Leitlinie zum Umfang und zur Begrenzung der ärztlichen Behandlungspflicht
in der Chirurgie
R. Pichlmayr †
Diese Leitlinie wurde von einer Kommission der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie un- ter der Leitung von R. Pichlmayr und E. Nagel erarbeitet, vorgelegt und diskutiert auf dem 113. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie vom 9.–13.April 1996 in Berlin und verabschiedet bei der Sitzung des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie am 13./14. September 1996 in Altötting.
Einleitung
Die Behandlungsmöglichkeiten von Erkrankungen erfahren dank verschiedenartiger Fortschritte in Diagnostik, in pathophysiologischer Aufklärung und in Therapie von Ge- sundheitsstörungen fortlaufend Verbesserungen. In der Chirurgie tragen Fortschritte bei- spielsweise zur Anwendung neuer, weniger belastender Verfahren, zu größerer Sicherheit operativer Maßnahmen, zu höheren Heilungsquoten bei Malignomen, zur erfolgreichen Durchführung von Operationen im höheren Lebensalter und zu geringeren Schmerzen nach Operationen bei. Insgesamt ermöglichen Fortschritte der Chirurgie eine höhere Ef- fizienz und eine größere Anwendungsbreite. Fortschritte können andererseits auch zur Vermeidbarkeit operativer Maßnahmen führen. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie begrüßt diese Fortschritte und bemüht sich ihrerseits aktiv weiter um solche.
Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie verkennt aber andererseits nicht, dass mit
Fortschritten stets auch die Frage der Anwendungsgrenzen verbunden ist. Solche Grenzen
können etwa bei Summation mehrerer eingreifender Verfahren auftreten oder bei Einsatz
von Entwicklungen, die bei bestimmter Indikation wertvoll, in dafür ungeeigneten Situa-
tionen, etwa bei Multimorbidität, nicht hilfreich sind. Die Erfolgschance einer Behand-
lung kann dann zu gering und im Verhältnis dazu die Belastung des Patienten zu groß
sein. So mag etwa auch eine kurze Verlängerung der Überlebensspanne bei einem Über-
maß an Belastungen und bei deutlich eingeschränkter Lebensqualität nicht dem Wohle
oder Wunsche des Patienten entsprechen. Der Wert einer Behandlungsmöglichkeit kann
im Einzelfall fragwürdig sein oder dies werden. Stets, so besonders bei der Anwendung
eingreifender und individuell belastender Verfahren ist der Arzt verpflichtet, im Sinne des
jeweiligen Patienten Abwägungen vorzunehmen. Stets muss der Arzt dafür Sorge tragen,
dass die Behandlung dem Willen des Patienten, dem bekannten oder mutmaßlichen, ent-
spricht. Hierbei kann es sich sowohl um Therapieanwendung und Therapieintensivierung
als auch um Formen der Therapiebegrenzung handeln. Therapiebegrenzung meint, dass
prinzipiell existierende Behandlungsmöglichkeiten nicht oder nicht in vollem Umfang
zum Einsatz kommen oder auch eingeschränkt bzw beendet werden. Therapiebegrenzung
bedeutet jedoch keinesfalls einen Abbruch jeder Behandlung; vielmehr ist der Arzt stets
verpflichtet, ärztlichen Beistand und ärztliche Hilfe in jeweils geeigneter Form zu geben.
Fragen der Therapiebegrenzung sind also gerade im Hinblick auf laufende Entwick- lungen erweiterter Therapiemöglichkeiten nicht nur berechtigt, sondern sogar erforder- lich und im Sinne der Patienten.
Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie legt besonderen Wert darauf, festzustellen, dass finanzielle oder ökonomische Gesichtspunkte nicht die Behandlung und die Behand- lungsintensität, also auch nicht Therapiebegrenzung beim einzelnen Patienten beeinflus- sen dürfen; stets müssen dabei die ärztliche Indikation und der Wille des Patienten die führenden Kriterien sein. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie verkennt aber auch nicht, dass generell die Fragen der Therapieausweitung und der Therapiebegrenzung auch ökonomische Qualitäten haben. Sofern sich aus finanziell-ökonomischen Gründen Änderungen in der ärztlichen Indikationsstellung, vor allem generelle Einschnitte, erge- ben sollten, könnte dies nicht Aufgabe der Ärzte sein, sondern müsste von der Gesellschaft bzw. vom Staat entschieden werden. Dabei dürfte nach ärztlicher Auffassung „Produkti- vität“ des zu behandelnden Patienten bzw. des zu erhaltenden Lebens kein Kriterium sein.
Es erscheint bei den dem Gesundheitssystem auferlegten finanziellen Begrenzungen wichtig, diese Abgrenzung der Zuständigkeiten deutlich zu machen und zu respektieren.
Der behandelnde Arzt kann ggf. finanzielle Gesichtspunkte mit berücksichtigen, wenn er eine bestimmte Therapieform oder Therapieänderung, die Kosten erspart, für den Pati- enten für angemessen hält.
Überlegungen und Entscheidungen über Therapiebegrenzung sind solche in Grenzbe- reichen ärztlichen Tuns. Allgemeine Stellungnahmen (Richtlinien, Leitlinien, Kodizes) können bei der Abwägung in Einzelsituationen helfen und allgemein akzeptierte Grenzen präzisieren. Solche Stellungnahmen geben keine absolute Sicherheit im Handeln und können dem Arzt die Entscheidung, auch eine Entscheidung unter gewisser Unsicherheit, nicht abnehmen.
Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie möchte mit dieser neuen Stellungnahme in Form einer Leitlinie sowohl Hilfestellung bei individuellen Entscheidungen bieten als auch ihre Grundpositionen darlegen
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Zusammengefasst sind die Gründe für die Erstellung dieser Leitlinie speziell für die Chirurgie folgende:
1. Vor allem in der Chirurgie sind Behandlungsfortschritte (z. B. intensivmedizinische Maßnahmen, Organtransplantationen, Ausweitung von Eingriffen) wirksam gewor- den, die Entscheidungen in Grenzbereichen gerade von Chirurgen erfordern können.
2. Entsprechend häufig wird auch in öffentlicher Diskussion die Chirurgie bezüglich ih- rer Haltung zu Grenzen einer Behandlung angesprochen. Dabei werden auch Fragen der verschiedenen Formen einer Sterbehilfe aufgeworfen, häufig aber nicht ausrei- chend scharf definiert und differenziert.
3. Zusätzlich zu der in bisherigen Stellungnahmen ausschließlich betrachteten Finalpha- se des Lebens sollte versucht werden, auch frühere Perioden in die Überlegungen zu Umfang und Grenzen ärztlicher, speziell auch chirurgischer Behandlung mit einzube- ziehen. Dies etwa im Hinblick auf die Frage der Anwendung von eingreifenden opera-
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