Ausnahmezustande in
der Gegenwartsliteratur:
nach
9/11
Herausgegeben von
Cristina Fossaluzza
Anne Kraume
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Inl:
Cristina Fossaluzza/Anne Kra.
Das Forschungsfeld ,,Literatu Ambivalenzen, N eudefinition
Kul turkri tik
Barbara Befllich
Traditionsverhalten, Exotism1 in Christian Krachts Imperiur. Gregor Streim
Poetik des Ausnahmezustand
Atlas eines angstlichen Mannes
Heimat und Erinnerung
H ubert Thuring
Alpine Apokalypse. Heimat a bei Arno Camenisch, historis1 Friedrich Nietzsche und Dam
Cristina Fossa/uzza
Das Haus als Ort des Ausnah. Marius von Mayenburgs Eldo: Daniela Nelva
,,Ein RiB im Gewebe der Zeit" Christa Wolf nach dem 11. Se
Inhal tsverzeichnis
Cristina Fossaluzza/Anne Kraume
Das Forschungsfeld ,,Literatur und Ausnahmezustand" nach 9/11:
Ambivalenzen, Neudefinitionen und Perspektiven ... 7
Kulturkritik
Barbara Befllich
Traditionsverhalten, Exotismus und Ausnahmezustand
in Christian Krachts Imperium (2012) ... 19
Gregor Streim
Poetik des Ausnahmezustands. Christoph Ransmayrs
Atlas eines angstlichen Mannes (2012) ... 35
Heimat und Erinnerung
H ubert Thiiring
Alpine Apokalypse. Heimat als Ausnahmezustand bei Arno Camenisch, historisch perspektiviert mit
Friedrich Nietzsche und Dante Andrea Franzetti ... 59
Cristina Fossaluzza
Das Haus als Ort des Ausnahmezustands:
Marius von Mayenburgs Eldorado (2004) und Der Stein (2008) ... 83
Daniela Nelva
,,Ein Ri6 im Gewebe der Zeit".
Briiche und Schwellen Friederike Felicitas Giinther
Ausnahmezustand im Kriminalroman.
J
uli Zehs Schilf (2007) ... 111 Arno SchneiderSprache als Ausnahmezustand im Werk von Safa Stanisié ... 129
Texturen der Gewalt Paolo Panizzo
Schattenkonstruktionen. Heiliges Schachspiel und
profanierendes Erzahlen bei Paolo Maurensig und Stefan Z weig ... 151 Markus Lenz
Schreiben im Ausnahmezustand. Eine theoretische Skizze zur
Gewaltdarstellung im literarischen Feld der franzosischen Gegenwart .. 175 Anne Kraume
Patria o muerte. Leben im Ausnahmezustand
in der venezolanischen Gegenwartsliteratur ... 199
Beitragerinnen und Beitrager ... 213
Cris
A
Das:
,,Literatur
und A1
Ambivalenzen, N eu
Der vorliegende Band setzt d:;; als Sujet der Literatur fort, da Ausnahmezustands1 fiir den 2
Leitlinie fiir die Ùberlegung• technische Begriff des "Ausna. sische und zugleich paradoxe .E
und definierbaren Sphare de: Agamben in seinem Homo-s; pragend fiir die abendlandisd sammenhang stellt nun die Za: gulares Ereignis dar3 - vielmeh dig widerspriichlichen Verhii: Rechtsetzung und Suspendieri dezu. T error und war on die Souveranitat - sowohl des; letzt werden der 11. Septembe Katastrophenstimmung, die dc samt in Zweifel zieht, und das schen und okologischen Kris1 lung eines i.ibersteigerten Fre werden. In der durch die Tee Einzelnen i.iber Leben und T1
Fossaluzza/Panizzo 2015. Zu Agambens Homo-sacer-Pro-V gl. Schiiller 2010.
Darauf, dass Souveranitiit dabei darstellt, sondern auch mit der Ausnahme zwischen Inklusion : als auch Agamben
hingewiesen.-rvrano e la nuda vita, Torino: ::>: Bollati Boringhieri 2003.
:in: Rolf Tiedemann/Hermann
nin: Gesammelte Schriften, Bd. :Urt am Main: Suhrkamp 1980,
us van Mayenburg, Theater im
=rk- x.at/media/produktionen/
=>/o20Mayenburg.pdf. (zuletzt
IX, Fragen der
Ge-von Alexander Mitscherlich
i 271-286.
rzg, Hamburg: Junius 2005.
!ater, Frankfurt am Main: Ver-1enschel SCHAUSPIEL Thea-rnit der Sigle E).
1enschel SCHAUSPIEL Thea-rnit der Sigle S).
talter seiner Beschleunigung", _e zur Ausstellung ,,Das XX. gehalten am 20. Mai 1999 im Gegenwart Berlin. Web.
'I: am 20.07.2017).
lie Wirklichkeit des menschli-·ealistisches Theater", V ortrag Regie 2009 in Hamburg. Web. tealistisches-Theater.pdf
(zu-! Gewalt des Spektakels. Angriff itertexten zwischen 9/ 11 und
1: Theater der Zeit 2015. -, in: Theater beute 10 (2008),
Daniela N elva
,,Ein RiB im Gewebe der Zeit".
Christa Wolf nach dem
11.
September
1. Ein Tagim]ahr
"Ich erwache von einer Stimme, die !aut sagt: Ein Rifì im Gewebe
der Zeit. [ ... ] Aufdringlich [ ... ] entstehen auf meinem inneren Bildschirm die letzten Bilder von CNN, die ich heute nach Mitter-nacht noch gesehen habe und mit denen ich schwer einschlafen konnte, obwohl ich nicht versaumt hatte, die zwei Kapseln Baldri-an-Dispert zu nehmen: Der Sender verzichtete nicht auf das Wort Krieg: ,America's War Against Terrorism'." (Wolf 2014: 15)
Mit diesen Worten beginnt Christa Wolfs Text 27. September 2001, der in
dem Band Ein Tag im
J
ahr im neuenJ
ahrhundert 2001-2011 enthalten ist.Dabei handelt es sich um den zweiten Teil einer Sammlung einzelner als Tagebuch verfasster Schriften, welche die Autorin iiber filnfzig Jahre hin verfasst hat. Der erste Band- Ein Tag im ]ahr 1960-2000 - erschien 2003.
Der zweite Band wurde von Christa W olfs Mann Gerhard postum her-ausgegeben.
Der originelle Kern der Sammlung geht auf den Aufruf der Moskauer Zeitung Isvestija zuriick, die 1960 die Schriftsteller aller W elt dazu aufge-fordert hatte, einen bestimmten Tag, namlich den 27. September, so genau wie moglich zu beschreiben. Damit wollte man die von Maxim Gorki im weit zuriickliegenden J ahr 1936 ergriffene Initiative ,,Ein Tag in der W elt" wiederbeleben.
W olfs Verlangen, diesen Aufruf selbstandig fortzufilhren und ,,alle darauf folgenden 27. September bis heute" zu beschreiben, entspringt zu-allererst dem ,,Horror vor dem Vergessen" und ist daher der Versuch, die Lebenssubstanz der ,,Verganglichkeit", dem ,,Verlust von Dasein" zu ent-rei6en. Zumindest ,,ein Tag im Jahr" soli demnach ein ,,Stiitzpfeiler filr das Gedachtnis" sein - so lautet die Einfiihrung in dem ersten Band.1
Aus dem ,,Heute", das auf den 11. September 2001 folgt, erhebt sich eine grauenvolle Frage: ,,Haben die Amerikaner heute Nacht ihren
drohten Vergeltungsschlag gegen Afghanistan oder gegen wen sonst -unternommen?" Der 27. September 2001 ist, so Wolf, ,,ein triiber Tag, wie ali die triiben Tage seit dem 11. September", als sich die ,,blindwiitige Zer-st6rung" in New York manifestiert hat. Die Stadt, in der wahrend der Nazi-Zeit viele deutsche Fliichtlingen landeten, zeigt der Welt jetzt eine grausame leere Stelle:
,,Brecht und viele andere deutsche Emigranten, denke ich [ ... ), sie alle hatten nicht i.iberlebt, wenn es New York nicht gegeben hatte, die Stadt der Fli.icht!inge, die auch diese Deutschen aufnahm und sie vor ihren mi:irderischen Landsleuten rettete, welche sich gerade eines beispiellosen Ri.ickfalls in die Barbarei befleiBigten." (W olf 2014: 22)
Am 11. September 2001 ist die ,,Barbarei" leider noch einmal in der menschlichen Geschichte ausgebrochen und hat etwas Unwiderrufliches ausgelost - einen ,,Ausnahmezustand" im Sinne Agambens, der droht, permanent zu sem:
,,Die Nahte sind geplatzt, die unsere Zivilisation zusammenhielten, aus den Abgri.inden, die sich aufgetan haben, quillt das Unheil, bringt Ti.irme zum Einsturz, laBt Bomben fallen, Menschen als Sprengki:irper explodieren."
hei6t es in W olfs W erk Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud,
das die Schriftstellerin im Jahr 2001 verfasst.2 In diesem Text zwischen
Autobiographie und Roman (den man mit Martina Wagner-Egelhaaf als ,,Autofiktion" bezeichnen konnte, vgl. Wagner-Egelhaaf 2013) stellt die Autorin ihren Studienaufenthalt zwischen September 1992 und Juli 1993 beim renommierten Getty Center in Los Angeles dar. Auch in diesem Fall geht die Entstehung des Textes auf Tagebucheintragungen zuriick, in de-nen Wolf taglich von ihren amerikanischen Erfahrungen berichtet hat und von denen in der veroffentlichen Fassung noch einige Ausziige in Block-schrift zu erkennen sind. Wahrend ihres Aufenthalts in den USA hat die Schriftstellerin den Golfkrieg, das hei6t den lrak-Kuwait-Krieg, erlebt. Es scheint, dass Ein Tag im Jahr und Die Stadt der Engel miteinander korres-pondieren.3 Im Text 27. September 2001 richtet Wolf ihre Erinnerungen auf die schockierenden Bilder von der amerikanischen Landung in Kuwait:
Wolf 2010: 39.
Wahrend Ein Tag im ]ahr einige Lebensaufnahmen zuerst in der DDR spater dann
im wiedervereinigten Deutschland durch die Verflechtung vom familiaren Alltag,
intellektueller Ùberlegung und politischem Zusammenhang fokussiert, hat Stadt
der Engel eine komplexere Struktur: Das erzahlende bzw. erzahlte Ich der amerika-nischen Erfahrung tritt manchmal hinter einem ,,Du" zuriick, das in der deutschen Vergangenheit liegt. Beide - das Ich und das Du - werden dann plotzlich von
,,Da hockte ich um vier was ich sehen solite: D;; schen Truppen an der muBte dann in der Zeitu: sen Krieg nicht gutheilk
W er den Krieg erlebt hat, k::: hen, die ihn begleiten.4 Der I
mehr so ist wie vorher, setzt Maschine funktioniert. Die
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W olf - ,,so oft in meinem L wieder auf.5 Die Erinnerung mente des grauenvollen 20.J
erlebt hat, und es wird eine G litisch-ideologische Herkunf1 kunft hineinzureichen droht:,,Kriegsbeginn 1939. Fh
marsch der Warschauer 1968. - Im Alter ware ic ben. Wie geme hatte ich hundert ent!assen. [ ... ] F das der Anfang vom End. In ihrer umfassenden histori: 6rtert W olf in Stadt der Engel
seit dem Kalten Krieg
tungen der Rosenbergs, die \. USA zu kontrollieren. Die le die scheinbar tief gespaltene Wurzel speiste, also noch be glauben wollten".6 Es ist das I Zuriick zum 27. Septeml gung fiir die von den Ameril ben.7 Der Zweck heiligt in de noch nicht begonnen hat, ze ersten Anzeichen der komme
,,Hunderttausende von F
tung Pakistan, oder sie :
Kommentaren iiber das ,,Heut
September und die finanzielle J
Wolf 2014: 25.
Wolf 2014: 15.
Wolf 2010: 275.
,,Da hockte ich um vier Uhr nachts vor dem Femseher und sah, was ich sehen solite: Das Feuer, das der Landung der amerikani-schen Truppen an der Kliste Kuwaits vorausging. Ich weinte und muBte dann in der Zeitung lesen, ich sei gegen Israel, wenn ich die-sen Krieg nicht gutheiBe." (Wolf 2014: 15)
Wer den Krieg erlebt hat, kann nicht von den ,,Kollateralschaden" abse-hen, die ihn begleiten.4 Der Eindruck, dass seit dem 11. September nichts mehr so ist wie vorher, setzt einen Denkprozess in Gang, der wie eine Art Maschine funktioniert. Die Gefuhle von Aufregung und Angst, die - so Wolf - ,,so oft in meinem Leben den Tagesanfang begleiteten", tauchen wieder auf.5 Die Erinnerung geht unversehens auf die dramatischen Mo-mente des grauenvollen 20. Jahrhunderts zuruck, die Christa Wolf selbst erlebt hat, und es wird eine Genealogie der Gewalt konstatiert - deren po-litisch-ideologische Herkunft ist dabei unerheblich -, die auch in die Zu-kunft hineinzureichen droht:
,,Kriegsbeginn 1939. Flucht aus der Heimat Januar 1945. Ein-marsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968. - Im Alter ware ich geme von Geschichte verschont geblie-ben. Wie geme hatte ich meine Enkelkinder in ein friedliches Jahr-hundert entlassen. [ ... ] Fangt so der Dritte Weltkrieg an? Und: Ist das der Anfangvom Ende?" (Wolf 2014: 19)
In ihrer umfassenden historischen Analyse der abendlandischen W elt er-ortert Wolf in Stadt der Engel auch die Ungerechtigkeiten, die den Westen seit dem Kalten Krieg gepragt hatten: den McCarthyismus, die Hinrich-tungen der Rosenbergs, die Versuche des FBI, die angeblichen Feinde der USA zu kontrollieren. Die Ich-Erzahlerin stellt namlich betrubt fest, ,,da6 die scheinbar tief gespaltene W elt sich in ihrer tiefsten Tiefe aus einer Wurzel speiste, also noch bedrohlicher war, als die meisten von uns es glauben wollten".6 Es ist das Ende aller Utopien.
Zuruck zum 27. September 2001. Fur Wolf kann es keine Rechtferti-gung fiir die von den Amerikanern angekundigten Bombardierungen ge-ben.7 Der Zweck heiligt in der Tat nicht alle Mittel. Auch wenn der Krieg noch nicht begonnen hat, zeichnen sich in den Massenmedien schon die ersten Anzeichen der kommenden Tragodie ab:
,,Hunderttausende von Fltichtlingen verlassen Afghanistan in Rich-tung Pakistan, oder sie ziehen sich aus den von Bombardements
Kommentaren tiber das ,,Heute" des Schreibens unterbrochen, die eben auf den 11.
September und die finanzielle Krise des westlichen Kapitalismus anspielen. Wolf 2014: 25.
Wolf 2014: 15. Wolf 2010: 275. Wolf 2014: 16.
bedrohten Stadten aufs Land zuri.ick - in beiden Fallen haben sie keine Nahrungsmittel, die UNO warnt vor einer ,humanitaren Ka-tastrophe' und fordert Millionen, um das Schlimmste zu verhin-dern." (Wolf 2014: 17)
Das Gewebe des Alltags hat sich plotzlich aufgelost - jenes kostbaren All-tags, der die Bestandigkeit des Lebens ausmacht und der immer wieder in Wolfs Werken auftaucht. Die Zivilisation, das hei6t ,,die auf Barbarei fol-gende Stufe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft", erscheint jetzt als ausgehohlt.8 Es gibt keine Antwort auf die Vielzahl von Fragen. Christa Wolf zitiert Brechts Verse aus dem Gedicht Vom annen B.B.:
,,Von diesen Stadten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind. "9 In dem Roman City of God von E. L. Doctorow, der im Septem-ber 2001 auf Wolfs kleinem glasernem Nachttisch liegt, hei6t es (und auch diesen Satz zitiert die Schriftstellerin): ,,Es bleibt vielleicht nicht mehr vie! Zeit",10 und sie fogt hinzu:
,,Zu gut kenne ich das Gefohl, zwischen falschen Alternativen mit dem Ri.icken an der Wand zu stehen und mich nur noch fi.ir Falsches entscheiden zu konnen, zu genau weiB ich: Dies ist ein sicheres Symptom dafi.ir, daB eine Gesellschaft sich in einer grundlegenden Krise befindet [ ... ] und daB es lebenswichtig ware, dieses Signa! nicht wieder zu i.ibersehen und zu i.iberfahren." (Wolf 2014: 31)
Hat die Menschheit einen W eg ohne Alternativen eingeschlagen? lst es noch moglich, i.iber eine Wahl zwischen ,,FALSCH "und ,,RICHTIG" zu ver-fogen?11 ,,Aber was ist das Rechte, und was hat Zukunft?"12 fragt Wolf ih-re Leser mit einem Zitat aus den Tagebi.ichern von Thomas Mano. Und vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage: Welche ethisch-asthetische Rolle wird der Literatur (wenn i.iberhaupt) zugeschrieben? Diese Fragen haben Christa Wolf immer wieder beschaftigt; und sie tau-chen deshalb immer wieder (mehr oder weniger explizit) in ihren Werken auf. Nur ein offenkundiges Beispiel: In den 1983 veroffentlichten Voraus-setzungen einer Erzahlung: Kassandra wechselt sich Wolfs Bericht i.iber die Ermittlungen, welche die Autorio der ungli.icklichen Hellseherin gewid-met hat, mit jenen Ùberlegungen ab, die sie zum Kalten Krieg und seinem perversen W ettri.isten macht. W olfs Schreiben fiigt sich ein ins Zeitgenos-sische, und die Rezeption ihres W erkes zeugt von diesem Eingebunden-sein. In der DDR-Ausgabe, die mit dem Titel Kassandra. Vier Vorlesun-gen. Eine Erzahlung erscheint, liest man am Ende der dritten Vorlesung:
Wolf 2014: 22. Wolf 2014: 21.
10 Wolf 2014: 16.
11 Wolf 2010: 380.
12 Wolf 2010: 268.
,,reduzierte Fassung". Es feh: der Zensur gestrichen wurde W olf erstens die sowjetisch gleichstellt und in dem sie 2'
ostlichen Blocks als Friedensi In diesem Zusammenha und als Stimme der Erinneru Pflicht und um das Recht, sic ren) zu erinnern. ,,Erzahlen Anteilnahme, Verstandnis. [. nicht der V erponte, sondem auf den Monolog, mit dem sic
2. Wiekomr
W olf ist sich des Risikos wo wahrenwollens der Erinnerur Anfang von Stadt der Engel E (2000): ,,Die wirkliche Konsi: steller wiedergeben. "14 Ermu1
zur Figur des Erzahlers (,,De seines Lebens an der sanften konnte verzehren lassen"), gib-die wohltatige Gabe des ben konnten. "15 Aus diesen (
einer Schrift, die zugleich inu von seiner eigenen Subjektivi lektiver Geschehnisse:
,,Eine Art Mit-Schrift w moglichst genau der meine Hand und auch ni mit, das Subjektivste um auflosbar, ,,wie im Leber gen, ohne sich zu entblo'
Bodensatz ungeklarter F
nehmend, so unsentimer: teilsfreie Aufmerksamkei
In dem Roman Stadt der Eng;
Ich-Erzahlerin (hinter der si Angeles mitgebracht hat, umi
13 Wolf 1983: 36-37.
1
' Wolf 2010: 9.
,,reduzierte Fassung". Es fehlen fiinfundsechzig Druckzeilen, welche von der Zensur gestrichen wurden: Es handelt sich um einen Absatz, in dem W olf erstens die sowjetische Riistungspolitik mit der amerikanischen gleichstellt und in dem sie zweitens iiber die unilaterale Abriistung des ostlichen Blocks als Friedensignal spricht.
In diesem Zusammenhang erscheint nun die Literatur als Warnung und als Stimme der Erinnerung. Es geht fiir Christa W olf immer um die Pflicht und um das Recht, sich an das eigene Dasein (und an das der ande-ren) zu erinnern. ,,Erzahlen ist human und bewirkt Humanes, Gedachtnis, Anteilnahme, Verstandnis. [ ... ] Erzahlen ist Sinngeben. [ ... ] Trostlos ist nicht der Verponte, sondern der Vergessene", so betont Wolf in Bezug auf den Monolog, mit dem sich Kassandra auf ihren Tod vorbereitet.13
2. Wie kommt aber das Leben zustande?
W olf ist sich des Risikos wohl bewusst, das mit dieser Position des Be-wahrenwollens der Erinnerung einhergeht - nicht umsonst zitiert sie am Anfang von Stadt der Engel E. L. Doctorows Behauptung aus City of God
(2000): ,,Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schrift-steller wiedergeben."14 Ermutigt durch die Ùberlegung Walter Benjamins zur Figur des Erzahlers (,,Der Erzahler - das ist der Mann, der den Docht seines Lebens an der sanften Fiamme seiner Erzahlung sich vollkommen konnte verzehren lassen"), gibt Wolf aber nicht auf, weil ,,wir anders ohne die wohltatige Gabe des Erzahlens nicht iiberlebt hatten und nicht iiberle-ben konnten."15 Aus diesen Ùberlegungen entsteht bei ihr die Suche nach einer Schrift, die zugleich individuell und kollektiv ist. lndem sich das Ich von seiner eigenen Subjektivitat entfernt, wird es zur epischen Figur kol-lektiver Geschehnisse:
,,Eine Art Mit-Schrift ware mein Schreibideal: Ein Griffe! folgte moglichst genau der Lebensspur, die Hand, die ihn fohrte, ware meine Hand und auch nicht meine Hand, viele und vieles schriebe mit, das Subjektivste und das Objektivste verschrankten sich un-auflosbar, ,,wie im Leben", die Person wilrde sich unverstellt zei-gen, ohne sich zu entbloBen, der Blick betroffen, jedoch nicht vom Bodensatz ungeklarter Ressentiments getriibt, nicht ka!t, anteil-nehmend, so unsentimental wie moglich, verdiente sich so vorur-teilsfreie Aufmerksamkeit." (Wolf 2001: SOS)
In dem Roman Stadt der Engel wird eine rote Mappe erwahnt, welche die Ich-Erzahlerin (hinter der sich Christa Wolf selbst verbirgt) nach Los Angeles mitgebracht hat, und in der einige Briefe aufbewahrt sind, welche
13 Wolf 1983: 36-37.
14 Wolf 2010: 9.
15 Wolf 2010: 13; vgl. Benjamin 1977: 464-465.
die verstorbene Emma (Wolfs Freundin) von einer Frau namens Lily er-halten batte. Lily war eine Kommunistin, die wahrend der Nazi-Zeit indie USA geflohen war. Die Ich-Erzahlerin batte sich vor ihrer Reise vorge-nommen, sich auf die Suche nach Lily zu begeben. Wie in der Erzahlung
Nachdenken uber Christa T. (1968), die eine Rekonstruktion des Lebens
von Christa Tabbert-Gebauer darstellt, die 1963 an Leukamie gestorben ist, werden auch hier die Spuren einer fremden Existenz verf olgt. In diesem Fall erscheint das Vorhaben besonders gewagt: Die Informationen, die Lilys Briefe enthalten, beschranken sich auf das Datum ihrer V erfassung. Es ist keine Adresse erwahnt, kein Bild beigefiigt. Lilys Brief e verursachen - so Wolf - ,,eine Hemmung",16 weil sie sowohl vom Nationalsozialismus und
Antifaschismus (wahrend der Nazi-Zeit sa6 die Kommunistin Emma lange im Gefangnis) als auch vom Stalinismus erzahlen.
Angeregt durch die Lektiire der T agebiicher von Thomas Mann aus seiner Zeit im Exil besucht die Ich-Erzahlerin die Residenzen der nach Kalifornien geflohenen deutschsprachigen lntellektuellen, die dort ein ,,Weimar unter den Palmen"17 gegriindet hatten. Die Namen Brecht,
Dob-lin, Feuchtwanger, Werfel, Mann, Schonberg, Vicki Baum und Salka Viertel verweisen auf die schmerzliche Erfahrung der physischen und sprachli-chen Entwurzelung. Ihr Interesse an den W erken der Exilanten fiihrt die Ich-Erzahlerin schlie6lich zum Antiquariat von Mr. Kline, einem alten Juden. Auf seinem staubigen Dachboden entdeckt die Ich-Erzahlerin
ne-ben den Werken Heines und Remarques die Texte judischer Autoren, die beute langst in Vergessenheit geraten sind. Es handelt sich um Biicher, de-ren Leser ,,Deutschland lieben und Sehnsucht haben" und deshalb ,,die al-te Sprache" nicht vergessen wollen18
- so lautet ein Vermerk am Rande
ei-ner Seite von Friedrich Torbergs Erzahlung Mein ist die Rache, die in einem Konzentrationslager spielt.
,,Die Biicher, die ich an jenem Nachmittag zum ersten Mal sah, sind jetzt um mich herum aufgebaut, ich nehme sie in die Hand, und etwas von der Stimmung, die mich damals erfaBte, kommt zu-riick. Obenauf liegt das Bandchen ,Der Mensch ist gut' von Leon-hard Frank, ein roter Pappband mit Leinenriicken, offensichtlich alt, abgenutzt, vergilbtes Papier, beim Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam erschienen, ohne Erscheinungsdatum, aber mit dem Hin-weis ,Geschrieben 1916 bis Friihling 1917' und mit der Widmung: ,Den kommenden Generationen' [ ... ]. Warum war es vergessen worden? Remarques ,lm Westen nichts Neues' konnte nicht auf-wiihlender sein, das auch dort lag, beschadigt, ohne Einband und ohne Verlagsangabe, aber offensichtlich die gleiche Ausgabe, die du
16 Wolf 2010: 65. 17 Wolf
2010: 338.
18 Wolf 2010: 346, 344.
ratselhafterweise bei dei1 Sofa gelesen hattest."
\W
Mehrere Juden zweiter und • Los Angeles trifft, haben De
zuriickgekehrt, weil ihre Ab_ tief ist. Im Gegensatz dazu
h.
nach ihrer Herkunft. Christ Frankfurt Philosophie studie stadt ermordet wurden; oder lienstammbaum aufbewahrt, konstruieren kann, und • Deutschland sammelt, weil dc von einer Tragodie gepragt. erklaren, nichts wiedergutz1 Fliichtlingen wird Wolf zur tiberlieferter Schicksale, die deutschen, russischen Worter
,,Ich spiirte: Die Zeit st; stili, nichts war fiir sie vt: Schmerz hatte sich abg1 blaBt, kein Zorn verflog: auch nur fiir Minuten, '11.
mandem zu erzahlen, d. nahm und ihren Empfinc te ich dieser Jemand sein. ich, weil ich aus Deutscl ersten Mal erlebte ich cl:
Deutschen ihre nie ende horte auf, mich dageger (Wolf 2010: 103)
In der Auseinandersetzung 1
kommt es zu einer positiven dass Ruth, eine ihrer judisch-freundet war. In der Holztm taucht auch der letzte Brief v
vor ihrem T od verfasst und Brief, in dem sie Lily eine Ar spricht die bittere Enttauscl-schon das SS-Gefangnis erleb
ratselhafterweise bei deiner GroBmutter gefunden und auf ihrem Sofa gelesen hattest." (Wolf 2010: 343-344)
Mehrere Juden zweiter und dritter Generation, die die Ich-Erzahlerin in Los Angeles trifft, haben Deutschland nie besucht und sind nie dorthin zuriickgekehrt, weil ihre Ablehnung diesem Lanci gegeni.iber einfach zu tief ist. Im Gegensatz dazu haben sich aber andere auf die Suche gemacht nach ihrer Herkunft. Christa W olf erzahlt von Peter Gutmann, der in Frankfurt Philosophie studiert hat und dessen GroBeltern in Theresien-stadt ermordet wurden; oder von John, der in einer Mappe einen Fami-lienstammbaum aufbewahrt, den er nur unter groBen Schwierigkeiten re-konstruieren kann, und der Materiai i.iber das wiedervereinigte Deutschland sammelt, weil don seine Wurzeln liegen. Diese Wurzeln sind von einer Tragodie gepragt. So Wolf: ,,Da war nichts zu sagen, nichts zu erklaren, nichts wiedergutzumachen."19 Durch den Umgang mit den
Fli.ichtlingen wird W olf zur unabsichtlichen Zeugin personlicher oder i.iberlieferter Schicksale, die in einem gebrochenen und mit polnischen, deutschen, russischen Worten durchsetzten Englisch vermittelt werden:
,,Ich spilrte: Die Zeit stand filr diese Menschen seit Jahrzehnten stili, nichts war filr sie vergangen, nichts hatte sich gemildert, kein Schmerz hatte sich abgeschwacht, keine Enttauschung war ver-blaBt, kein Zorn verflogen. Und die einzige Erleichterung, wenn auch nur filr Minuten, war es, manchmal dariiber zu reden, es je-mandem zu erzahlen, der es wissen wollte, der zuhorte, Anteil nahm und ihren Empfindungen recht gab. An diesem Abend muB-te ich dieser Jemand sein, ohne ali mein Verdienst und Wiirdigkeit, ich, weil ich aus Deutschland kam und weil ich jilnger war. Zum ersten Mal erlebte ich das Bedilrfnis der Vertriebenen, mit einer Deutschen ihre nie endende Fassungslosigkeit zu teilen, und ich horte auf, mich dagegen zu wehren und nahm diese Rolle an." (Wolf 2010: 103)
In der Auseinandersetzung mit dem andauernden Leiden der Exilierten kommt es zu einer positiven Wendung, als die Ich-Erzahlerin entdeckt, dass Ruth, eine ihrer judisch-amerikanischen Bekannten, mit Lily eng be-freundet war. In der Holztruhe, in der Ruth Lilys Andenken aufbewahrt, taucht auch der letzte Brief von Emma auf, den die Freundin unmittelbar vor ihrem Tod verfasst und Freunden im Westen i.ibergeben hatte; ein Brief, in dem sie Lily eine Art Lebensbilanz anvertraut. Aus diesem Brief spricht die bittere Enttauschung einer Kommunistin, die (nachdem sie schon das SS-Gefangnis erlebt hatte) den Stalinismus in der Hoffnung
er-19 Wolf
tragt, dass sich die DDR zu ,,der ersehmen Menschengemeinschaft"20 entwickeln konnte:
,,Als Stalin starb, saB ich hier bei uns ,unter falscher Anschuldi-gung' im Gefangnis. Als ein Warter mir die Nachricht zuflilsterte, habe ich geweint. [ ... ] Ich frage mich, was wir getan hatten, wenn wir schon in den dreiBiger Jahren alles gewuBt hatten, alles Uber die Sauberungen in der Sowjetunion, alles Uber den GULAG. Wir wa-ren verzweifelt und handlungsunfahig gewesen. In unseren Alp-traumen stellten wir uns ein faschistisches Europa vor. Stalin, sag-ten wir uns, hat das verhindert. Wir sind gescheitert. Das Land, in dem ich lebe und auf das ich anfangs noch einige Hoffnung gesetzt hatte, verknochert und versteinert von Jahr zu Jahr mehr, der Mo-ment ist abzusehen, an dem es als bewegungslose Leiche am Weg liegen wird, freigegeben zur Ausplilnderung." (W olf 201 O: 319)
Emmas Schicksal ahnelt i.ibrigens den Biographien jener lntellektuellen, die geschwiegen haben, ,,um den Aufbau in unserem Land nicht zu fahrden"21 - damit ist das Experiment einer sozialistischen Heimat ge-meint. Es ahnelt, umer anderem, der Biographie von Louis Fi.irstenberg, der den Prozessen gegen Slansky entkam und in der DDR im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv gearbeitet hatte. Zuri.ick zur Frage: lst es noch moglich, i.iber eine Wahl zwischen ,,FALSCH" und ,,RICHTIG"22 zu verfi.i-gen? Aber was ist das Rechte, und was hat Zukunft?23 Es handelt sich um Fragen, die uns alle und- mit Brecht - die Nachgeborenen angehen.
3. Selbstdiagnose
Sowohl in Ein Tag im ]ahr als auch in Stadt der Engel geht es nicht zuletzt um eine ,,Selbstdiagnose". Es handelt sich fi.ir Christa Wolf darum, ,,Ver-haltnisse, Menschen, in erster Lini e aber mich selbst zu durchschauen. "24 Jenseits aller Unterschiede thematisieren also beide Werke einen
Reflexi-ons- und einen lntrospektionsprozess. Die Autorin verpflichtet sich, das eigene Ich ,,ungeschi.itzt" ,,auch jenen Blicken, die nicht von Verstandnis und Sympathie geleitet sind" auszusetzten, denn ,,das Bedi.irfnis, gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zi.igen, mit lrrti.imern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde.25
Dieses Bedi.irfnis scheint sich in Stadt der Engel umso dringender zu manifestieren, als sich Christa W olfs Darstellung der amerikanischen W elt mit ihrem i.ibertriebenen Kapitalismus und ihrem groGen sozialen Gefalle
20 Wolf 2010: 188. 21 Wolf 2010: 85. 22 Wolf 2010: 380. 23 Wolf 2010: 268. 24 Wolf 2003: 11. 25 Wolf 2003: 11-12.
zwischen W eiGen, Schwarzer Bericht i.iber die im wiederve rischen Kampagne gegen jene der DDR geblieben waren.1-Anklage gegen sich selbst, dii;
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,,Die uralte Tatsache, daf: gedacht und empfunden Papier nicht gleichzeitig wieder so zu schaffen,
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meiner Schreibarbeit sic: wachsen kann." (Wolf 2()In diesem Zusammenhang er einschneidend, sezierend, die parierend und bloBlegend", w 2001 heiBt, der in der Samrn 2001-2011 erscheint.27 Die D wird noch stringenter, als W sammenarbeit mit der Stas: Gri.indung stattgefunden hat. nen, dass auch i.iber das Ehep: si-Akten existieren. Seit 197€ wurden Christa und Gerhard Jahr 2010 schreibt, hat der I setzt und die Gegenwart gleic des Erlebten zum Opfer ge Ùberwachung beinahe absic; stimmte, nach Scoops gierige nige literarische Berichte, die fiinfziger Jahre fi.ir die Stasi v
auch in der internationalen P: ter erreichen. Das Auslosche1 stellerin eine seelische Qual, .. zu einer tief greifenden Selbs; fi.ihl hervorruft: 26 Wolf 2010: 39. 27 Wolf 2014: 25. 28 Wolf 2010: 182-183.
zwischen W eiBen, Schwarzen und Lateinamerikanern mit einem prazisen Bericht iiber die im wiedervereinigten Deutschland tobenden verleumde-rischen Kampagne gegen jene Ost-lntellektuellen verflicht, die bis 1989 in der DDR geblieben waren. Mit tiefer Erschiitterung reagiert Wolf auf die Anklage gegen sich selbst, die auf Kollaboration mit Honecker lautet.
Was die Schriftstellerin unternimmt, ist also eine utopische Annahe-rung an die kaum wahrzunehmende Substanz der menschlichen Existenz, eine Annaherung, deren Schwierigkeit immer wieder durch die Hinweise auf Schreibblockaden thematisiert wird.26 Die Gleichzeitigkeit der ver-schiedenen Lebensschichten lasst sich nur andeuten:
"Die ura!te Tatsache, da/5 von allem, was gleichzeitig geschieht und gedacht und empfunden wird, in dem linearen Schriftzug auf dem Papier nicht gleichzeitig die Rede sein kann, macht mir plotzlich wieder so zu schaffen, da/5 der Zweifel an der Wirklichkeitstreue meiner Schreibarbeit sich zu schierer Schreibunmoglichkeit aus-wachsen kann." (Wolf 2010: 30)
In diesem Zusammenhang erscheint das Schreiben als ein ,,Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinsten Verastelung der Person herauspra-parierend und bloB!egend", wie es in Wolfs Text Donnerstag, 27. September 2001 heiBt, der in der Sammlung Ein Tag im ]ahr im neuen jahrhundert 2001-2011 erscheint.27 Die Dialektik zwischen Erinnerung und Vergessen wird noch stringenter, als W olf das heikle Thema ihrer verdrangten Zu-sammenarbeit mit der Stasi erortert, die in den Jahren der DDR-Griindung stattgefunden hat. In diesem Zusammenhang ist aber zu beto-nen, dass auch iiber das Ehepaar W olf zweiundvierzig Dossiers in den StasiAkten existieren. Seit 1976 dem J ahr der Ausbiirgerung Biermanns -wurden Christa und Gerhard W olf standig iiberwacht. Wie die Autorin im Jahr 2010 schreibt, hat der Blick in ihre Akten ,,die Vergangenheit
zer-setzt und die Gegenwart gleich mit vergiftet", da beide einer Manipulation des Erlebten zum Opfer gefallen sind.28 Indem man jene wiederholte Ùberwachung beinahe absichtlich iibersah, konzentrierte sich eine be-stimmte, nach Scoops gierige W estpresse, scharf und fast einseitig auf ei-nige literarische Berichte, die W olf unter einem Decknamen Anfang der fiinfziger Jahre fiir die Stasi verfasst hatte. Jeden Tag folgen neue Angriffe auch in der internationalen Presse, bis sie schlieB!ich auch das Getty Cen-ter erreichen. Das Ausloschen des Vergangenen verursacht in der Schrift-stellerin eine seelische Qual, welche die Einheit ihres Selbst in Frage stellt, zu einer tiefgreifenden Selbstbefragung fiihrt und ein Entfremdungsge-fiihl hervorruft: 26 Wolf 2010: 39. 27 Wolf 2014: 25. 28 Wolf 2010: 182-183.
---,, W er soli dies es Ich sein, das da berichtet. Es ist ja nicht nur, daB ich vieles vergessen habe. Vielleicht ist noch bedenklicher, daB ich nicht sicher bin, wer sich da erinnert. Eines von den vielen Ichs, die sich, in schneller oder langsamer Folge, in mir abgelost haben, die mich zu ihrem Wohnsitz gewahlt haben." (Wolf 2010: 214)
Der Schreibprozess bringt also das latente Unbewusste ans Tageslicht, er wird zu einem psychologischen Kampf gegen den ,,WIDERST AND", der -so Wolf- ,,sich mir entzieht, wenn ich ihn benennen will". Es handelt sich um ein Vorangehen ,,IN MIKROSKOPISCHEN DOSEN" ent!ang der ,,Spur der Schmerzen" bis zum ,,BLINDEN FLECK" im Bewusstsein.29 Die eigene
Empfindsamkeit ist derart gereizt, dass ein lastiger, aber harmloser Zwi-schenfall mit dem Computer, das heiBt das plotzliche Verschwinden einer nicht gespeicherten Datei, als Mahnung betrachtet wird: ,,Computerab-sturz. [ ... ] Will dieser ,Absturz' mich warnen, daB ich mich schreibend dem Punkt nahere, den ich mehr oder weniger bewuBt, mehr oder weni-ger kunstvoll umschlichen habe?"30 Wolf sieht sich vor die Alternative
ge-stellt, entweder alles zu speichern oder alles zu loschen, die unangeneh-men Ich-Teile mit Freuds Mante! (the overcoat of Dr. Freud) zu bedecken
oder aber den Mante! selbst umzustiilpen und das bisher Verschwiegene aufsteigen zu lassen und zu Papier zu bringen.31 Hier beginnt die
schmerzliche Selbstbefragung:
,,NUN IST JA SCHREIBEN EIN SICH-HERANARBEITEN AN JENE GRENZ-LINIE, DIE DAS INNERSTE GEHEIMNIS UM SICH ZIEHT UND DIE ZU VERLETZEN SELBSTZERSTÒRUNG BEDEUTEN WÙRDE, ABER ES IST AUCH DER VERSUCH, DIE GRENZLINIE NUR FÙR DAS WIRKLICH IN-NERSTE GEHEIMNIS ZU RESPEKTIEREN UND DIE DIESEN KERN UMGE-BENDEN, SCHWER EINZUGESTEHENDEN TABUS NACH UND NACH VON DEM VERDIKT DES UNAUSSPRECHLICHEN ZU BEFREIEN. NICHT SELBSTZERSTÒRUNG, SONDERN SELBSTERLÒSUNG. DEN UNVER-MEIDLICHEN SCHMERZ NICHT FÙRCHTEN." (Wolf 2010: 271-272)
Wichtig ist nicht nur der Augenblick, in dem sich das Ich eine bestimmte Erinnerung wieder aneignet, sondern auch der Ort, an dem dies geschieht. Diese Tatsache wird nochmals durch Benjamins Worte hervorgehoben: ,,So miissen wahrhafte Erinnerungen " - heiBt es im Essay Ausgraben und Erinnem - ,,vie! weniger berichtend verfahren als genau den Ort
bezeich-nen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. "32 In diesem
Zusammen-hang wird die ,,Stadt der Engel" zur Metapher fiir das Beobachten des ei-genen Ichs aus der Hohe - und das bedeutet: mit Abstand.
29 Wolf 2010: 107, 14, 21. 30 Wolf 2010: 167.
31 Vgl. Pormeister 2015: 94.
32 Wolf 2010: 7; vgl. Benjamin 1984: 486.
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Benjamin, Walter: ,,Ausgraben und Erinnern", in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von T.W. Adorno und G. Scholem, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhauser. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1984, Bd. VI, S. 486.
Deiritz, Karl/Krauss, Hannes: Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder ,Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge': Analysen und Materialien. Hamburg/Ziirich: Luchterhand 1991.
Pormeister, Eve: ,,Vom Nachdenken i.iber das Vergessen zur schonungs-los [e] Selbsterkenntnis. ,,Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" von Christa Wolf, in: Therese Hornigk/ Carsten Gansel (Hg.): Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspek-tiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf. Berlin: vbb 2015.
Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Auto(r)fiktion. Bielefeld: Aisthesis Ver-lag 2013.
Wolf, Christa: Nachdenken uber Christa T. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968.
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Wolf, Christa: Ein Tag im ]ahr im neuen ]ahrhundert 2001-2011, hrsg. von Gerhard Wolf. Berlin: Suhrkamp 2014.