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Umgang mit Verstorbenen
Ulrike Schmid
18.1 Eine Möglichkeit des Abschiednehmens –270 18.2 Was ist wichtig? –271
18.3 Praktische Versorgung –271 18.4 Überraschungen –271 18.5 Doch lebendige Leichen? –272 Literatur –272
270 Kapitel 18 · Umgang mit Verstorbenen
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Ulrike Schmid
In Kürze
Die Versorgung von Verstorbenen ist für manche Pfl egenden eine wenig beliebte Aufgabe. Für andere ist sie ein wichtiger Teil ihrer Pfl ege eines Menschen bis zu seinem Tode und eine Möglichkeit, um Abschied zu nehmen. Unheimliche »Geschichten« über Erfahrungen mit Verstorbe- nen schüren Unsicherheit und Angst. Nicht selten gibt es eine Art Initi- ationsritus in den Pfl egeberuf, nämlich, in der Regel nachts, eine Leiche transportieren oder transferieren zu müssen, begleitet von Schauermär- chen über Arme oder Beine eines Verstorbenen, die sich plötzlich wieder bewegten und unter dem Laken hervorkamen.
Es gibt Angehörige, die sehr gerne beim Wa- schen und Ankleiden ihres verstorbenen Angehö- rigen assistieren möchten. Meist haben Angehörige aber nicht den Mut, zu fragen, ob dies möglich ist.
> Beispiel
Eine 52-jährige Frau starb an metastasierendem Brustkrebs. Ihre wichtigste Angehörige war ihre Schwester, die sie auch im Sterben begleitete.
Nachdem wir der Schwester Zeit gelassen hat- ten, sich in aller Ruhe von ihrer Schwester zu ver- abschieden und, alle die wir im Hospiz greifbar waren, das Vaterunser an ihrem Bett gesprochen hatten (dies war stimmig mit der Verstorbenen und ihrer Schwester), war die Angehörige am Gehen. Ihr zögerliches sich Verabschieden löste bei mir intuitiv die Frage aus: »Ich werde Ihre Schwester jetzt waschen und frisch anziehen.
Möchten Sie denn gerne mit dabei sein?«
Erstaunt, dass dies überhaupt möglich sei, nahm sie mein Angebot dankbar an. Während des Waschens redete ich mit der Toten, wie bei einer normalen Körperpfl ege. Die Schwester bekam erst große Augen, die sich sogleich in Erleichte- rung verwandelten – es war spürbar, wie eine Last nach der anderen von ihr abfi el. Sie redete nun auch mit ihrer toten Schwester und begann mir dann von ihrer Beziehung zu erzählen. Fast gelöst ging die Angehörige nach Hause, für sie war es ein unendlich wichtiger letzter Dienst, den sie ihrer Schwester tun konnte.
Der individuelle Umgang in dieser Situation ist durch die Biografie der Angehörigen geprägt (Le- bensweise, Werte, Glaubenssysteme) und erfordert von uns Achtung und Sensibilität.
Um Tote und ihr angebliches Eigenleben ranken sich schon von alters her Gerüchte und merkwürdi- ge Vorstellungen, z. B. (Handwörterbuch des deut- schen Aberglaubens, 1932; Thomas 1994):
4 Zauberkraft der Leiche: Die Leiche wird als unrein empfunden, sie besitzt Zauberkraft, die bald als gefährlich, bald als heilkräftig benutzt wird. Diese gute oder böse Zauber- kraft kann sich auf alles, was in der Nähe ist, übertragen, auf das Haus, die Angehörigen und auf Dinge.
4 Berühren der Leiche: Sieht man eine Leiche an, so soll man sie an Arm, Hand oder Zehe fassen oder mit der flachen Hand über die Wange streichen, dann erscheint einem der Verstor- bene nicht. Wer Furcht verlieren will, muss nach Dunkelwerden zu einer Leiche gehen, das Gesicht der selben mit der Hand überstreichen, seine Hand in die der Leiche legen und deren Füße mit seinen beiden Händen eine Minute lang halten. Um die Furcht vor der Leiche zu verlieren, soll man sie auch an der Nase fassen.
18.1 Eine Möglichkeit des Abschiednehmens
Die Versorgung eines Verstorbenen ist eine Mög- lichkeit, um Abschied von einem Patienten oder Heimbewohner zu nehmen, besonders, wenn sich während der Pflege eine Beziehung zu diesem Men- schen entwickeln konnte. Oft ist es für Pflegefach- kräfte die einzige Möglichkeit, Abschied nehmen zu können, da der Alltag ja parallel zu einem Todesfall immer weitergeht.
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18.4 · Überraschungen
18.2 Was ist wichtig?
4 Ruhe bewahren. Puls und RR zu messen ist unwichtig.
4 Atempausen sollten eingeplant werden (1 min kann sehr lang sein).
4 Sterbezeit sollte notiert werden.
4 Sind Angehörige anwesend, werden sie sich an der anwesenden Professionellen orientieren, unabhängig, wie erfahren oder unerfahren sich diese fühlt. Die eigene Ruhe macht auch Ange- hörige ruhiger.
4 Das Sterben ist für viele Angehörige eine Krisensituation ‒ auch wenn der Tod vorher- sagbar war. Jetzt ist es ganz wichtig, auf ihre Fragen und Bedürfnisse einzugehen und ihnen dadurch Sicherheit zu vermitteln.
4 Angehörigen vermitteln, dass sie sich in Ruhe verabschieden dürfen. Eventuell erklären, was wann stattfinden wird/muss, damit sie sich orientieren können.
4 Arzt muss die »sicheren Todeszeichen« feststel- len (7 Kap. 19).
4 Muss der Verstorbene versorgt werden, können Angehörige draußen warten und später weiter Abschied nehmen oder evtl. assistieren.
4 Information der Mitpatienten oder -bewohner, evtl. aus dem gemeinsamen Zimmer ausquar- tieren, so lange der Verstorbene auf Station ist.
4 Soll der Verstorbene nach Haue zur Aufbah- rung überführt werden, ist dies ab 4 h nach To- deseintritt möglich. Die Angehörigen müssen den Bestatter für den Transport autorisieren (per Fax möglich).
4 Häuslicher Bereich: Angehörige informieren, dass weder die Benachrichtigung des Arztes noch der Bestatter eilig ist, auf die Möglichkeit des Aufbahrens zu Hause hinweisen.
18.3 Praktische Versorgung
! Auch nach dem Tod hat der Mensch ein Recht auf die Wahrung seiner Intimsphäre.
4 Zur Versorgung eines Toten sind die gleichen Schutzmaßnahmen vorzunehmen wie bei einer normalen Körperpflege, also maximal Handschuhe. Ein Verstorbener ist nach Eintritt des Todes so »infektiös« wie zu Lebzeiten. Bei
Menschen mit Infektionskrankheiten gilt das Gleiche. Nur weil es »halt so üblich ist« muss kein Mundschutz getragen werden.
4 Für manche Angehörige ist es wichtig, den Ver- storbenen so sehen zu können, wie er gestorben ist, mit allen Schläuchen und Lagerungshilfs- mitteln. Geräte sollten dabei aber abgestellt sein und keine Geräusche mehr verursachen (dies ist makaber!), aus einer Medikamentenpumpe können notfalls die Batterien entfernt werden.
4 Augen zu schließen ist etwas Intimes ‒ möchten Angehörige dies tun?
4 Angehörige je nach Wunsch beim Waschen und Kleiden einbeziehen.
4 Verstorbenen auf den Rücken legen (nicht ganz flach), alle Hilfsmittel, Geräte und Schläuche entfernen.
4 Körperpflege (7 Kap. 13), hier geht es nicht primär um Hygiene, sondern um eine symboli- schen Akt, deshalb gibt es hier unterschiedliche Vorgehensweisen.
4 Mit Inkontinenzmaterial Blasen- und Darm- entleerung vorbeugen.
4 Frische Kleidung (Hemd oder bereitgelegte), je nach Wunsch, anziehen.
4 Haare kämmen, Rasur, falls nötig, durchführen.
4 Wenn möglich, Zahnprothese einsetzen.
4 Das Kinn mit Hilfe eines längs aufgerollten Handtuches hochbinden, damit der Mund geschlossen bleibt. Das Handtuch verschwindet unter Kopfkissen und Laken. Achtung: die Lei- chenstarre setzt im Unterkiefermuskel zuerst ein (1,5‒2 h).
4 Oberkörper leicht erhöht lagern (so wird die Position im Sarg sein ‒ Leichenstarre!).
4 Hände auf der Brust übereinander legen, nur auf Wunsch falten.
4 Ist mit den Angehörigen geklärt, welcher Schmuck belassen werden soll?
4 Den Verstorbenen mit sauberem Laken bis Brusthöhe abdecken.
4 Kerze, falls möglich, Blumenschmuck evtl. in die Hände legen.
4 Der Raum sollte aufgeräumt werden.
18.4 Überraschungen
4 Beim Umlagern kann Luft aus der Lunge gepresst oder durch Dehnung hineingesaugt
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werden ‒ der Verstorbene kann dadurch noch einmal seufzen.
4 Ist der Oberkörper beim Drehen nicht genü- gend erhöht, kann Mageninhalt oder Lungense- kret auslaufen.
4 Durch das Erschlaffen der Schließmuskulatur können Blasen- und Darminhalt spontan ent- leert werden.
4 Werden die nach dem Entfernen von Kathetern und Sonden entstehenden Öffnungen nicht abgeklebt, kann Sekret austreten.
18.5 Doch lebendige Leichen?
Nachdem der Tod eingetreten ist, kühlt der Leich- nam ab: an der Körperoberfläche innerhalb von 6‒12 h, an Händen und Gesicht innerhalb von 0,5 h.
Die inneren Organe kühlen langsam ab, sie können allerdings nach 24 h noch warm sein.
Die Gesichtszüge des Leichnams können sich innerhalb der ersten 24 h verändern: Ist ein Mensch mit einem Lächeln im Gesicht gestorben, kann das Lächeln wieder verschwinden, ist das Gesicht bei Eintritt des Todes ernst, kann am Folgetag ein Lä- cheln entstanden sein. Diese Veränderungen kann man mit den Umbauprozessen in der Gesichtsmus- kulatur und der Wasserverdunstung aus der Haut erklären. Für Angehörige ist es besonders schwer, wenn das anfänglich lächelnde Gesicht ernst gewor- den ist, sie suchen unwillkürlich eine Bedeutung in einer veränderten Befindlichkeit des Verstorbenen.
Manchmal scheint die Veränderung so frappierend klar zu sagen: Hier liegt die leere Hülle, die Seele hat diese Hülle verlassen. Die Hülle sieht verlassen aus.
Vertrocknungserscheinungen zeigen sich bald an Augen und Schleimhäuten, die Haut wirkt ge- schrumpft. Manchmal entsteht der Eindruck, die Nasenspitze hängt Richtung Mund »herunter«.
Manchmal öffnen sich die Augen wieder.
Haare und Nägel scheinen auch noch post mor- tem zu wachsen. Allerdings ist hierfür nur der De- hydrierungsprozess verantwortlich, der die Haut auch hier schrumpfen lässt und z. B. Barthaare und Fingernägel hervortreten und länger erscheinen lässt.
Der Zersetzungs- und Gärungsprozess, der je nach Temperatur nach 3 oder mehr Tagen verstärkt einsetzt, verändert den Leichnam weiter, auch nach außen sichtbar. Mit den heutigen Möglichkeiten der
Kühlung oder Thanatopraxie (7 Kap. 19) ist es un- wahrscheinlich geworden, diese Prozesse an einem Leichnam beobachten zu können.
Literatur
Kern M (2000) Palliativpfl ege. Richtlinien und Standards. Pal- lia Med, Bonn
Schäffl er A et al. (2000) Pfl ege Heute. Urban & Fischer, Mün- chen
Thomas C (1994) Berührungsängste? Vom Umgang mit der Leiche. vgs, Köln