiez. B.:„sann",
„Getön",
„geh
nur vondann'" oderbesonders:„süßen
Herz-verdraß",12
und durch den Vers in ihrerpeinlichen
Biederkeitbloßgestellt.
10 Vgl. D. Breuer,DeutscheMetrik,236.
11 R. Wagner, SämtlicheSchriftenundDichtungen, Bd.4, 5. Aufl., Leipzigo. J., 106, 111. 12 DieseWendung spielt offenkundigauf dasQuartettSachs
-David
-Eva
-Stolzingausdem 3.Aufzug
derMeistersingeran, wo esheißt:„EinerWeise mild undhehr,solltesholdgelingen,meines Herzens süß' Beschwer deutendzubezwingen." Auch hier soll durchDeutungdiesüße Herz-Beschwer über-wundenwerden, durch sie werdenStolzings „Natur-Triebe"domestiziert und in diebürgerliche
Ord-So
gibt
z. B. die vom Reim erzwungeneDehnung
in,,-verdruß"
denselben vollends derKomik
preis.13
Der
Dialog
zwischen dem Wanderer und demVogel,
und das ist nunentscheidend,
nimmt insbesondere
Bezug
aufdiegleich angelegte
Szenerie im 2.Aufzug
vonWagners
Siegfried,14
welcher„im
Jahre desHeils",
d. h. im Jahr derBayreuther Festspiele
(1876),
ebenfalls mit seinerUraufführung
auf demProgramm
stehenwird,
den aber Rohde und Nietzsche schonseitlangem
kannten. Dort ist esSiegfried,
dervomVogelgesang gefesselt
wird und das Lied des
Waldvögleins
verstehn will. Zunächst indem erversucht,
mit demSprechen
aufzuhören und dasVogellied
auf einem Rohr nachzuahmen:„Entrat
ich derWorte,
achte derWeise,
sing
ich soseineSprache,
versteh ichwohlauch,
was erspricht."
Dies versuchter
vergeblich,
aber nachdemerdas„Tier,
daszumSprechen
taugt",
Fafner,
erschlagen
hat,
vermag er, in deutlichem Kontrast zu NietzschesWanderer,
dasVogellied
zuverstehen.15
DerVogel
weist ihm mit seinemGesang
denWeg
zur BrautBrunhilde,
wodurch in
Siegfried
Angst
vor derSelbstpreisgabe
undzugleich
die Sehnsucht nach ihrgeweckt
werden:„Die
Stimme desWaldvogels:
Jetzt wüßt' ich ihm noch / das herrlichste Weib[...]
Sieg-fried:
O holderSang!
/ süßesterHauch! / Wie brennt sein Sinn / mir sehrenddie Brust!nung integriert. Nietzschewird einen Wegjenseitsderschlechten AlternativeWagners, in welcher
Zwangsordnungund Auflösungssehnsüchteeinanderfordern, suchen.
13 Auch dies isteinvonHeineinseinen GedichtengerneangewendetesVerfahren, um „Stimmung"zu
zerstören. Dies scheintaufgrundderstrengen Architektonik undden sonst „reinen"Reimen des Wande-rer-Gedichts hier ehervorzuliegenalsdie gleichwohl auch denkbare „positive",d. h. freie Handhabung
desEndreims, wie sieu. a. bei Goetheund den Romantikern Praxis war.
14 Diesen Bezugsehenauch Pfotenhauer(DieKunst alsPhysiologie, 173)und Hörisch („Deutschland 1875"). Pfotenhauer erblickt imWanderer-Gedichtebenfalls eineKontrafakturzuWagner,willdiese
aber in der AbkehrvonWagnersSchuld- undVerfehlungskonzeptausmachen. Jedoch stelltaucherfest,
es werde „inNietzsches Poem die Natur noch zumAnlaßvonsentimentalen Projektionen". Hörisch
indes behauptet, Nietzsche könne mit seinemGedicht nurunzulänglich und paradox avisieren, was
WagnersWerk musikalischvollzöge: die
Überwindung
derSprache. DieseLesart,dieNietzschederGegenaufklärungzuschlägtund ihmjene Position als Ziel vorsetzt, die Nietzsche unermüdlichkritisiert,
siedelt sicherklärtermaßenselbst im BereichjenseitsvonargumentativerZugänglichkeitan.-Hörischs
Deutung,dies sei des weiterenangemerkt, istsoallgemein angelegt,daß sieauf alles und garnichts
paßt,das Gedichtselberkaum in den Blicknimmt,mitsuspekten ideologischenKategorienoperiertund damit insgesamteherals eine Stilübung poststrukturalistischen Sprachgebrauchs anzusehen ist. Um
wenigstenseinen Eindruckzuvermitteln: „Dieum 1775 erfundeneUniversalisierung vonBedeutsamkeit und Verstehen läßtdie,diejeneUniversalisierung eingesetzthaben,buchstäblich nicht mehr inRuhe; Goethes Wanderer und Büchners Lenz kennen keinDiesseitsoder kein Jenseits desSymbolischenmehr. Auch Nietzsches WandereristeinspätesOpferdieserUniversalisierung kryptogrammatischerRegeln,
die einenrekonstruierbarensozialgeschichtlichen Hintergrundhaben. Die innovativen
Sozialisations-prozedurenderKleinfamilie,die inder zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sichdurchsetzten,ziehen die erzieherischenBeeinflussungen vonderÄußerlichkeitdes ganzenKinder-Körpersab, umsieauf das Ohr alsjene Körperöffnungzuzentrieren,die nicht verschließbar ist. SoersetztdieSemantisierung
desUnbewußten,dassichals derDiskursdes Anderenkonstituiert, dem durch keinenSchließmuskel
zuwehrenist, diepädagogische Zurichtung gehorchenderKörper." (Ebd., 220)
15 Im 3. Aufzugwird Wotan bezeichnenderweisezuSiegfried sagen: „EinVögleinschwatzt wohl
man-ches; / kein Mensch doch kann's verstehn"
-woraufhin ihmSiegfriederklärt,dies sei durch das Blut des erschlagenen Fafner gekommen, d. h. erst die un-menschliche Heldentat und der Blutrausch machten diesmöglich.
I Wie zückter
heftig
/ zündend mein Herz! / Wasjagt
mir sojach
/ durch Herz undSinne? /
Sing
esmirsüßer Freund!DerWaldvogel: Lustig
imLeid /sing'
ichvonLiebe;
/
wonnig
und weh / web' ich mein Lied: / nur Sehnende kennen den Sinn!"Philosophische Grundlegung
Dieser
Weg
ist Nietzsches Wandereroffenkundig
versperrt. Dies istum soerstaunlicher,
als Nietzsche in der Geburt der
Tragödie
dieWaldvogelszene
anargumentativ
zentralerStelle
eingesetzt
hatte. Bekanntlich zerfällt diese Schrift in zwei nicht recht zueinanderpassende
Teile,
wobei imerstendieVerfallsgeschichte
dergriechischen
Kulturvorgeführt
wird,
während imzweiten Teil NietzscheHoffnungen
aufeine Renaissance desTragischen
durch das Musikdrama
Wagners
Raumgibt.
DieSchwierigkeit
bei derVerknüpfung
dieser Teileliegt
darinbegründet,
daß NietzschedieZerstörung
dergriechischen
Kultur als irre-versiblenAuflösungsprozeß
desursprünglichen
Gleichgewichts
derdionysischen
undapolli-nischen Kräfte
beschreibt,
welches das Fundament dergriechischen
Kulturbildete;
denn dieser Zerfall wird dadurchherbeigeführt,
daßdasapollinische Prinzip
inGestalt desSokra-tismussichzur
einseitigen
Dominanzaufschwingen
konnte,
mit derFolge,
daßdasdionysi-sche
Prinzip
nicht mehrgebändigt,
sondernverdrängt
wurde. Nach demSiegeszug
desSokratismus,
welcher danndas neue Fundamentder alexandrinischen Kulturbildet,
ist dermythische Urgrund
auf immer verlorenund die versuchtenRückwendungen
zumdionysi-schen
Urgrund
sind nur noch reaktiveKompensationsbemühungen,
mit welchen der altemetaphysische
TriebinnunniedererForm sichallmählichin ein „Pandämoniumüberallherzusammengehäufter
Mythen
undSuperstitionen
verlöre(KSA 1, 148,
GT23;
vgl.
auchz. B. das Ende vonGeburt der
Tragödie,
14).
In einemNachlaßfragment
dieser Zeitbe-schreibt Nietzsche diesen
Vorgang
klarsichtig:
„[...]
aus den Ruinen der zerstörten Kunstblüht die
Mystik."
(KSA 7,
133)16
DieAngestrengtheit
derAusführungen
des zweiten Teils ist deshalb auf das Bemühenumeine zuvorkonzeptionell
ausgeschlossene
Rückkehr zurdionysischen
Urheimat zurückzuführen. Nietzsche beschreibtdieneuzeitliche Situation wiefolgt:
„Und
nunsteht dermythenlose
Mensch,
ewig hungernd,
unterallenVergangenheiten
undsucht
grabend
undwühlend nachWurzeln." DieGegenwart
seidaherprimär gekennzeichnet
durch den
„Verlust
desMythos,
[...]
den Verlust dermythischen
Heimat,
desmythischen
Mutterschosses"
(KSA 1, 146,
GT23).
Nietzsche sieht sich nun vor derSchwierigkeit,
Wagners
Musikdrama gegen die Auswüchse der damalszeitgenössischen
Kunst,
die zur„bloßen
Ergetzlichkeit herabgesunken"
sei(KSA
1,
159,
GT24),
als echteWiedergewin-nung des
Ursprungs
auszuweisen. Nun sindesgerade
dieWaldvogelszene
ausdemSiegfried
und in ihr das Verstehen-können desVogelsangs,
die von ihm als Kriterium und Beweiseines doch noch
möglichen
Wiederfindens dermythischen
Heimatangeführt
werden!„Undwennder Deutsche
zagend
sich nach einemFührerumblickensollte,
der ihn wieder in dielängst
verlorne Heimatzurückbringe
[...]-
so mag er nurdemwonnig
lockenden16 Vgl.dazu die ausführlicheBegründungin Teil 1meinerStudieSelbstaußebungsfigurenbeiNietzsche,
Rufedes
dionysischen Vogels
lauschen,
derüberihm sichwiegt
undihm denWeg
dahin deutenwill."(KSA
1, 149,
GT23)
„Zu unserem
Tröste",
heißt eswenige
Seitenspäter,
gebe
es,obgleich
der sokratischeOptimismus
sichnachhaltig durchgesetzt
hätte, „Anzeichen dafür,
dass trotzdem der deut-sche Geist in herrlicherGesundheit,
Tiefe unddionysischer
Kraftunzerstört[...]
in einemunzugänglichen Abgrunde
ruhe undträume: auswelchemAbgrunde
zu unsdasdionysische
Lied
emporsteigt.
[...]
GlaubeNiemand,
dass der deutsche Geist seinemythische
Heimatauf
ewig
verlorenhabe,
wenn er sodeutlich noch dieVogelstimmen
versteht,
dievonjener
Heimaterzählen."
(KSA
1, 153f.,
GT24)
DiesePassagen,
denennoch der direkte Verweis aufSiegfried folgt,
geben
den Schlüssel zurDeutung
des Wanderer-Gedichts. Wenn derWanderer
jetzt
nicht mehr dieVogelstimmen
verstehenkann,
ist dies Zeichen des unrett-baren Verlorenseins desmythischen, dionysischen Urgrunds.
Dieser Befund wird
bestätigt
und weiterpräzisiert,
wennmanin Nietzsches frühenSchrif-ten das Motiv des Wanderers näheruntersucht.
Wanderermotiv17
Bereits in seiner Devno/crzí-Schrift
(1867)
schrieb Nietzsche:„So
ist unser Streben eineWanderung
insUnbekannte,
mit derunstetenHoffnung
einmal ein Zielzufinden,
wo mansich ausruhen
kann."18
Auch inderFolge
lassensich zahlreicheVerwendungen
des Wan-derns alsMetapher
finden.FürunserenZusammenhang
istwichtig,
daßder Wanderermeistdurch den Verlust der
mythischen
bzw.religiösen
Bindungen
zu seiner Wanderschaftge-zwungen wird und daßerdeshalbvorallemfür den
Philosophen
steht. Wiederumliefert derKontrast zumGriechentum die Folie für die
Charakterisierung:
„Andere
Völker habenHeilige,
dieGriechenhaben Weise.[...]
In anderenZeiten ist derPhilosoph
einzufälliger
einsamer Wanderer infeindseligster Umgebung,
entweder sich durchschleichend oder mitgeballten
Fäustensichdurchdrängend.
[...]
Was istdas Lebenüberhaupt
werth? DieAufgabe,
diederPhilosoph
innerhalb einerwirklichen,
nachein-heitlichemStilegeartetenKulturzuerfüllen
hat,
istaus unsernZuständenund Erlebnissendeshalb nicht rein zu
errathen,
weil wir keine solche Kultur haben. Sondern nur eineKultur,
wie diegriechische,
[...]
nur sie kann[...]
diePhilosophie überhaupt
rechtferti-gen, weil sie allein weiß und beweisen
kann,
warum und wie derPhilosoph
nicht ein17 EsgibtbeimfrühenNietzschegleichzeitigzwei voneinanderunabhängige
Wanderermotivgruppen:
zumeinen ist das Wanderermotiv verbunden mit demFreundschaftsmotiv(„dasgemeinsameWandern"),
zumandern stehtesfür den einsamenPhilosophen.Soweitichesüberblicke,wird das Freundschafts-motiv mit dem Wanderer-GedichtendgültigalsWanderer-Konnotation verabschiedet! Daherverfolge
ich hier nurden sichdurchsetzenden „Philosophenstrang" zurück.
-Zurliteraturhistorischen
Vor-geschichtedes Wanderer-MotivsvergleichemangenerelldieeinschlägigeArbeit G.Kaisers,Wandrer
undIdylle, Göttingen 1977.
18 F.Nietzsche,FrüheSchriften,Historisch-KritischeGesamtausgabe,München1933-1940,Nachdruck: München 1994, hg. v. H.-J. Mette und K. Schlechta, Bd. 3, 336.
zufälliger beliebiger
bald hier- bald dorthinversprengter
Wanderer ist. Esgiebt
eine stählerneNothwendigkeit,
die denPhilosophen
aneine wahre Kultur fesselt: aberwie,
wenndiese Kulturnicht vorhanden ist? Dannist derPhilosoph
ein unberechenbarer unddarum Schrecken einflößender
Komet,
während er im guten Falle als einHauptgestirn
im
Sonnensysteme
der Kultur leuchtet. Deshalbrechtfertigen
die GriechendenPhiloso-phen,
weil er allein beiihnen kein Komet ist."(KSA
1,
808f.,
PHG1)
Im
Kapitel
über Heraklit in derselben Schriftprägt
Nietzsche die Definition:„Einsam
dieStraße zu ziehn
gehört
zumWesen desPhilosophen"
(KSA
1, 833,
PHG8),
die auch imPathosder Wahrheit wiederkehrt:
„Die
verwegensten Ritter[...]
mußmanbei denPhiloso-phen
suchen. Ihr Wirken weist sienicht auf ein.Publikum',
auf dieErregung
derMassen und auf denzujauchzenden
Beifall derZeitgenossen
hin;
einsam die Straßezuziehngehört
zu ihremWesen."(KSA
1,
757)
Und ineinemFortsetzungsentwurf
zu Wahrheit undLüge
im aussermoralischen Sinne heißt es kurz und
bündig:
„Der
Philosoph
als Abnormität.Daher als einsamerWanderer."
(KSA 14, 141)
Auch inSchopenhauer
alsErzieher,
unddamit will ich diese Stellenauslese
abschließen,
heißt esentsprechend:
„Es sieht oft so ausals ob ein Künstlerundzumal ein
Philosoph zufällig
in seinerZeitsei,
als Einsiedleroderals versprengter und
zurückgebliebener
Wanderer."(KSA 1, 406)
Die
Ungebundenheit,
dasLosgelöstsein
vonden traditionellenWerten,
dieeinsameWan-derschaft und die
Unzeitgemäßheit,
das alles sind bereits dieKennzeichen,
diespäter
Nietz-schesFreigeist19
eignen
werden,
als dessen Vorläufer der Wanderer des frühen Nietzscheanzusehen
ist,
der dann Schritt für Schritt immer mehr ins ZentrumseinesPhilosophierens
rückt. Rückblickend beschreibt Nietzsche seinen
Übergang
zurFreigeist-Philosophie
inderVorrede 3 zu
Menschliches,
Allzumenschliches:„[...]
ein Wille und Wunscherwacht,
fortzugehn, irgend
wohin,
umjeden
Preis; [...]
einaufrührerisches,
willkürliches,
vulka-nisch stossendes
Verlangennach
Wanderschaft, Fremde,
Entfremdung, Erkältung,
Ernüchte-rung,Vereisung,
ein HassaufdieLiebe[...]."
Dieses Buchendet bezeichnenderweise mit dem„Aphorismus"
DerWanderer,
in welchemgleichfalls
dieIdentifikation desFreigeistes
mit dem
Philosophen
vorgenommen wird und der mit denfolgenden
Wortenbeginnt:
„-Wernur
einigermaassen
zurFreiheitderVernunftgekommen
ist,
kann sich aufErden nichtanders
fühlen,
denn alsWanderer,
-wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten
Ziele: denn dieses
giebt
es nicht."(KSA 2,
362f.,
MA638)
Begibt
mansichnunsubspecie
desausgebreiteten
Materials auf einenletztenDurchgang
durch das
Wanderer-Gedicht,
so ist zunächstaugenfällig,
daß der Wanderer hier ebenfallsals ziellos bezeichnet ist
(„Weiß nicht,
wohin seinWeg
nochwill")
und somit alsPhilosoph
gesehen
werden kann. Auf seinerWanderschaft hörterdasVogellied,
das ihn zumStehenbringt.
Diegestelzten
Worte,
mit denenerdenVogel
anredet,
desavouieren seineStimmung
als eine ihn
plötzlich
überfallende sentimentaleAnwandlung.
Der Wunsch nach ekstatischerVereinigung
kann sich für denWanderer-Philosophen
niemalserfüllen,
denngeradezu
perdefinitionem
ist er durch das Wissen um den Verlust desmythischen Zusammenhangs
bestimmt. Eine
Anfechtung
wiedasVogellied
istinWahrheit Ausdruckeinerzeitweiligen
Schwäche desWanderers,
sicherbauen und„ergetzen"
zu wollen. Dermerkwürdige
Vogel
19 Man vgl. dazu besonders Nietzsches Gedicht DerFreigeist (KSA 11, 329), in welchem dienun nur
noch vom Schreien der Krähen begleitete „Winter-Wanderschaft" des heimatlosen Wanderers ihre bitterste undeindringlichste Gestaltungerhält.
erteiltihm auchden
entsprechend
nüchternen Bescheid:„Doch
Dusollst immerweitergehn
/ Und nimmermehr mein Liedverstehn!"20
Mit der erstaunlichen Antwort desVogels
in Zeile 16:„Nein, Wandrer,
nein! Dichgrüß
ichnicht",
welche den zentralenUmschlag-spunkt
des Gedichts darstellt und auchentsprechend
durch das Versmaßhervorgehoben
ist-dennsie befindet sichinder
einzigen
Zeile,
inwelcher metrische Freiheiten auftreten-,werden diekonventionellen
Erwartungen
durchkreuzt;
mit dieserVogelrede geht
die ganzespätromantische
Welt aus denFugen.
Sie hebt sich selbst auf.Resümierend kann
festgehalten
werden: Nietzsche vollzieht in diesem Gedicht einedoppelte
Loslösung.
Zumeinen verspotteter, unddies nochvorseinenBayreuth-Erfahrun-gen, seine
eigene
(und
auchRohdes)
Wagnerhoffnung
und kehrt sich dabei ab von demromantischen
Erlösungsprogramm Wagners
und seinereigenen
frühenSchriften,
dieNot-wendigkeit
anerkennend,
daß nach demVerlust desMythos
dieHoffnung
aufeine RückkehrzurNatur
vergebens
ist undnurdie Wanderschaftbleibt. Anders formuliert: Nietzsche wirdsich klar
darüber,
daß eineErlösung
in der Kunst nur eine im Scheinist,
und damit niewirklich
gelingen
kann.„Ich
bin keinDichter",
diesenSatzhatte NietzscheseinemGedichtvorangestellt. Vergegenwärtigt
mansich,
wie Nietzsche in der Geburt derTragödie
denLyriker
als einen Musiker und damitdionysischen
Künstler bestimmthatte,
der„gänzlich
mit dem
Ur-Einen,
seinem SchmerzundWiderspruch"
verschmelze(KSA 1,
43f.,
GT5),
und hält die ironischen„Knittelverse"
des Wanderer-Gedichtsdagegen,
so klärt sich derSinn dieser
Einleitung.
Es wird nundeutlich,
daß der in den früheren Schriften und beiWagner geführte
Streit,
ob der Wort- oder derTonkünstler den höherenRang
einnehme,
verlagert
wird,
da derGegenspieler
des Musikersjetzt
derPhilosoph geworden
ist,
der imUnterschiedzumDichterumdie
Scheinhaftigkeit
derKunst weiß. Allespäteren
Dichtungen
Nietzsches sind in diesem Sinne
philosophische Dichtungen,
insofernsie sich ihres Schein-charaktersstetsbewußt sindunddiesenoft auchzuihrem Themamachen,
häufig
inGestaltder
Selbstparodie.
Hierin wird Nietzscheauch dieentscheidende DifferenzzudenUnmittel-barkeitssuggestionen
Wagners
erblicken.Die andere
Loslösung
vollzieht sich gegendie Sicherheiteneinerbürgerlichen
Existenz,
wie sie Rohde in seinem Brief sich so sehnlichst erträumt hatte. DieseKomponente
desWanderer-Motivs wird im
späteren
Werk,
wo dieWanderer-Metapher,
wie manweiß,
äußerst
prominent
ist,
sehr gerne von Nietzschespöttisch
ausgespielt.
Das Wandern undGehen steht dann meist als Sinnbild für seinen
Denkstil,
den erderbürgerlichen
Art,
imSitzenzu
denken,
entgegenhält:
„[...]
oh wie rasch errathenwir's,
wie Einer auf seine Gedankengekommen
ist,
obsitzend,
vordemTintenfass,
mitzusammengedrücktem
Bauche,
denKopfüber
dasPapier
20 Sehr einleuchten will mirRüdigerZiemanns imAnschlußandiesenVortrag gegebenerHinweisauf den
Ahasver-MythosderChristuslegenden.Diebekannteste Fluchformel Christilautet:„Ichwill stehen und ruhen,du aber sollstgehn." DieserBezugist deshalbsehrwahrscheinlich,da Nietzsche auch in Also
sprachZarathustra in ähnlicher Weise das Ahasver-Motiveinsetzt,wennder„Schatten"zuZarathustra
spricht: „EinWanderer binich,der viel schon hinterdeinenFersen hergieng: immerunterwegs,aber ohneZiel, auch ohne Heim: also dass mir wahrlichwenigzumewigenJudenfehlt,esseidenn,dass
ich nichtewig, und auch nicht Jude bin."(KSA4, 339)Im Wanderer-Gedicht hat Nietzsche über die
VerknüpfungdesWanderer-Motivs mitdem des„ewigenJuden" womöglicheine weitereprovokante Gegenposition zueinem Hauptcharakterzug Wagners bezogen, zudessen Antisemitismus, der ihm
gebeugt:
oh wie raschsindwirauchmit seinem Buchefertig!
Dasgeklemmte Eingeweide
verräthsich,
daraufdarfmanwetten,ebenso wie sichStubenluft, Stubendecke,
Stubenen-ge verräth."
(KSA
3, 614,
FW366)
„Wir
gehören
nicht zuDenen,
die erst zwischenBüchern,
auf den Anstoss von Büchernzu Gedanken kommen
-unsre Gewohnheit
ist,
im Freien zu
denken,
gehend,
springend, steigend,
tanzend,
am liebsten auf einsamenBergen
oderdichtamMeere,
dawo selbst dieWege
nachdenklichwerden. UnsreerstenWerthfragen,
inBezug
aufBuch,
Mensch undMusik,
lauten:,kann
ergehen?
mehrnoch,
kann ertanzen?'"
(KSA
3, 614,
FW366)
Als letzter
wichtiger
PunktbleibtdieSchlußwendung
des Briefesanzusprechen:
„So
geredet
zu
mir,
Nachts nach der Ankunft DeinesBriefs",
durch die derDialog
im Gedicht zumSelbstgespräch,
wiespäter
zwischen dem Wanderer und seinemSchatten,
wird. Auch diesist Zeichen der
Einsamkeit,21
und in vielen Gedichten derSpätzeit
wird diese Strukturprägend
werden. Auch sie steht in beredtem Kontrast zum bevorstehendenEreignis
inBayreuth,
woWagner
versuchenwird,
die Massen zubezwingen.
Nietzsches Wanderschaft isteine des
Geistes,
und als solche immerzugleich
aucheineReise ins
eigene
Innere:„Und
was mirnun auch noch als Schicksal und Erlebnisskomme,
-ein Wandernwird
darin sein und ein
Bergsteigen:
Manerlebt endlich nurnoch sich selber."(KSA
4, 193,
ZA
„Der
Wanderer")
21 Siehedazu den diesen Gedankenweiterführenden AufsatzvonE.Lämmert, „NietzschesApotheoseder