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Das Recht im Prozeß der europäischen Integration, Ein Plädoyer für die Beachtung des Rechts durch die Politikwissenschaft

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EUI

WORKING

PAPERS IN

LAW

EUI Wotking Paper LAW No. 95/1

Dh Recht im Froze B der europaiscben Integration Ein PlSdoyer fur die Beachtung des Recbts

durch die Politikwissenschaft

Christian Joerges © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.

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© The Author(s). European University Institute. produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research

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ABTEILUNG RECHTSWISSENSCHAFT

EUI Working Paper LAW No. 95/1

Das Recht im ProzeB der europàischen Integration

Ein Pladoyer fiir die Beachtung des Rechts durch die Politikwissenschaft

Ch r is t ia n Jo e r g e s Bremen/Florenz

LflW

EUR F a 9 © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.

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No part of this paper may be reproduced in any form without permission of the author.

© Christian Joerges Printed in Italy in March 1995

European University Institute Badia Fiesolana I - 50016 San Domenico (FI)

Italy © The Author(s). European University Institute. produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research Repository.

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Das Recht im ProzeB der europâischen Integration

- Ein Plàdoyer fiir die Beachtung des Rechts durch die Politikwissenscnaft -*

Gl ie d e r u n g:

I. Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft... 2

1. Schismen und Brückenschlàge... 3

2. Strukturierungen... 6

II. Die konstitutionelle Bedeutung der Suprématie des europâischen R echts... 8

1. Das EG-System als Supranationale Rechtsordnung... 10

2. Das EG-System als Staatenverbund... 14

a) Umqualifizierungen... 15

b) Légitimation... 19

3. Transdisziplinare und interdisziplinare Fragen . . . 23

III. Europâisierung des Wirtschaftsrechts... 30

1. Europâische Wirtschaft und nationaler S ta a t... 31

2. Regulative Funktionen und normative Qualitâten des Wirtschaftsrechts... 34

3. Regelungsmuster des europàisierten Wirtschaftsrechts... 38

a) Binnenmarktprogrammatik... 39

b) Rationalisierungsprozesse... 46

SchluBbemerkung... 48

Frau Beate Kohler-Koch verdanke ich eine kritische, aber auch ermutigende Kommentierung der urspriinglichen Fassung dieses Aufsatzes. Zu Dank verpflicntet bin ich femer Markus Jachtenfuchs, Stephan Leibfried, Michael Ziim und den Teilnehmem am Forschungsseminar des Zentrums fiir Europaische Rechtspolitik in Bremen. Der Beitrag soil - ggf. in einer nochmals veranderten Form - in dem von Markus Jachtenfuchs und Beate Kohler-Koch herausgegebenen Band "Europaische Integration" (Opladen: Leske und Budrich) erscheinen. © The Author(s). European University Institute. version produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research

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I. Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft

"Integration Through Law" - unter diesem Titel haben Mauro Cappelletti, Monica Seccombe und Joseph Weiler (1986) am Eu- ropàischen Hochschulinstitut in Florenz Anfang der 80er Jahre ein transatlantisches, amerikanische und europâische Erfahrungen vergleichendes Projekt gestellt. Der Titel war, was Europa an- geht, programmatisch gemeint und enthâlt dennnoch eine Ambi- valenz. Man kann die Formel von der Integration durch Recht zunàchst einmal instrumentell verstehen: als Aussage iiber die Techniken der Integrationspolitik und den Erfolg dieser Vorge- hensweise. Sozialwissenschaftler kônnen diese Lesart als Provo- kation empfinden, wenn und soweit sich darin ein juristisches Selbstverstândnis dokumentiert, das die Abhàngigkeiten der Rechtsbildung und der Wirkungschancen des Rechtssystems nicht wahrhaben will, weil man sich das Recht als eine autonome Welt vorstellt, in der allein die Regeln der juristischen Kunst herrschen. Eine zweite Lesart ist jedoch ergiebiger. Danach be- zeichnet die Formel der Integration durch Recht dessen beson- dere Funktionen und Leistungen fiir den Aufbau der Europâi- schen Gemeinschaft. In der Sprache der Rechtswissenschaft geht es um die Qualitàt des Europâischen Rechts als einer "constitutional charter" der beteiligten Staaten, die sich von alien anderen internationalrechtlichen Materien abhebt: dem Vôlker- recht, das seine Geltung auf vertragliche Vereinbarungen zwi- schen sourverànen Staaten und/oder die allgemeine Anerkennung von Rechtssâtzen zuriickfiihrt; dem internationalen offentlichen Recht, das jeder staatlichen Rechtsordnung die einseitige Defini­ tion und Wahrung ihrer je eigenen Regelungsansprüche überlâBt; dem internationalen Privatrecht, fiir das die Anwendung fremden Rechts eine - theoretische - Selbstverstândlichkeit ist, das aber solche Rechtsiibemahmen auf nationalstaatliche Rechtsquellen zuriickfiihrt und grundsâtzlich auf "privatrechtliche" Vorschriften beschrânkt. In der Sprache Politikwissenschaft laBt sich diese

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Sonderstellung des europàischen Rechts als Aussage über eine spezifische Dichte der "Verregelung" Europas rekonstruieren - und mit entsprechenden Abgrenzungen verbinden: gegenüber rein vertraglichen Kooperationsbeziehungen souverâner Staaten, gegenüber internationalen Organisationen und Regimen.

Solche Parallelisierungen rechtswissenschaftlicher Qualifi- kationen und politikwissenschaftlicher Rekonstraktionen treffen, wenn es um die Anerkennung einer besonderen Qualitàt der Ver- rechtlichung Europas geht, unausweichlich auf eine Fragestel- lung, an die sich dann eine dritte Lesart der Formel von der Inte­ gration durch Recht anschlicBen lâBt: Wie - und in welchen Grenzen - ist die Geltung einer supranationalen Rechtsverfassung Europas rechtswissenschaftlich überhaupt begründbar? Wie làBt sich die Entstehung dieses supranationalen Rechts erklàren und was kann man über seine Wirksamkeitsbedingungen in Erfahrung bringen? Diese Fragen werden im folgenden immer wieder auf- zugreifen sein. Die Antworten, für die dieser Beitrag plàdiert, sind rechtswissenschaftlich wie politikwissenschaftlich gewiB riskant. Sie besagen, daB die inhaltlichen Geltungsansprüche des europàischen Rechts nicht einfach formell-positivistisch ausge- wiesen werden dürfen, sondem von dessen "normativen Qualitàt" abhàngig seien: Dieses "normative proprium" des Rechts - seine Integretàt und seine Legitimitàt - so lautet die AnschluBthese - müsse auch die Politikwissenschaft als eine Wirksamkeitsbedin- gung des europàischen Rechts begreifen und konzeptionell be- rücksichtigen.

1. Schismen und Brückenschlàge

Die Programmatik der Integration durch Recht haben wir implizit als einen für die Rechts- und Politikwissenschaft gleichermaBen

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relevanten Gegenstandsbereich vorgestellt. Dies ist nicht selbst- verstandnlich und soil auch nicht etwa cine Aufhebbarkeit der Grenzen zwischen diesen Disziplinen suggerieren. Fur die im all- gemeinen hochst unterschiedlichen Wahmehmung und Behand- lung des Rechts in den mit der europaischen Integration befaBten Wissenschaften gibt es ja gute Griinde, die mit der Definition von Forschungsfragen, mit den jeweiligen disziplinaren Methodolo- gien und dem Aufbau ihrer Theorien zusammenhangen. Die Rechtswissenschaft setzt in aller Regel gleichsam definitionsge- maB voraus, das sie es "lediglich" mit den Ergebnissen der "Verrechtlichung" gesellschaftlicher Verhaltnisse, den autoritativ beglaubigten Entscheidungen iiber politische Prozesse zu tun habe, um sich dann auf die Resultate solcher Transformationen zu konzentrieren - auf das "Recht als solches". Die Operationen des Rechtssystems gelten als Reaktionen auf Entscheidungsfra- gen, die auf der Grundlage vorgegebener Texte durch hermeneu- tische Sinnermittlung, die Ausbildung von Prinzipien, Regeln und Dogmatiken beantwortet werden. Sozialwissenschaftler be- obachten das Rechtssystem anders. Sie behandeln es als erkla- rungsbediirftiges Phanomen, als Ergebnis oder Element politisch- sozialer Prozesse. Sie interessieren sich fur seine Programm- strukturen und Rationalitatsmuster. Sie lassen sich nicht auf jene spezfisch juristischen Argumentationsformen ein, die fur die Be- antwortung von Rechtsfragen gelten, sondern betrachten die Um- setzung von Rechtsprogrammen als Implementationsproblem. Aber nicht nur die Routinen der juristischen Argumentations- technik, sondern auch das "normative proprium" des Rechts iiberhaupt erscheint Sozialwissenschaftlern gemeinhin suspekt. Normative Aussagen finden sich zumeist nur in den mehr oder weniger deutlich ausgewiesenen Pramissen sozialwissenschaftli- cher Analysen, wahrend sich die eigentlich wissenschaftlichen Operationen dann von normativen Diskussionen freizuhalten su- chen. © The Author(s). European University Institute. produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research

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Glücklicherweise sind ail dies vereinfachende Zuschreibun- gen. Die rechtswissenschaftliche Behandlung Europas erschôpft sich nicht in der kunstgerechten Behandlung von Entscheidungs- fragen. Es gibt eine wissenschaftliche Grundlagendiskussion, die ihre normativen Perspektiven sozialphilosophisch ausweist und deren Umsetzungbedingungen reflektiert (Übersicht bei Joerges 1991a: 229ff); es gab immer wieder Bemühungen um Brücken- schlâge zu den sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Behrens 1981: 8ff), und es gibt neuere Ansàtze einer "kontextuellen" Eu- roparechtswissenschaft, die sozialwissenschaftliche Analysen zur Entstehung und Wirkungsweise des Rechts in ihren normativen Aussagen berücksichtigt (programmatisch Snyder 1990; 1993b). Aber auch auf Seiten der Politikwissenschaft intensiviert sich das Intéresse am Recht als Forschungsobjekt. Diese Ôffnung verbin- det sich mit einer Emeuerung der sozialwissenschaftlichen Inte- grationsforschung, die praktisch das gesamte Spektrum der Théo­ rie der Internationalen Beziehungen sowie der Vergleichenden Politikwissenschaft nutzbar zu machen beginnt und den AnschluB an allgemeine sozialwissenschaftliche Ansàtze und Grundlagen- diskussionen findet.

Ein Beitrag über die Funktion des Rechts im Integrations- prozeB darf - soweit er sich an Sozialwissenschaftler richtet - die Vielschichtigkeit der Rechtswissenschaft nicht unterschlagen, und er muB - soweit er sich an Juristen wendet - das Theorie- spektrum der Politikwissenschaft berücksichtigen. Eine systema- tisch angelegte Untersuchung hàtte deshalb konkurierende An- sâtze in beiden Disziplinen nachzuzeichnen und würde dann strukturelle Affinitàten aufzeigen kônnen: zwischen den zunâchst mit dem klassischen Vôlkerrecht operierenden rechtlichen Deu- tungen der Europàischen Gemeinschaft (dazu z.B. Bülck 1959: 66ff) imd "realistischen" politikwissenschaftlichen Analysen der EG als intergouvernementaler Kooperationsform; zwischen ihrer rechtlichen Qualifikation als "Zweckverband funktioneller

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gration" (Ipsen 1972: 176ff) und den neofunktionalistischen Inte- grationstheorien oder an die Regimeforschung anknüpfenden Analysen (Gehring 1994); zwischen der ordo- und neoliberalen Konzeptualisierung der Gemeinschaft als eine supranationale Marktverfassungsordnung (zuletzt Behrens 1994: 73ff; Mest- màcker 1994: 615ff; Petersmann 1994: 389ff) und der neoklassi- schen ôkonomischen Theorie (Streit; Mussler 1995) sowie insti- tutionellen und social choice-Ansàtzen. "Strukturelle Affinita- ten", die sich zwischen rechts- und sozialwissenschaftlichen Theorien entdecken lassen, ebnen die Unterschiede zwischen den Disziplinen nicht ein. Aber sie bedeuten, daB Politikwissen- schaftler, wenn sie Auskiinfte iiber die Bedeutung des Rechts einholen, auf die konzeptionellen Grundlagen ihrer juristischen Gespràchspartner zu achten haben; sie bedeuten ebenso, daB Juri- sten, die sich iiber die "Wirklichkeit" des Integrationsprozesses vergewissern môchten, den theoretischen Kontext politikwissen- schaftlicher Analysen beriicksichtigen miissen.

2. Strukturierungen

Angesichts der Vielschichtigkeit des rechts- und politikwissen- schaftlichen Diskussionsstandes ware es - jedenfalls in dem hier vorgegebenen Rahmen - nun allerdings aussichtslos, eine voll- stândige Darstellung des Beziehungsgeflechts zwischen den Dis­ ziplinen anzustreben und hier aus gleichsam induktiv konkurrie- renden Perspektiven zur Rolle des Rechts herauszuarbeiten und zu evaluieren. Als Alternative bietet sich die Konzentration auf die Entfaltung einer inhaltlichen Position an: unserer Aus- gangsthese, daB die "normative Qualitât" des europâischen Rechts zu dessen Geltungsvoraussetzungen gehôre. In dieser These geht es, soweit die Rechtswissenschaft betroffen ist, um die Begriindbarkeit der Geltungsanspriiche eines Rechtssystems,

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das ohne die Zwangsmittel eines staatsgleichen Souveràns aus- kommen muB und sich auch nicht auf die Legitimationsmuster demokratisch organisierter Verfassungsstaaten stiitzen kann; methodologisch bedeutet dies, daB die Rechtswissenschaft sich (auch) im Europarecht mit einem formell-positiven Umgang mit ihrem Gegenstand begnugen darf. Soweit die Politikwissenschaft betroffen ist, geht es um eine Abgrenzung gegenliber szientifi- schen Erklàrungen fiir die Entstehung transnationaler Regelungen und die Behauptung, daB reflexive Theorieansàtze, in denen die Wirksamkeit solcher Regeln mit deren normativ-moralischen Gehalten in Verbindung gebracht wird (Hurrel 1993: 49ff, 65ff; Schaber 1994: 8Iff), eher in der Lage seien, die Bedeutung des Rechts fiir die Integration zu erfassen. Das "Legitimitàtsproblem " ware eine knappere, aber kaum prazisere Umschreibung dieser Schnittstelle von Sozial- und Rechtswissenschaft: 1st die Legali- tat des europàischen Rechts derart institutionalisiert, so kònnte man fragen (vgl. Habermas 1987: Uff), daB seine Rechtsproduk- tionsverfahren rational einsehbare Geltungsanspruche vermitteln? Gelingt es dem europàischen Recht, so lieBe diese Frage sich ab- wandeln (Franck 1990; Weiler 1991: 2466ff), seine Akzeptanz und Befolgung langfristig zu gewàhrleisten?

Diese Fragen mògen abstrakt und theoretisch klingen. Sie sind aber auch praktisch gemeint. Diese praktische Dimension wird im folgenden im Vordergrund stehen. Sie kann allerdings wiederum nur ausschnitthaft diskutiert werden. Zwei Themenbe- reiche von exemplarischer Bedeutung bieten sich hierfiir an: Zum einen der Streit um die rechtliche Rekonstruktion der "Gestalt" des EG-Systems und zum anderen die Problematik einer sozial- vertràglichen Verfassung der Wirtschaft Europas. Bei dem ersten Themenbereich geht es um Besonderheiten des europàischen Rechts gegeniiber den nationalstaatlich organisierten Rechts- systemen einerseits und dem Vòlkerrecht andererseits. Bei dem zweiten geht es um die Formen und Folgen der Ausrichtung des

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Integrationsprojekts auf eine "Wirtschaftsgemeinschaft". Der erste Themenbereich hat durch das Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts (BVerfG) zum Vertrag von Maastricht eine neue Aktualitàt gewonnen. Seine Bedeutung ist aber unabhangig da- von, ob sich die mit diesem Urteil verbundenen Hoffnungen oder Befiirchtungen bewahrheiten. Sie ergibt sich einfach daraus, daB hier konstitutionelle Kemprobleme aufgegriffen wurden, die ohnehin auf die europaische Tagesordnung gehoren. Der zweite Themenbereich hângt mit dem ersten systematisch eng zusam- men. GewiB geht es bei der Verrechtlichung der europàischen Wirtschaft weithin bloB um "regulatorisches" und nicht um "konstitutionelles" Recht (zu dieser Differenz allgemein Haber­ mas 1987: U ff; speziell zum internationalen Recht Schaber 1994: 81ff, 97ff). Aber bei den Zielsetzungen und den Gehalten des Wirtschaftsrechts geht es immer auch um die Bestimmung der Aufgaben des Verfassungsstaates - die Ausgestaltung der Marktwirtschaft ist selbst eine verfassungsrechtliche Kemfrage (Hàberle 1993: 383 ff). Deshalb ist auch die Verlagerung wirt- schaftsrechtlicher Regelungskompetenzen auf die europaische Ebene ein Verfassungsproblem - die Institutionalisiemng einer supranationalen Marktverfassung betrifft nicht bloB die politische Handlungsfàhigkeit, sondern gleichsam die rechtliche Existenz- form des nationalen Verfassungsstaates.

II. Die konstitutionelle Bedeutung der Suprématie des europàischen Rechts

Am Anfang jedes juristischen Schôpfungsaktes steht die Bildung eines Begriffs. Der Terminus "Gemeinschaftsrecht", der die Son- derstellung des europàischen Rechts gegenüber dem Vôlkerrecht einerseits und dem nationalen Recht anderseits zum Ausdruck bringt, ist seit langem allgemein üblich. Seine genauere

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schreibung bleibt dennoch eine Daueraufgabe. Mit der Begriffs- schôpfung sei, so erklàrte der Nestor des deutschen Europarechts noch i.J. 1994, lediglich eine '"Gestalt'-Kennzeichnung" gefun- den, wie sie iiberall angebracht sei, "wo und so lange Rechtsbe- grifflichkeit abstrakter MaBstâbe sich noch nicht einstellt, indes eine veranschaulichende, konkretisierende, empirisch begriind- bare und dem Aktionsziel entsprechende Beschreibung einer Er- scheinung angebracht und moglich ist" (Ipsen 1994: 7; vgl. ders. 1983: 79ff).

Solche Vorbehalte diirften gerade Politikwissenschaftler nicht iiberraschen. Nicht anders als die Disziplinen des interna- tionalen und des europàischen Rechts ist die Theorie der interna- tionalen Beziehungen unablâssig damit beschâftigt, Umgestal- tungen ihres Gegenstandsbereichs auszumachen und konzeptio- nell zu verarbeiten. Radikaler aber als die Rechtswissenschaft, nâmlich bis zur Preisgabe ihrer selbst, hat die politikwissen- schaftliche Integrationstheorie auf die Wechsellagen des Integra- tionsprozesses, seine Anfangserfolge, die Krisen der 60er Jahre, die neue Dynamik seit den 80er Jahren und die gegenwàrtigen Unsicherheiten reagiert. Die Rechtswissenschaft erschien demge- geniiber standhafter. Die Konzeptualisierung des EG-Systems als supranationaler Rechtsordnung, die dem Terminus Gemein- schaftsrecht seinen herrschenden Bedeutungsgehalt gab, hat sich ausgerechnet in den integrationspolitischen Krisen der 60er Jahre durchgesetzt. Nachhaltig in Frage gestellt wurde dieser juristi- sche acquis communautaire erst durch das Urteil des BVerfG vom 12.10.1993 zum Vertrag von Maastricht. Was bedeutet und wie erklàrt sich die Kontinuitât rechtlicher Konzeptualisierun- gen? Was bedeutet und wie erklàrt sich der neue Rechtsstreit um die juristische Qualifikation des EG-Systems? Die folgende Re- konstruktion soli zeigen, daB es bei rechtswissenschaftlichen Konzeptualisierungen keineswegs bloB um inner-juristische Pro­ blème geht - und daB die Abhàngigkeiten und Offenheiten

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licher Qualifikationen tragfàhige und ertragreiche AnschluBmòg- lichkeiten für interdisziplinàre Überlegungen enthalten.

1. Das EG-System als Supranationale Rechtsordnung Die Deutung des EG-Systems als supranationale Rechtsgemein- schaft, die vor allem dem Europàischen Gerichtshofs (EuGH) zu verdanken ist, hat - im Rechtssystem und dariiber hinaus - eine derart weitgehende Anerkennung gefunden, daB man sie als gel- tende europarechtliche Orthodoxie bezeichnen darf. Der schritt- weise Aufbau dieses Rechtsgebàude ist so oft nachgezeichnet worden (vgl. z.B. Ipsen 1973: 97ff; Weiler 1991: 2413ff), daB hier wenige Hinweise auf die wichtigsten Bauabschnitte geniigen dürften.

Der Grundstein wurde im Jahre 1963 durch die Doktrin von der "unmittelbaren Wirkung" des EG-Rechts gelegt (EuGH 1963). Diese Doktrin besagt zunâchst, daB Regeln des EWG- Vertrages, soweit sie hinlànglich prazise gefaBt sind, nicht nur die Gemeinschaften und die Mitgliedstaaten verpflichten, son­ dera "direkt" gelten und subjektive Rechte begriinden: jedermann darf sich auf die in dem Vertrag enthaltenen Freiheitsrechte beru- fen und die innerstaatlichen Gerichte müssen deren Schutz ge- wàhrleisten, als ob es sich um innerstaatliches Recht handelte.

Was heute so allgemein anerkannt wird, war seinerzeit ailes andere als selbverstândlich. Der EWGV hatte in Art. 169 Klagen der Kommission und der Mitgliedstaaten wegen einer Verletzung von Vertragspflichten vorgesehen. Dies entsprach volkerrechtli- chen Vorbildern. Allerdings konnte man auf das Vorlageverfah- ren des Art. 177 und aus den weitgehenden Rechtssetzungsbe- fugnissen der Gemeinschaft herleiten, daB diese mehr sein solite

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als eine internationale Organisation. Diese Elemente des Vertra- ges übersetzte der EuGH in seine Direktwirkungs-Doktrin:

"Das Ziel des EWG-Vertrages ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionen die der Ge- meinschaft angehôrigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, da8 dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflich- tungen zwischen den vertragsschlieBenden Staaten be- gründet. Diese Auffassung wird durch die Pràambel des Vertrages bestâtigt, die sich nicht nur an die Regie- rungen, sondern auch an die Vôlker richtet. Sie findet eine noch augenfâlligere Bestâtigung in der Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher Weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt. ... Auch die dem Ge- richtshof im Rahmen von Artikel 177, der die ein heit- liche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte gewâhrleisten soll, zukommende Aufgabe ist ein Beweis dafür, daB die Staaten davon ausgegangen sind, die Bürger müBten sich vor den nationalen Ge- richten auf das Gemeinschaftsrecht berufen kônnen. Aus alledem ist zu schlieBen, daB die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Vôlkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souverânitâtsrechte eingeschrànkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unab- hàngige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Ver­ trag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt" (EuGH 1963: 24f).

Der zweite Baustein war die Doktrin vom "Vorrang" des Ge- meinschaftsrechts. Sie ist in der bahnbrechenden Costa/E.N.E.L.- Entscheidung als rechtslogisch zwingende Implikation der Lehre von der unmittelbaren Geltung eingeführt worden:

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Die "Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschafts- rechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, daB es den Staaten unmòglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit ange- nommene Rechtsordnung nachtraglich einseitige MaB- nahmen ins Feld zu fuhren". Es "wlirde eine Gefahr fiir die Verwirklichung der in Artikel 5 Absatz 2 aufge- fiihrten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Artikels 7 widersprechende Diskriminierungen zur Folgen haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachtraglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem zum anderen Staat verschiedene Geltung haben konnte" (EuGH 1964: 1269f).

Der zitierten Passage lassen sich bereits zwei weitere Kon- sequenzen entnehmen. Die "unmittelbare Geltung" des Gemein- schaftsrechts, aus der sich sein Vorrang ergibt, besagt auch, daB dem Gemeinschaftsrecht eine "Sperrwirkung" gegeniiber der na- tionalen Gesetzgebung zukommen muB: Ist ein Regelungsfeld vom europàischen Recht erfaBt, so darf kein Mitgliedstaat mehr eigenmàchtig handeln. Die Forderung, dem Gemeinschaftsrecht miisse in alien Mitgliedstaaten die gleiche Bedeutung zukommen, besagt im iibrigen, daB die Kompetenz zur Bestimmung seiner Geltungsanspriiche dem EuGH zustehen muB. Diese Konsequenz hat in einer besonders nachdriicklichen Weise die AETR-Ent- scheidung aus dem Jahre 1971 gezogen (EuGH 1971). An dieses Urteil kniipfte die Rechtsprechung zur "funktionalen", sich auf die Vertragsziele berufenden Begriindung von Gemeinschafts- kompetenzen und die "implied powers"-Doktrin an: Obgleich der Vertrag die EG-Zustàndigkeiten "enumerativ" regelt und dadurch begrenzt, so seien doch die gemeinschaftsrechtlichen Regelungs- befugnisse "zielbezogen" zu verstehen und zu handhaben. - Im Rahmen des Art. 235 EGV bedarf es dazu einstimmiger Ent- scheidungen. Das gleiche galt fiir MaBnahmen der Rechtsanglei- chungspolitik nach Art. 100.

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Selbstverstàndlich stellten und stellen sich bei der Anwen- dung all jener Grundsàtze schwierige Abgrenzungsfragen, die entsprechende Auslegungskontroversen nach sich ziehen. So­ lange jene Grundsàtze aber im Grundsatz akzeptiert werden und der EuGH imstande bleibt, Zweifelsfalle verbindlich zu entschei- den, haben wir es mit einer supranationalen Rechtsordnung zu tun, die sich von den intemationalrechtlichen Regeln zum Ver- hàltnis von Vòlkerrecht und Landesrecht signifikant unterschei- det. Eben wegen dieser Differenz darf man des vom EuGH ver- tretenen Strukturierung der europàischen Rechtsystems den Sta­ tus einer "constitutional charter" zuschreiben (vgl. z.B. Stein 1981: Iff; Weiler 1991: 2413ff, Pernice 1993: 449 ff). Der EuGH Er hat sich fiir seine Leitentscheidungen nicht der Zustimmung der europàischen Nationen versichem konnen und regelmàBig nicht einmal das Plazet ihrer Regiemngsvertreter gefunden (vgl. Stein 1981: 25). Ebensowenig konnte er auf die Zwangsmittel und Durchsetzungsgarantien eines supranational institutionali- sierten Machtapparates setzen. Gestiitzt haben den EuGH die Ge- neralanwàlte am Gerichtshof und die Kommission sowie, nach einigem Widerstreben (vgl. Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil 1994: 98ff; Weiler 1993: 417ff), die Gerichte der Mitgliedstaaten. Selbst derart grundlegende Veràndemngen der Rechtssetzungs- verfahren wie der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen bei MaBnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes nach Art. 100a gemaB der Einheitlichen Europàischen Akte (EEA) von 1987 und die damit verbundene Stârkung des Europàischen Par- laments haben die Qualitât des Begmndungsmodus fiir die Su- pranationalitât des Europàischen Rechts nicht grundsàtzlich ge- àndert, sondern lediglich zu einer Umsetzung einzelner Bausteine des Systems und zu einer gròBeren Behutsamkeit bei seinem weiteren Ausbau gefiihrt. So hat der EuGH die dem Europàischen Parlament zugewachsenen Mitspracherechte im Rechtsetzungs- prozeB geschützt (EuGH 1990a und 1992a; vgl. schon EuGH 1980). Die Durchsetzung des sekundàren Gemeinschaftsrechts

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wurde durch das Gebot einer "richtlinienkonformen Auslegung" des nationalen Rechts (EuGH 1990b) und durch die Statuierung von Schadensersatzpflichten der Mitgliedstaaten gegeniiber ihren Biirgern im Falle der Nichtumsetzung von Richtlinien (EuGH 1992b) unterstützt, eine "horizontale" Direktwirkung nicht umge- setzter Richtlinien allerdings abgelehnt (EuGH 1994e).

Allé seine Aussagen zur Qualitàt und zu den Inhalten des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH auf streng juridische Opera- tionen gestiitzt. Nirgendwo finden sich Explikationen methodi- scher Prâmissen oder verfassungstheoretische Überlegungen zu den Geltungsvoraussetzungen der "constitutional charter" Euro- pas. Wie stabil kann eine Verfassung sein, die sich als reines Rechtsprodukt darstellt?

2. Das EG-System als Staatenverbund

Fur die Wahl eines streng juristischen Argumentationsstils durch den EuGH gibt es gute Griinde. GewiB hat gerade die Distanz der fachjuristischen Begriffswelt von den Arenen der Politik die Konsensbildung auf der europaischen Ebene und die Einbindung der nationalen Rechtsakteure in das europaische System erleich- tert. Aber der Bedeutungsgehalt des so entstandenen Rechts wirkt eben iiber seine Binnenstrukturen hinaus. Er muB dann AuBen- stehenden vermittelt werden und in einer Weise explizierbar blei- ben, die den Riickfragen Betroffener standhalt. In den Jahren des expansiven Wachstums des europaischen Rechts seit der Verab- schiedung der EEA von 1987 hat es viele Anzeichen fur eine Ak- zeptanzkrise gegeben (Joerges 1993: 495 ff). Es blieb allerdings dem BVerfG vorbehalten, dieses weithin spiirbare Unbehagen sehr nachdriicklich auf seine Weise zu artikulieren. Die Ent- schiedenheit, mit der das BVerG die tragenden Elemente des

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acquis communautaire aufgekündigt hat, setzen das europâische Recht unter einen gewiB unabweisbaren Explikations- und Recht - fertigungsdruck - ob die Art der Kritik des BVerfG konstruktiv Auswirkungen haben kann, ist eine andere Frage.

a) Umqualifizierungen

Die Aussagen des BVerfG zur "Gestalt" der Europàischen Union und der Gemeinschaft sind juristisch auffâllige Wamsignale. Den allenthalben üblichen Terminus "Gemeinschaft" vermeidet das Gericht. Es handele sich bei der Union um einen "Staatenverbund" - einen "Verbund demokratischer Staaten", der "eben keine staatliche Einheit" sei (BVerfG 1993: C 1; C II 1 a; C II 2 b l und C II 3 d). Den Topos "Staatenverbund" hat der Be- richterstatter des 2. Sénats, Paul Kirchhof, zur Kennzeichnung einer Organisationsform "zwischen Staatenbund und Entstaatli- chung der Mitgliedstaaten" empfohlen, ohne damit den Anspruch einer endgültigen rechtlichen Inhaltsbeschreibung zu verbinden (Kirchhof 1992: 859ff). Diese Unbestimmtheit hindert das Ge­ richt aber nicht, die Bedeutung seines Grundbegriffs nach mehre- ren Richtungen sehr deutlich zu operationalisieren.

(1) Suprématie: Eine der Nagelproben für die Bedeutung des Verbund-Begriffs ist seine "Anwendung" auf das Verhâltnis des europàischen zum nationalen Recht. Das bislang herrschende Verstândnis umschreibt der Begriff der "Suprématie" des euro- pâisches Rechts. Er hat eine sachliche und eine institutionelle Dimension. Sachlich geht es zum einen um den Geltungsvorrang des europàischen gegenüber dem nationalen Recht, zum anderen aber auch immer um die Frage,in welchem Umfang das europâi­ sche Recht eben durch seine Qualitàt als Recht politische Ge- staltungsfreiheiten der Mitgliedstaaten einschrânkt und den EG- Bürgem unmittelbar Rechte gewâhrt. Institutionell bezeichnet

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Suprématie zunàchst einmal den Umstand, daB europàische Rechtsakte ohne Ratifikationsverfahren Verpflichtungswirkungen in den Mitgliedstaaten entfalten. Darüber hinaus geht es um die Zuweisung von Auslegungsbefugnissen in Fallen, in denen der Gehalt jener Verpflichtungen umstritten ist.

In allen Dimensionen geht das BVerfG zu dem bislang herr- schenden Verstândnis auf Distanz. Die sachlich aufschluBreichste Passage findet sich im Kontext der Stellungnahme zu Mehr- heitsentscheidungen, die das Gericht als strukturelle Vorausset- zung fiir die Integrationsfahigkeit der Mitgliedstaaten grundsâtz- lich akzeptiert, um sogleich hinzuzufügen: "Allerdings findet das Mehrheitsprinzip gemâB dem aus der Gemeinschaftstreue folgen- den Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme eine Grenze in den Verfassungsprinzipien und elementaren Interessen der Mitglied­ staaten" (C II a a.E.). Mit dem Rücksichtnahmegebot erlâutert das Gericht sein eigenes Verstândnis des Begriffs der Rechtsge- meinschaft (vgl. auch C II 2 b d2(2)) und begrenzt die Geltungs- ansprüche des europàischen Rechts durch das nationale Verfas- sungsrecht. Der Verweis auf "elementare Interessen der Mitglied­ staaten" geht über die im europàischen Recht - namentlich in Art. 100a Abs. 4 EGV - positiv anerkannten Rechte zu einem "nationalen Alleingang" hinaus. Er stellt die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten als solche in Frage. Welche "Interessen" für die Bundesrepublik von "elementarer Bedeutung" sind, kann und soil offenbar nur diese selbst bestimmen - es handelt sich mithin um einen politisch de- finierten Vorbehalt, bestenfalls, wie seinerzeit im Luxemburger KompromiB von 1966, um ein "agreement not to agree".

Mit den sachlichen Begrenzungen der Suprématie des euro- pâischen Rechts verbinden sich Einschrânkungen der institutio- nellen Rolle des EuGH einerseits, der Bindungswirkung europa- rechtlicher Vorgaben gegeniiber nationalrechtlichen

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dungstragern andererseits. Dies ist in den Kommentierungen des Urteils vielfach bemerkt worden (vgl. z.B. Tomuschat 1993: 492ff): Das BVerfG sieht sich nicht als nachgeordnete Instanz einer europaisch definierten Gerichtshierarchie, sondern mochte seine Beziehung zum EuGH als "Kooperationsverhaltnis" defi- nieren. Diese Formulierung betrifft namentlich den vom "Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz" (LS 7 u. B 2 b). Ein eigenes, nicht delegierbares Priifungsrecht nimmt das BVerfG aber auch in Bezug auf die Kompetenzordnung in Anspruch. Wenn die Gemeinschaftspraxis die Unterschiede zwi- schen einer Auslegung ihrer Befugnisse und einer Kompetenz- ausweitung, die eine Vertragsanderung voraussetzen, verkenne, soli dies "fiir Deutschland keine Bindungswirkung entfalten" (C II 3 b; vgl. demgegenuber Zuleeg 1994: 3).

(2) Kompetenzen: Die Weigerung des BVerfG, eine Kompetenz des EuGH zur Bestimmung der Grenzen der EG- Kompetenzen anzuerkennen, betrifft ein neuralgisches Konstruktionselement des europaischen Rechts. Die Schwierigkeit, diese Grenze zu erkennen, ist in der Form der Kompetenzzuweisungsregeln selbst angelegt. Diese werden auf der einen Seite "sachlich" umschrieben und lassen sich insoweit als "enumerative" Einzelermachtigungen deuten (Art. 3 u. 4 EWGV, bestatigt durch Art. E EUV, Art. 3 b I 4 EGV). Andererseits wurden die Befugnisse zur Rechtsangleichung nach Art. 100 EWGV bloB "funktional", namlich durch das Ziel der "Errichtung oder des Funktionierens des Gemeinsamen Marktes" umschrieben. Dariiber hinaus heiBt es in Art. 235 EGV lapidar, daB, wenn "ein Tatigwerden der Gemeinschaft erforderlich" erscheint, der Vertrag aber die "erforderlichen Befugnisse" nicht vorsieht, "der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhorung des Europaischen Parlaments die geeigneten Vorschriften" erlaBt. Die Bereitschaft des EuGH, bloB funktional begriindete Rechtssetzungsbefugnisse abzusegnen - und so

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insbesondere die Aktivitâten der Gemeinschaft im Umwelt- und Verbraucherschutz zu verteidigen - konnte sich bis zum Jahre 1987 auf die Zustimmung aller Mitgliedstaaten stützen. Nach der Einfiihrung der qualifizierten Mehrheitsregel fiir die MaBnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes in Art. 100a - und den Ausweitungen der Mehrheitsregel im Vertrag von Maastricht - ist diese Schranke gegen unerwiinschte Kompetenzausweitungen gefallen. Das neue Subsidiaritâtsprinzip des Art. 3b bietet hier keinen klaren rechtlichen Halt, weil das danach entscheidende Kriterium, welche Ebene eine Aufgabe "besser" wahmehmen kann, rechtlich nicht faBbar ist (Dehousse 1994:107ff).

Mit jeder Zuweisung von Kompetenzen an europàische Ent- scheidungstrâger erodiert die Handlungsfahigkeit des National- staats weiter. Diesem Verlust steht nun allerdings auch ein Ge- winn von Handlungsspielràumen gegeniiber, die sich nicht mehr einseitig ("national") wahmehmen lassen. Der Streit um die Grenzen der EG-Kompetenzen ist die rechtliche Ausdrucksform dieser Verlust- und Gewinnrechnung. Die Vorbehalte des BVerfG gegeniiber bloB funktional begriindeten Kompetenzaus­ weitungen sind ebensogut nachvollziehbar wie die Skepsis ge­ geniiber dem Subsidiaritâtsprinzip. Der Ausweg, den das BVerfG sucht, ist eine Rehabilitation des nationalen Verfassungsstaates. Es sei das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht, das die Abgabe von Hoheitsrechten trage und be- grenze, und es sei die Aufgabe des BVerfG, die Beachtung jenes Gesetzes zu iiberwachen und so die Integrationspolitik in ihre Schranken zu verweisen (C I 2 a u. 3). © The Author(s). European University Institute. produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research

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b) Legitimation

Die Vorbehalte gegeniiber dem Suprematieanspruch des eu- ropaischen Rechts und die Verteidigung eigener Priifungskom- petenzen konturieren das Theorem vom "Staatenverbund". Sie werden aber erst verstandlich, wenn man sie in dem Begriin- dungskontext des BVerfG liest. Dieser Begriindungskontext bil- det den - "transdiszplinaren" - Kem des Urteils. Drei Bezugs- punkte lassen sich dabei unterscheiden.

(1) Demokratie: Den Zugang zur sachlichen Priifung des Maastrichter Vertrages hat das BVerfG sich iiber eine Interpreta­ tion des Art. 38 GG erschlossen, die das in dieser Vorschrift ver- biirgte Wahlrecht mit Hilfe des Demokratiegebots "materialisiert". Art. 38 gewahrleiste "das subjektive Recht, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bun- desebene mitzuwirken und auf ihre Ausiibung EinfluB zu neh- men" (B 1 a). Dieser Deutung des Wahlrechts als "Anspruch auf Existenz in einer demokratisch verfaBten Staatlichkeit" (Ipsen 1994: 2) laBt sich leicht eine die Form des Nationalstaats konser- vierende Wendung geben. Man kann ihr eine Art Abwehrrecht gegen die Anerkennung und Umsetzung "fremder", nicht von innerstaatlichen Entscheidungstragern legitimierten "Hoheitsakten" entnehmen. Wie aber vertragt sich ein solches Verstandnis mit der Integrationsoffenheit der Bundesrepublik, die in Art. 24 und jetzt in Art. 23 GG verankert ist? Aber auch die Gegenstandsbereiche jenes Rechts bediirfen der Prazisierung. Gehoren zum Recht auf demokratische Existenz auch die verfas- sungsstaatlichen Moglichkeiten, eine Sozialbindung der Wirt- schaft zu gewahrleisten? Gibt es Abwehrrechte gegen soziale Folgewirkungen fremder Hoheitsakte?

(2) Integration: Schon vor dem Maastrichter Vertrag hatte die in der Vergangenheit auf den Art. 24 GG als "Integrationshebel"

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(Ipsen 1972: 58) gestiitzte Ubertragung von Hoheitsrechten an die EG Kopfzerbrechen bereitet (vgl. Schilling 1990: 161ff): Welche Schranken setzen die in Art. 79 Abs. 3 GG fur unaban- derlich erklarten Prinzipien und Regeln der Integrationsgewalt des Bundes? Die Stellungnahme des BVerfG zu der Kollision zwischen der Selbstbindung und der Offenheit des Ver- fassungsrechts ergibt sich aus seinem Verstandnis des Demokra- tieprinzips. Dieses Prinzip verlange, daB die Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen "sich auf das Staatsvolk zuriickfuhren" lasse (C I 2 vor a). Dies schlieBe die Mitgliedschaft in einer "zu ei- genem hoheitlichen Handeln befugten Staatengemeinschaft" nicht aus, bedeute jedoch, daB die Befugnisse jener Gemeinschaft begrenzt bleiben und dem Reprasentativorgan des Staatsvolkes "hinreichende Aufgaben von substantiellem politischen Gewicht" belassen werden (C II 3): "Vermitteln die Staatsvolker - wie ge- genwartig - liber die nationalen Parlamente demokratische Legi­ timation, sind ... der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europaischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. Jedes der Staatsvolker ist Ausgangspunkt fur eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt. Die Staaten bediir- fen hinreichend bedeutender Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteu- erten ProzeB politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann" (C I 2 b b2).

Das Theorem vom Staatenverbund ist mithin als eine nor- mativ gefaBte Bestandsanalyse zu verstehen, die Entwicklungs- moglichkeiten des europaischen politischen Systems aufzeigt und eingrenzt. Mit dieser Eingrenzung mochte das BVerfG das De- mokratieprinzip mit der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes ins Gleichgewicht bringen. Die Gleichgewichtsbedingung schreibt es nicht unabanderlich fest, konzipiert sie aber doch so, daB sie als Wachstumshemmnis wirken muB. Dies geschieht

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durch die Riickbindung der politischen Demokratie an die Orga- nisationsform des Nationalstaats.

(3) "Staatsvolk": Herder v. Kant: Die einschlagigen Aussagen des BVerfG sind allerdings schwer zu dechiffrieren, weil das Urteil durchaus offene, auf eine Fortentwicklung des politischen Systems der EG setzende Passagen enthalt, andererseits aber die Verbindung von Demokratie und Nationalstaat derart konstruiert, daB eine "demokratiekonforme" Supranationalitat undenkbar wird. Beides geschieht im Namen einer "Materialisierung" des Demokratieprinzips, die dessen "vorrechtliche Voraussetzungen" benennt und sie zugleich als Rechtsbedingung faBt (C I 2 b bl). Fiir die demokratische Legitimation der Staatsgewalt sei einer- seits die Gewahrleistung politischer Diskurse ("eine standige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kraften, Interessen und Ideen", C I 2 b b l) konstitutiv. Diesen Anfordemngen geniigt das politische System der EU nicht. Immerhin bleibt wenigstens denkbar, daB dereinst die politischen Ziele der europaischen Institutionen nicht mehr "in die Nationen vermittelt werden" miissen, wenn der Prozess der Ausbildung einer "offentlichen Meinung in Europa" voranschreitet. Eine wirkliche Rechtsschranke errichtet das BVerfG erst dadurch, daB es das Demokratiegebot "volksdemokratisch" (Bryde 1994: 305ff) versteht und ihm dabei einen prinzipiell nicht europaisier- baren Sinn unterstellt. Die "Staatsvolker" sollen "entfalten und artikulieren", was sie relativ homogen - geistig, sozial und po- litisch verbindet" (C I 2 b b2). Hermann Heller, auf den das Ge- richt sich hierbei bezieht, hatte seinerzeit "einen gewissen Grad von sozialer Homogenitat" als Voraussetzung fiir die Selbstbe- hauptung des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik bezeichnet (Heller 1928: 427f; vgl. zur Interpretation Bocken- forde 1991: 348ff; Bryde 1994, 311f). Der Homogenitatsappell des BVerfG ist nicht durch die Krisenlage der Weimarer Repu­ blik motiviert und weckt eben deshalb andere Konnotationen. Die

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wirtschaftliche und soziale Problemlosungsfahigkeit des Natio- nalstaates ist griindlicher erodiert - und seine innereuropaische Friedfertigkeit weiter gestiegen - als man sich dies zu Hellers Zeiten vorstellen konnte. Zu den supranationalen normativen Prinzipien, die diesen ErosionsprozeB begleitet haben, gehoren dezidiert anti-nationalstaatliche Vorgaben wie das Diskriminie- rungsverbot des Art. 6 (friiher 7) EGV und die anti-protektioni- stische Vorschrift des Art. 30 EGV. DaB Rechtsprinzipien mit universalistischem Gehalt und die europarechtliche Domestizie- rung der AuBenwirtschaftspolitik die Autonomie der National- staaten begrenzen konnen und sollen, hat das Gericht gewiB nicht iibersehen. Die Problematik seines Theorems vom Verbund in sich "relativ homogener" Staaten bleibt, daB es den Verfassungs- staat nur retrospektiv als nicht durch Rechtsprinzipen integrierba- ren Nationalstaat in den Blick nimmt. Wie bei alien rechtswis- senschaftlichen Leitvorstellungen zum EG-System handelt es sich bei dem Theorem vom Staatenverbund mithin um ein Amal­ gam aus empirisch nachvollziehbaren Beobachtungen, abstrakten theoretischen Konzepten und normativ gefaBten, Recht und Poli- tik bindenden Vorgaben. Die These, daB sich der europaische Zu- sammenschluB - derzeit und bis auf weiteres - als ein Bund staat- lich organisierter Volker darstelle, ist eine rechtlich-konzeptio- nelle Rekonstruktion, die den Ausbau supranationaler Kompeten- zen beschrankt, ein Verfassungsgebot der Verteidigung nationa- ler Rechtstraditionen und Interessen statuiert und deshalb eine mit dem EuGH konkurrierende Priifungskompetenz des BVerfG begriindet. - DaB gerade auch diese Form der Verteidigung des Nationalstaats im Namen des Demokratiegebots die Handlungs- fahigkeit des bloB nationalstaatlich organisierten Verfassungs- staates schwacht und damit diesen selbst in Frage stellt, ist eine ironische Konsequenz, auf die noch zuriickzukommen sein wird2.

2 Unten IE. © The Author(s). European University Institute. produced by the EUI Library in 2020. Available Open Access on Cadmus, European University Institute Research

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3. Transdisziplinare und interdisziplinare Fragen

Im Rechtsstreit zwischen dem EuGH und dem BVerfG geht es um Tiefenstrukturen des europaischen Rechts und des deutschen Verfassungsrechts. Das Theorem vom Staatenverbund, mit dem das BVerfG den europaischen ZusammenschluB rechtlich erfas- sen will, ist nach seiner Herkunft und Ausrichtung "einseitig" in dem Sinne, daB es die iibemationalen Bindungen der Bundesre- publik als ein Problem ihrer Bindungsfahigkeit behandelt und an den MaBstaben des eigenen Verfassungsrechts miBt. Demgegen- iiber handelt es sich bei der Rechtsgemeinschaft des EuGH um eine supranationale Konstruktion, fiir das es auf Unterschiede zwischen den Verfassungsstaaten nicht ankommt. Die Geltungs- anspriiche des nationalen und des supranationalen Rechts haben ihre je eigene "Legitimitat" - und die Vermittlung zwischen bei- den ist das Kernproblem der Verfassung Europas. Die normati- ven Dimensionen von Rechtsproblemen dieses Zuschnitts sind juristisch nicht explizierbar, geschweige den "losbar". Sie lassen sich ebensowenig "sozialwissenschaftlich" klaren. Dennoch ware es voreilig, die Art ihrer rechtspraktischen Erledigung auf sich beruhen zu lassen. Die Verankerung des "Demos" im "Ethnos", die das BVerfG in das GG hineinliest, ist explikationsfahig und kritikbediirftig. Die Supranationalitat des europaischen Rechts, die der EuGH den Verfassungsstaaten vorgeordnet hat, ist ebenso explikationsbediirftig und derzeit noch kaum rechtfertigungsfa- hig.

Wer all dies anerkennt und sich daher den Streit um das Verfassungsrecht des europaischen Zusammenschlusses nur als unerledigten Diskurs vorstellen kann, muB erst recht auf eine so- zialphilosophische und interdisziplinare Offnung der Rechtswis- senschaft drangen: Es fordert die Transparenz rechtlicher

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einandersetzungen, wenn sie sozialtheoretisch rekonstruiert und mit sozialwissenschaftlichen Analysen konfrontiert werden. Es mindert die Uberzeugungskraft rechtlichen Konzeptualisierungen, wenn sich ihre Voraussetzungen als unrealistisch erweisen oder sich Implikationen aufzeigen lassen, die ihre normativen Versprechungen diskreditieren. Aber die Blickrichtung laBt sich auch umkehren. Sozialwissenschaftliche Analysen der europàischen Institutionen miissen damit rechnen, daB die normative Qualitàt des Rechts zu seinen Wirksamkeitsbedingungen gehòrt - wie schwierig auch immer diese Wirkung zu quantifizieren sein mag.

Der Streit um die rechtliche "Gestalt" Europas ist derart vielschichtig, daB es allzu billig ware, sozialwissenschaftlichen Analysen des europàischen Rechts die Vemachlassigung dieser oder jener Problemdimension vorzuwerfen. Dies ist denn auch nicht die Absicht der folgenden Ubersicht. Es geht lediglich um Belege fur die Behauptung, daB sich sozialwissenschaftliche Rechtsanalysen, die das Gelingen einer Verrechtlichung ent- schlusseln wollen, in den normativen Diskurs um die richtige Verfassung Europas verstricken miissen.

(1) Wirkungsanalysen: Sozialwissenschaftler, die sich fiir Rechtsprogramme und spezifisch rechtliche Konfigurationen in- teressieren, spezialisieren sich regelmàBig auf die Wirkungen des Rechts. Dies geschieht namentlich in der Implementationsfor- schung, die im europàischen Rechtssystem ein kaum ausschòpf- bares Betàtigungsfeld findet. Im Ergebnis bewirkt die Imple- mentationsforschung eine Art Entzauberung des Rechts. Sie be- gnugt sich nicht, wie dies Juristen tun kònnen, mit der "Anwendung" von Rechtsregeln; sie zeigt, daB die politisch in- tendierten Wirkungen rechtlicher Programmen immer nur

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vollkommen erreicht werden, daB im Rechtssystem selbst nicht vorgesehene EinfluBfaktoren die Programmverwirklichung storen und verandem, daB all dies gemeinhin mit unerledigten Proble- men der Programmformulierung zusammenhangt. Das Rechtssy­ stem kann aus all dem lemen, wie es sein eigenes Instrumenta- rium verbessem muB; soweit dies nicht geniigt, kann auf ander- weitige Abhilfe durch das politische System gedrungen werden.

Pionierarbeiten zur Implementation des europaischen Rechts haben sich an die Muster der nationalen Implementationsfor- schung angelehnt, um dann rasch ihre Aufmerksamkeit den spe- zifischen institutionellen Bedingungen des EG-Systems zuzu- wenden - der Abhangigkeit des Gemeinschaftsrechts von seiner "Implementation" durch die Mitgliedstaaten, der Schwache der europaischen Verwaltungskompetenzen und der Knappheit ad- ministrativer Ressourcen der Kommission, den Grenzen der Kontrollbefugnisse des EuGH und seiner Abhangigkeit von den Gerichten der Mitgliedstaaten, insgesamt also von Bedingungen, die es a priori ausschlieBen sollten, der Implementationsfor- schung hierarchisch aufgebaute Modelle zugrunde zu legen (Azzi 1985; Krislov/Ehlermann/Weiler 1986: 61ff; Siedentopf/Ziller 1988; Weiler 1988: 342ff; Plett/Meszhievitz 1991). All dies kann das Rechtssystem iiber sich selbst aufklaren, z.B. iiber die zu- nehmende Rolle des "soft law" (Snyder 1994: 197ff), iiber die Rolle des AusschuBwesens (Joerges 1991b: 428ff) und auch Rechtssprechungsanalysen anregen, die institutionelle Griinde fiir doktrinelle Innovationen benennen und zugleich deren prakti- schen Schwachen aufzeigen (vgl. Snyder 1993a: 40 ff am Bei- spiel des Gebots der gemeinschaftskonformen Auslegung nach EuGH 1990b und der Staatshaftung der Mitgliedstaaten im Falle der Nichtumsetzung von Richtlinien nach EuGH 1992b)

Das signifikanteste Merkmal des europaischen Implementa- tionsprozesses ist damit immer schon mit angesprochen: der

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stand nâmlich, daû die Durchsetzung von politisch-rechtlichen Programmen nicht durch eine supranationale Sanktionsgewalt gewàhrleistet wird. Deshalb verdient nicht so sehr die Nicht-Im- plementation, als vielmehr die Wirksamkeit des Rechtsmecha- nismus und die Wahl der Rechtsform als Handlungsinstrumenta- rium Beachtung. Deshalb hat aber auch die Implementationspro- blematik für die Gemeinschaft eine sehr viel fundamentalere Be- deutung als der rechtliche Ungehorsam innerhalb des National- staats. Die Nicht-Beachtung des Gemeinschaftsrechts bedeutet, daB die EG nicht als supranationales Rechtssystem fungiert. So erklârt sich, warum die Kommission der Umsetzung des Gemein­ schaftsrechts zwar hôchste Prioritât einràumt, sich aber auch gem mit der bloB formalen Umsetzung von Richtlinien zufriedengibt (Snyder 1993a: 22ff). Man wird dann auch verstehen, warum der EuGH in seinen Urteilen peinlich auf einer strikt rechtliche Ar­ gumentation bedacht ist, und die Klugheit bewundern, mit der er die Implementationsbereitschaft der Mitgliedstaaten doktrinell absichert (meisterhaft zuletzt EuGH 1994a). Spàtestens dann, wenn die Implementationsforschung sich auf die Suche nach Ab- hilfemôglichkeiten für Implementationsdefizite einlâBt, muB sie sich deshalb in die Auseinandersetzung um die institutionellen Strukmren der EG verstricken. Und wenn sie dem EuGH raten wollte, wie er die Beachtung seiner Urteile absichern kann, so müBte sie ihn immer auch dazu mahnen, seine nationalstaatlichen Interaktionspartner von der Sachgerechtigkeit supranationaler Rechtsregeln und der Unparteilichkeit seiner Urteile zu überzeu- gen.

(2) Erklârungen: Massiver noch als die Implementationsfor­ schung stellen sozialwissenschaftliche Erklârungen von Institu- tionen und Normen das Selbstverstândnis einer auf ihre Eigen- stândigkeit vertrauenden Jurisprudenz in Frage. Allerdings hângt das AusmaB der Diskrepanzen von den jeweiligen Erklàrungsan- sprüchen ab. Holistische Ansâtze, die real-ôkonomische Prozesse

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oder grundlegende gesellschaftliche Strakturen als Bestimmungs- faktoren des Rechts behandeln, kônnen diesem selbst kaum eine eigene strukturierende Bedeutung zuweisen oder miissen, wenn sie eine relative Autonomie des Rechts annehmen, sehr lange und verschlungene Erklamngswege von den in letzter Instanz maB- geblichen Faktoren zu Politik und Recht - und vice versa - zu- riicklegen. Die Systemtheorie, fiir deren subtile Qualifikationen der Autopoiesis des Rechtssystems das europâische Recht eine Nagelprobe abgeben kônnte, hat diesen Testfall, noch nicht durchgespielt3. Dies wird sich noch ândern. Einstweilen aber be- wegen sich sozialwissenschaftliche Rechtsanalysen im Rahmen der Integrationstheorien oder iibemehmen Theoriemuster aus der Lehre der Intemationalen Beziehungen.

An die neofunktionalistische Integrationstheorie, die im Zuge der Erfolge der europàischen Binnenmarktprogrammatik der 80er Jahre ohnehin neue Resonanz gefunden hatte, haben kiirzlich Burley und Mattli (1993: 52ff) angekniipft. Ihre Bot- schaft lautet: Die Integrationskraft des Rechts sei nicht diesem selbst, sondem dem Umstand zuzuschreiben, daB der institutio- nelle Rahmen des EWGV die Ausbildung eines Geflechts supra- nationaler und nationaler Akteure begiinstigt habe, deren Intér­ esse an europâisierten Rechtsstrukturen rein utilitaristisch erklâr- bar sei. Die sich auf sich selbst beschrànkende "unpolitische" Be- gründungslogik des Supranationalismus habe die auf das europâi­ sche Recht spezialisierten Gerichte, Praktiker und Akademiker zu einer neofunktionalistischen Interessengruppe par excellence zu- sammengefiigt. "From this perspective, law functions both as a mask and a shield. It hides and protects the promotion of one particular set of objectives against contending objectives in the 3 In der Analyse von Münch (1993): 133ff hat die normative Integration

der Gesellschaft einen zentralen Stellenwert. So kann Munch desinte- grative Wirkungen der Europàisierung des Rechts in den Mitglied- staaten und die hieraus resultierenden Folgeprobleme diskutieren (vgl. besonders 157ff); hierauf ist unten n i 1 zuriickzukommen.

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purely political sphere" (72). Diese Erklarung fiihrt zu strategi- schen Konsequenzen: Der Juristenverbund werde (solle?) seine Kanones hochhalten, um semen EinfluB zu bewahren und auszu- bauen.

Es scheint verfuhrerisch, demgegeniiber einfach auf ein Faktum wie das Urteil des BVerfG zu verweisen. Wichtiger und konstruktiver diirfte es indessen sein, dem Erklarungsdilemma des Neo-Funktionalismus nachzugehen. Dieses Dilemma resul- tiert offenbar daraus, daB ein letztlich utilitaristischer Erklarungs- ansatz die Transformation von Interessenkonfigurationen in in- stitutionelle und normative Inhalte nicht zureichend erklaren kann - und so den normativen Eigensinn rechtlich juristischer Vorstellungswelten verfehlt. Dieser Einwand soli nicht etwa be- sagen, daB Sozialwissenschaftler inner-rechtliche Begriindungs- diskurse zu ubernehmen hatten, wohl aber, daB ihre Erklarungen den ProzeB der Generierung von Institutionen und Regeln so konzeptualisieren miiBten, daB darin normative Diskurse ihren Stellenwert behalten. 3

(3) Rationalitatskriterien: Entsprechende Theorieangebote gibt es. Sie reichen von der institutionellen Okonomie und den public choice-Schulen (Vaubel/Willett 1991; Petersmann 1991) iiber die Regime-Forschung und Spieltheorie (Kohler-Koch 1989: 17ff; Keck 1991: 635ff) bis hin zu der Aggregation von Bedingungen und Perspektiven der Integration in politikwissenschaftlich- staatstheoretischen Modellen (Schmitter 1992: 398ff) und in "Leitbildem" der Europapolitik (Schneider 1986). Ziirn (1992: 26ff) hat im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Stand der theoretischen Diskussion in den Internationalen Beziehungen einen Gesichtspunkt herausgearbeitet, der fiir die interdisziplinare AnschluBfahigkeit von Rechts- und Sozialwissenschaften wichtig ist: Wenn es im Rahmen einer erklarenden Theorie notwendig ist, von "realen" Handlungsbedingungen und "wirklichen" Motiven

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der Akteure zu abstrahieren, so muB die Theorie gleichwohl systematische Reduktionismen vermeiden. Auf Seiten der Rechtswissenschaft laBt sich jedenfalls eine Umsetzung von innertheoretisch durchaus einsichtigen Rekonstruktionen sozialen Handelns in politisch-strategische Empfehlungen leicht als sozi- alwissenschaftlicher Imperialismus zuriickweisen.

Um diesen Vorbehalt am Beispiel einer den rational choice- Ansatz mit der Spieltheorie kombinierenden Erklarung des insti- tutionellen Systems der EG durch Geoffrey Garrett (1992: 540ff) zu erlautem: Garrett fiihrt den Erfolg der Jurisprudenz des EuGH darauf zuriick, daB diese den rational rekonstruierbaren Interes- senlagen der wichtigsten Akteure entsprochen habe. Das neo- funktionalistische Monitum lautet, diese Erklarung konne die Widerstande gerade der Regiemngen gegen die Konstitutionali- siemng der EG nicht erklaren (Burley/Mattli 1993: 51). Mir er- scheint der Ansatz von Garrett die Ausbildung der europaischen Institutionen und die Delegation von Entscheidungsbefugnissen an den EuGH schon deshalb angemessener zu erfassen, weil er die Unbestimmtheiten von Interessenlagen und die Unausweich- lichkeit von normativen Festlegungen beriicksichtigt (vgl. auch Garrett/Weingast 1991). Hinzuzufiige ist allerdings, daB der nor­ mative Sinn des Projekts einer Konstitutionalisierung Europas iiber die Interessenkonfigurationen und Ideen zur Verwirklichung des Binnenmarktes hinausweist. Fiir die Staaten bedeutet das EG- "Regime" ganz allgemein, daB sie ihre Souveranitatsrechte ein- schranken, die Wahmehmung ihrer Interessen an allgemeinver- bindliche und unmittelbar geltende Rechtsprinzipien binden und sich einer Uberpriifung der Kompatibilitat ihres Handelns mit je- nen Prinzipien durch eine unabhangige Instanz aussetzen. In ihrem Kemgehalt bedeutet die Supranationalitat des EG-Rechts nichts Geringeres als die Verfestigung normativ einsichtiger Prinzipien mit Hilfe positiv geltenden Rechts. GewiB verandern sich die realen Bedingungen, Handlungszwange und Interessen,

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und die normativen Implikationen jenes Projekts müssen immer spezifiziert werden. "Faktizitàt und Geltung" sollten im suprana- tionalen Recht aber derart aufeinander bezogen bleiben, daB Ver- fahrensregeln und gemeinschaftsrechtliche Prinzipien den ProzeB der Artikulation und Durchsetzung von Interessen strukturieren kònnen.

Eine definitive Antwort auf die Frage, ob die Rechtsgemein- schaft gegeniiber dem Staatenverbund "im Recht" ist, erlauben all diese Überlegungen gewiB nicht. Sie zeigen eher, warum die Auseinandersetzung um die Verfassung Europas offen gehalten werden muB. Die Gemeinschaft kann und darf ihr Verhàltnis zu den Mitgliestaaten nicht hierarchisch definieren und die eigenen Suprematie-Anspriiche nach Belieben ausdehnen. Umgekehrt diirfen die Mitgliedstaaten nicht ihr eigenes Recht zum MaBstab der Geltung des die Gemeinschaft konstituierenden Rechts machen. Juristen, die dieses Dilemma sehen, suchen deshalb nach einer "sachgerechten Abstimmung und Zuordnung" beider Rechtsmaterien (Schwarze 1993: 191), die durch konstitutionelle Prinzipien einer den Verfassungsstaat und seine supranationalen Bindungen umfassenden Gesamtordnung strukturiert werden soli (Thiirer 1991: 122ff). Sozialwissenschaftler und auch Juristen wissen, daB der Verzicht auf hierarische Strukturen keineswegs die Generierung von normativen Institutionen ausschlieBt (Ziirn 1992: 153 ff; Schuppert 1994: 66 ff). Solche abstrakten Hoffnun- gen bediirfen nun allerdings der Konkretisierung. Eine ihrer Be- wahrungsproben bildet die Wirtschaftsintegration.

III. Europâisierung des Wirtschaftsrechts

Die EWGV von 1957 hat den europaischen EinigungsprozeB über die Óffnung der Grenzen in Gang gebracht. Dabei gilt das

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Projekt der Wirtschaftsintegration und der Verwirklichung eines "Gemeinsamen Marktes" gewiB als eine politische Programma- tik. Aber deren Rückwirkungen auf die innerstaatlichen Verhâlt- nisse und die politische Souverànitàt der europàischen National- staaten blieben unbestimmt. Mittlerweile sind die ambivalenten Folgen der Erosion der wirtschaftspolitischen Handlungsfâhigkeit des Nationalstaats in das allgemeine politische BewuBtsein ge- treten und bilden ein Schwerpunktthema politikwissenschaftli- cher Analysen und der rechtswissenschaftlichen Diskussion um die Verfassung Europas. Dies allein nôtigt dazu, in einem Beitrag zur Rolle des Rechts im IntegrationsprozeB der Bedeutung gerade des Wirtschaftsrechts nachzusehen. Wiederum sind dabei nun allerdings thematische Einschrânkungen und Vorstrukturierungen unvermeidlich. Der im folgenden gewâhlte Einstieg über die Aussagen des BVerfG zum verfassungsrechtlichen Stellenwert der Wirtschaftsintegration soll die kritischen Anmerkungen zu diesem Urteil vervollstàndigen (1.). Er soll aber auch auf eine alternative Problemstellung vorbereiten, die einen gemeinsamen Bezugspunkt für politikwissenschaftliche Analysen der regulati- ven Politik in Europas und für rechtswissenschaftliche Analysen der Europâisierung des Wirtschaftsrechts bilden kônnte (unter 2.-3.).

1. Europaische W irtschaft und nationaler Staat

In der verfassungsrechtlichen Kritik des Vertrages von Maastricht ist immer wieder geltend gemacht worden, in der Eu- ropaischen Union werde die Bundesrepublik ihre Qualitat als Staat verlieren und zum Gliedstaat einer europaischen Foderation herabgesetzt. Diese These stiitzte sich nicht bloB auf die Preis- gabe der nationalen Wahrungssouveranitat, sondem ebenso auf die Inanspruchnahme immer neuer Regelungskompetenzen durch

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