Seit fast 20 Jahren wird kein Aspekt des Blasen- karzinoms so kontrovers und so emotional disku- tiert wie die Tumorentität pT1G3. Die Kontroverse speist sich aus zahlreichen Quellen: Vordergründig betrachtet, liegt pT1G3 genau auf der Trennlinie zwischen den oberflächlichen und dem invasiven Blasenkarzinom. Bei noch genauerer Betrachtung erkennt man aber, dass der Tumor pT1G3 je nach Sichtweise zu jeder dieser beiden Tumorentitäten gehört, die sich eigentlich gegenseitig auszuschlie- ßen scheinen: Zahlreiche Urologen, die sich als
»Spezialisten« für die Behandlung des oberfläch- lichen Blasentumors empfinden, definieren ober- flächlichen Blasentumor als jeden Blasentumor, der nicht oder noch nicht muskelinfiltrierend wächst.
Entsprechend dieser Definition gehört pT1G3 eindeutig zu den oberflächlichen Tumoren. Dem entspricht auch die urologische Alltagserfahrung, dass es operationstechnisch häufig keinen Unter- schied macht, ob man einen eindeutig nichtinvasi- ven Tumor oder einen pT1G3-Tumor endoskopisch (transurethral) abträgt. Die technisch problemlose transurethrale Angehbarkeit dieser Tumoren war also fraglos eine der historischen Wurzeln, die dazu geführt haben, dass das Tumorstadium pT1G3 bei den »oberflächlichen« Blasentumoren subsumiert wurde.
Betrachtet man hingegen das Aggressivitätspo- tential des pT1G3-Tumors und der »echten« ober- flächlichen Tumoren, so erkennt man zwanglos, dass hier grundlegend unterschiedliche Tumoren
vorliegen. Die meisten der »echten« oberflächli- chen Tumoren würden auch ohne jede Behandlung häufig über Jahre hinweg in ihrem oberflächlichen Stadium verharren: Das bedeutet, dass sie, wenn man sie unbehandelt ließe, langsam größer wür- den, dabei im Regelfall sicherlich zunehmend mehr subjektive Symptome verursachten, beispielsweise rezidivierende Blutungen, aber eben nicht invasiv wachsen und auch nicht metastasieren. Der beun- ruhigte Patient wird im Regelfall natürlich dafür Sorge tragen, dass der Tumor zur Verhinderung weiterer Beschwerden abgetragen wird, womit die Möglichkeit nicht mehr besteht, den natürlichen, vom Urologen unbeeinflussten Krankheitsverlauf zu studieren. Gelegentlich gibt es aber doch den Einzelfall, wo ein Patient sich aus irgendwelchen Gründen über Jahre hinweg bei Vorliegen solcher Tumoren der Behandlung entzieht. Dann entdeckt man gelegentlich, dass oberflächliche Blasentumo- ren ein Gewicht bis zu einem Kilogramm erreichen können, aber trotzdem weiterhin oberflächliche Bla- sentumoren geblieben sind.
Dem gegenüber ist der natürliche Krankheits- verlauf des Tumors pT1G3 ein völlig anderer: Tu- morbiologisch betrachtet, handelt es sich bei dieser Tumorentität eben nicht um einen oberflächlichen Tumor im Sinne des oben beschriebenen Krank- heitsverlaufs, sondern um das Anfangsstadium des invasiven Tumors: Unbehandelt wird der pT1G3- Tumor die Blasenwand infiltrieren, er besitzt die Fähigkeit zur frühzeitigen Metastasierung, und er
Das kontrovers diskutierte Tumorstadium pT1G3
M. Stöckle, J. Lehmann.
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kann im Extremfall die Lebenserwartung des betrof- fenen Tumorträgers auf 1–2 Jahre limitieren.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Tumorbio- logie ist es im Grunde nicht abwegig, das Tumorsta- dium pT1G3 a priori nicht mehr den oberflächlichen Blasentumoren zuzurechnen, sondern es von vorn- herein wie einen invasiven Tumor zu behandeln, also durch eine Radikaloperation.
Einer der ersten Vorstöße in Richtung aggres- sivere Behandlung des pT1G3-Tumors war die vom Autor dieses Kapitels verfasste Veröffentlichung
»Radical cystectomy – often too late?« im Jahr 1987 (Stöckle et al. 1987). Bei 246 Patienten, die sich einer Zystektomie unterzogen hatten, war die Vor- geschichte analysiert worden: Patienten, die sich der Radikaloperation nach dem ersten Nachweis eines infiltrierenden Blasentumors (im Extremfall also eines pT1G3-Tumors) unterzogen hatten, wurden als »früh« zystektomiert eingestuft. Alle Patienten, bei denen der Zystektomie zunächst der Versuch einer endoskopischen (transurethralen) Heilung eines infiltrierenden (im Regelfall pT1G3) Tumors vorausgegangen war, bevor man sich aufgrund eines Tumorrezidivs zur Radikaloperation entschlossen hatte, wurden als Patienten mit später Zystektomie zusammengefasst. Die Überlebenswahrscheinlich- keit der früh zystektomierten Patienten lag um fast 30% günstiger als die der Patienten nach später Zystektomie. Dieser 30%-Unterschied war selbst in der Subgruppe der Patienten nachweisbar, bei der zu keinem Zeitpunkt ein höheres Tumorstadium als pT1 nachgewiesen war: Hier lag die Überle- benswahrscheinlichkeit der früh zystektomierten Patienten um 90%, die der übrigen Patienten, die sich erst nach einem pT1-Rezidiv eines ursprüng- lichen transurethral behandelten pT1-Tumors der Zystektomie unterzogen hatten, hingegen um 30%
ungünstiger. Schlussfolgerung der Arbeit war dem- entsprechend, dass der Versuch einer endoskopi- schen Therapie von pT1G3-Tumoren gegenüber der sofortigen Zystektomie mit einer schlechteren Prognose einhergeht und dass die Patienten darü- ber aufgeklärt werden sollten, dass die Zystektomie zumindest dem Patienten, für den die maximale Heilungswahrscheinlichkeit ausschlaggebendes Kri- terium der Entscheidungsfindung ist, als Therapie der ersten Wahl empfohlen werden sollte.
Die Veröffentlichung wurde vor allem zum da- maligen Zeitpunkt von vielen Lesern als provozie- rend empfunden: Zum einen war der Stellenwert der Zystektomie zum damaligen Zeitpunkt in vielen Kli- niken keineswegs so unumstritten, wie wir es heute empfinden. In vielen Kliniken lag die Operations-
sterblichkeit noch im zweistelligen Bereich, Harnab- leitungstechniken, die heute verbreiteter Standard sind, waren vielerorts überhaupt noch nicht etabliert oder aufgrund mangelnder Erfahrung mit erhebli- chen Komplikationsraten behaftet. Harnableitungs- techniken, wie beispielsweise die Ureterokutaneo- stomie, die heute als weitestgehend obsolet gelten, waren daher vielerorts noch Standardkonzept. Dies macht verständlich, warum es in den Augen zahlrei- cher Leser befremdlich erschien, einen Eingriff, der vielerorts prinzipiell als gefährlich und fragwürdig angesehen wurde, plötzlich als Standardbehandlung für ein »oberflächliches« Tumorstadium zu empfeh- len, das ja auch mit einer simplen endoskopischen Abtragung selbst dann keine so schlechte Prognose hatte, wenn man die oben erwähnten Überlebens- wahrscheinlichkeiten von etwa 60% zu akzeptieren bereit war. Da sich auf dem Sektor Operations- sterblichkeit und Lebensqualität mit den modernen Harnableitungstechniken Wesentliches geändert hat, wird der Stellenwert der Zystektomie von der heutigen Urologengeneration anders empfunden, als dies noch 1987 der Fall war. Die Arbeit »Radical cystectomy – often too late?« wird vom Urologen des Jahres 2004 sicherlich mit etwas anderen Augen gelesen als im Erscheinungsjahr 1987.
Diese Arbeit hat zugegebenermaßen aber auch durch methodische Unzulänglichkeiten provoziert, die sich bei solchen retrospektiven Analysen nie ganz vermeiden lassen. So ist nicht zu bestreiten, dass die früh zystektomierten Patienten nur bedingt mit den spät zystektomierten verglichen werden können, weil natürlich nur die Patienten spät zys- tektomiert wurden, bei denen die transurethrale Re- sektion versagt hat, während erfolgreich behandelte Patienten zwangsläufig unberücksichtigt blieben, da sie ja nie zur Zystektomie zugewiesen wurden. Bei methodisch korrektem Vorgehen hätte man diese Patienten aber eigentlich in der Gruppe der »spät«
zystektomierten Patienten mitanalysieren müssen.
Anders formuliert: Würde die transurethrale Re- sektion eines pT1G3-Tumors 90% aller betroffenen Patienten definitiv und für alle Zeiten heilen, wür- de wahrscheinlich jeder eine Verschlechterung der Heilungswahrscheinlichkeit bei den verbleibenden 10%, die dann einer verspäteten Zystektomie be- dürften, als unvermeidlich in Kauf nehmen. Läge die Rezidivrate und damit die Wahrscheinlichkeit einer verspäteten Zystektomie nach transurethraler Resektion eines pT1G3-Tumors hingegen eher bei 100%, dann wären 30% Prognoseverschlechterung bei verspäteter Zystektomie natürlich ein gravieren- des Ergebnis.
Dieses Problemgebiet (was leistet die transure- thrale Resektion beim Vorliegen eines Tumorstadi- ums pT1G3 und wie hoch ist die damit verbundene Heilungswahrscheinlichkeit?) ließ sich andererseits zum damaligen Zeitpunkt natürlich anhand der ver- fügbaren Literatur recht gut ausleuchten, denn die transurethrale Resektion war ja weitestgehend un- bestrittene Standardbehandlung, die Ergebnisse so- mit problemlos nachlesbar. Und in der Tat lagen die Überlebenswahrscheinlichkeiten nach transurethra- ler Resektion tendenziell sogar eher etwas schlechter als oben nach verspäteter Zystektomie beschrieben:
Die verfügbare Literatur zeigte in recht guter Über- einstimmung Fünfjahresüberlebenswahrscheinlich- keiten von etwa 50%, womit sich ein Plädoyer für die frühzeitige Zystektomie eben doch gut untermauern ließ (⊡ Tabelle 6.1). Darüber hinaus sind die bis zum damaligen Zeitpunkt publizierten Arbeiten zur Leis- tungsfähigkeit der transurethralen Resektion mögli- cherweise repräsentativer als die später verfassten Veröffentlichungen: Da die transurethrale Resekti- on bis 1987 eben unbestrittener Standard war, hatte wohl keiner der Autoren die Notwendigkeit oder das Bedürfnis empfunden, hier bessere Ergebnis- se zeigen zu »müssen«. Nach 1987 hatte sich die Welt diesbezüglich aber verändert: Wer weiterhin schlechte Überlebenswahrscheinlichkeiten mit der transurethralen Resektion veröffentlichte, sah sich unweigerlich mit der Frage »warum nicht frühzeiti- gere Zystektomie?« konfrontiert. Anders formuliert:
Wer am Konzept der organerhaltenden Therapie festhalten wollte, musste bessere Ergebnisse liefern.
Daraus resultiert sicherlich ein gewisser Publikati- onsbias, der bei der Interpretation neuerer Arbeiten berücksichtigt werden muss.
Bei den Überlebenswahrscheinlichkeiten nach transurethraler Resektion musste zusätzlich be- rücksichtigt werden, dass keineswegs alle Patien- ten, die durch eine transurethrale Resektion von pT1G3-Blasentumoren geheilt werden konnten, sich langfristig einer funktionstüchtigen Blase erfreuen konnten. Fast die Hälfte der überlebenden Patienten musste sich schlussendlich doch einer verzögerten Zystektomie unterziehen. Bezogen auf die im Jahre 1987 vorliegenden Zahlen konnte das therapeuti- sche Dilemma also in etwa so zusammengefasst werden: Die sofortige Zystektomie heilt ca. 90% der betroffenen Patienten, nach alleiniger endoskopi- scher Tumorabtragung (transurethrale Resektion) überlebten ungefähr 50% der Patienten, wovon aber wiederum ungefähr die Hälfte sich einer verzögerten Zystektomie unterziehen musste. Der Preis für die hohe Heilungsrate bei den frühzeitig zystektomier- ten Patienten wiederum war die zu frühe Operation in ungefähr der Hälfte der Fälle (zu früh soll hei- ßen: die gleiche Operation hätte den Patienten auch zu einem späteren Zeitpunkt noch heilen können) und die überflüssige Zystektomie bei ca. 25–30%
der betroffenen Patienten (überflüssig soll heißen:
25–30% der betroffenen Patienten hätten auch mit funktionstüchtiger Blase langfristig überlebt, natür- lich ohne dass man im Einzelfall hätte voraussagen können, welcher Patient schlussendlich zu dieser Subgruppe gehören würde).
Seit 1987 hat es sowohl auf Seiten der Radikalo- peration als auch auf Seiten der organerhaltenden Therapie Fortschritte gegeben, die aber beim pT1G3- Tumor die Entscheidungsfindung nicht vereinfacht, sondern vielleicht sogar komplexer gemacht hat. Be- fürworter der frühzeitigen Radikaloperation können
⊡ Tabelle 6.1. Überlebensraten von Patienten mit T1G3-Karzinomen nach transurethraler Resektion (TUR)
Autor Überlebensrate [%] Überlebensdauer [Jahre]
Summers et al. 1981 52 5
Lutzeyer et al. 1982 57 3
Bandhauer u. Nemeth 1983 39 5
Jakse et al. 1987 50 10
Rübben et al. 1988 40–60 5
Norming et al. 1992 48 5
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auf das gesunkene Operationsrisiko und die erheb- lich verbesserte Lebensqualität durch die modernen Formen der Harnableitung verweisen, auf die in an- deren Kapiteln eingegangen wird. Befürworter der organerhaltenden Therapie verweisen ebenfalls auf bessere Ergebnisse im Vergleich zu den alten Serien, wobei die besseren Überlebenswahrscheinlichkeiten zum einen dem vermehrten Einsatz von BCG als Re- zidivprophylaktikum, zum anderen vielleicht auch den sorgfältigeren Resektionstechniken im Rahmen der endoskopischen Tumorabtragung zugeschrie- ben werden. ⊡ Tabelle 6.2 gibt einen Überblick über Rezidiv- und Tumorprogressionsraten in zeitge- nössischen Serien nach transurethraler Resektion und BCG-Instillationsprophylaxe. Zu BCG ist aller- dings kritisch anzumerken, dass zwar einerseits kein Zweifel an der Effizienz des Wirkstoffs bezüglich der Verminderung des Tumorrezidivrisikos in der Blase bestehen kann, andererseits konnte aber in kei- ner Einzelstudie mit allerletzter Sicherheit bewiesen werden, dass BCG auch die Tumorprogression, also das Fortschreiten eines bereits vorhandenen Tumors zu höheren Tumorstadien und/oder zur Metastasie- rung verhindern kann. Erst eine 2002 publizierte Metaanalyse (Sylvester et al. 2002), die sich auf die veröffentlichten Daten von 24 klinischen Studien mit 4863 Patienten mit oberflächlichen Blasenkar-
zinomen (Tumorstadien pTa, pT1 und/oder pTis) stützte, konnte den Einfluss von BCG auf das Pro- gressionsrisiko dieser Tumorstadien in etwa quan- tifizieren: Patienten ohne BCG-Behandlung hatten ein Progressionsrisiko von 13,8% im Vergleich zu 9,8% mit BCG. Der Unterschied von nur 4% war bei der hohen Fallzahl signifikant und entspricht einer Senkung des Progressionsrisikos um 27%. Geht man bei pT1G3-Tumoren von einem Progressionsrisiko von 30% aus, dann sollte BCG unter der Annahme gleicher Wirksamkeit das Progressionsrisiko um 8,1% (27% von 30%) auf 21,9% absenken können.
Man kann aber nur darüber spekulieren, ob BCG bei pT1G3-Tumoren tatsächlich die gleiche Effektivität besitzt wie bei den nichtinvasiven Tumorstadien:
Da die Wirksamkeit von BCG nach derzeitigem Kenntnisstand nur bei direktem Kontakt zwischen Tumorzelle und Wirkstoff gegeben zu sein scheint, bliebe zu klären, ob nicht gerade die gefährlichen und entscheidenden Formen von pT1G3-Tumoren, bei denen Tumorzellen bereits in Lymphspalten eingedrungen sind, für den Zugriff von BCG nicht schon zu weit fortgeschritten sind. Es lässt sich also nur mutmaßen, ob die oben durchgerechnete Ex- trapolation der Metaanalysedaten auf die pT1G3-Si- tuation das therapeutische Potential des Wirkstoffs BCG adäquat wiedergibt oder nicht.
⊡ Tabelle 6.2. Rezidiv- und Progressionsraten nach transurethraler Resektion von pT1G3-Tumoren mit nachfolgender BCG-Instillation. (Mod. nach Pansadoro et al. 2002)
n Rezidiv [%] Progression [%] Nachbeobachtung (Monate)
Samodai et al. 1991 62 20 0 46
Cookson u. Sarosdy 1992 16 44 19 59
Mack u. Frick 1995 21 29 k.A. 60
Pfister et al. 1995 26 50 27 54
Vicente et al. 1996 95 40 11 46
Baniel et al. 1998 78 28 8 56
Lebret et al. 1998 35 24 12 45
Hurle et al. 1999 51 25 18 85
Brake et al. 2000 44 27 16 43
Pansadoro et al. 2002 81 33 15 76
Von daher ist nach wie vor nicht auszuschlie- ßen, dass ein besseres Problembewusstsein um das pT1G3-Karzinom und eine von daher resultieren- de sorgfältigere endoskopische Tumorresektion wesentlicher dazu beigetragen haben, dass einige zeitgenössische Serien über bessere Ergebnisse der organerhaltenden Therapie berichten. Insbesondere fordern zeitgemäße Leitlinien natürlich, dass im ab- getragenen Gewebsmaterial zwingend Blasenmusku- latur enthalten und die Tumorfreiheit dieses Muskel- gewebes dokumentiert sein muss, um nicht a priori fortgeschrittenere Tumorstadien zu übersehen. Es ist nicht auszuschließen, dass in den älteren Serien der Ausschluss höherer Tumorstadien nicht mit der glei- chen Konsequenz betrieben worden war, und dass es schon genügt, den Anteil übersehener muskelinva- siver Tumoren in den organerhaltend behandelten T1G3-Serien zu reduzieren, um damit die Progno- se erheblich zu verbessern. Wenn man sich heute also bei einem T1G3-Tumor zum organerhaltenden Vorgehen entschließt, dann muss der Nachweis tu- morfreien Muskelgewebes obligater Bestandteil des Konzepts sein, darüber hinaus wahrscheinlich auch eine Zweitresektion, mit der dokumentiert wird, dass bei der ersten Tumorabtragung kein vitales Tumor- gewebe zurückgeblieben ist. Darüber hinaus ist die konsequente lebenslange Nachsorge unverzichtbar im Kontext eines jeden organerhaltenden Behand- lungskonzepts bei pT1G3-Tumoren, weil die Pati- enten natürlich auch jenseits der Fünfjahresgrenze weiterhin vom Rezidivtumor bedroht sind.
Vergleicht man zeitgenössische Serien der früh- zeitigen Zystektomie mit anderen Serien, bei denen die Patienten organerhaltend behandelt werden, darf auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass sowohl die Stadieneinteilung wie auch die Einteilung des Mali- gnitätsgrades durch den befundenden Pathologen mit einem erheblichen Unsicherheitsfaktor belastet sind: Entsprechende Untersuchungen haben gezeigt, dass es sowohl bei wiederholter Befundung eines Präparates durch ein- und denselben Pathologen Abweichungen in der Stadien- und Gradierungsein- teilung geben kann, die natürlich noch wesentlich stärker zum Tragen kommen, wenn verschiedene Pathologen einen Tumor einzustufen haben (Ooms et al. 1983). In der Praxis bedeutet dies wiederum, dass man sich auf eine pT1G3-Diagnose als betrof- fener Patient und auch als verantwortlicher Ope- rateur nicht mit letzter Gewissheit verlassen sollte, insbesondere dann nicht, wenn der Patient mit dem Befund eines auswärtigen Pathologen, dessen Be- fundungsverhalten man nicht persönlich kennt, zur Operation zugewiesen wird. In diesem Falle sollte
man zumindest versuchen, im »Kleingedruckten«
des histopathologischen Befundes nachzulesen, aufgrund welcher histomorphologischer Kriterien des Tumors der befundene Pathologe die Diagnose pT1G3 gestellt hatte. Werden »harte« Kriterien, wie Tumorzelleinbruch in Lymphspalten oder eine Ein- zelzellinfiltration der Submukosa beschrieben, kann am invasiven Potential des Tumors kein Zweifel be- stehen. In weniger eindeutigen Fällen (z. B. »plumpe Tumorzapfen drängen in die Submukosa vor«) soll- te man sich aber auch nicht scheuen, vor einer end- gültigen Indikationsstellung zur Zystektomie einen Referenzpathologen zu Rate zu ziehen.
Die Grauzone mit einem nicht unerheblichen Ermessensspielraum, in der sich die histopathologi- sche Begutachtung »oberflächlicher« Blasentumoren abspielt, kann sich, insbesondere in der Interaktion mit dem von den Befunden abhängigen Urologen, sehr schnell zu einem systematischen Bias auswach- sen: Der Pathologe, der mit einem »aggressiven«
Urologen zusammenarbeitet, wird sich früher oder später mit der Frage konfrontiert sehen, ob er mög- licherweise aufgrund einer zu großzügigen Diagnose von pT1G3-Tumoren mitverantwortlich ist für die eine oder andere zu frühe, vielleicht auch überflüs- sige Radikaloperation. Er wird deswegen zurück- haltend mit der Diagnose pT1G3 umgehen und die Diagnose pT1G3 nur noch dann stellen, wenn an dem hohen Malignitätspotential des Tumors und am infiltrativen Wachstum keine Zweifel bestehen können. In der Folge wird der Urologe, der gegen- über dem pT1G3-Tumor eine aggressive Therapie- einstellung vertritt, bei der Durchsicht seiner Daten feststellen, dass es sich beim pT1G3 tatsächlich um einen vergleichsweise aggressiven Tumor handelt.
Hat es der Pathologe umgekehrt mit einem eher konservativ eingestellten Urologen zu tun, wird er früher oder später mit Einzelfällen von Tumorpro- gression konfrontiert sein, die man vielleicht hätte vermeiden können, hätte man den allerersten Tu- mor aggressiver therapiert. In einem solchen Um- feld kann der Pathologe die entsprechende Verant- wortung leicht auf den Urologen zurückdelegieren, wenn er eher großzügig mit der Diagnose pT1G3 umgeht, d. h. das Malignitätspotential des einen oder anderen Tumors höher angibt als er es tun würde, wenn er wüsste, dass dies sofort die Zystektomie nach sich zieht. Der konservativ eingestellte Urologe wird in seinem Datenmaterial also doch den einen oder anderen Tumor finden, der beim aggressi- ver eingestellten Urologen gar nicht in der Rubrik pT1G3 aufgetaucht wäre. Dementsprechend werden sich in seinen Händen die entsprechend eingestuf-
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ten Tumoren auch weniger aggressiv verhalten. Dies wiederum bedeutet, dass gerade das Bewusstsein um die Problematik des pT1G3-Tumors Einfluss nimmt auf die schlussendlichen Behandlungsergebnisse.
Retrospektive Studien, in denen einzelne Kliniken oder gar einzelne Operateure ihre Ergebnisse bei der Behandlung des pT1G3-Tumors demonstrieren, werden deshalb zwangsläufig immer stärker durch das gewachsene »pT1G3-Bewusstsein« verfälscht.
Solche Serien sind von daher auch nicht länger hilfreich für die Entwicklung einer konsensfähigen Behandlungsstrategie beim pT1G3-Tumor.
Verfechter der konservativen Therapie mit transurethraler Resektion und anschließender BCG- Behandlung, deren Ergebnisse in ⊡ Tabelle 6.2 zu- sammengefasst sind, interpretieren ihre Daten da- her genauso als Beleg für die Sinnhaftigkeit ihrer Behandlungsphilosophie wie umgekehrt die Ver- fechter der frühzeitigen Zystektomie in ihren Daten den Beleg dafür zu finden scheinen, dass zwischen dem ersten Nachweis eines invasiven Tumors und der Zystektomie ein Maximalintervall von 3 Mona- ten nicht überschritten werden sollte (Hautmann u.
Paiss 1998)
In der Regel werden in der Medizin solche Fra- gen mit Hilfe prospektiv randomisierter Studien gelöst. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass gerade bei solch problematischen Kontroversen die prospek- tive Studie nicht durchführbar ist, da keine ausrei- chende Zahl von Patienten bereit sein dürfte, das Zufallsprinzip über die Wahl der Behandlung ent- scheiden zu lassen, wenn zwischen den zur Diskus- sion stehenden Behandlungsalternativen ein schein- bar unüberbrückbarer Abstand klafft.
Wesentlich wahrscheinlicher erscheint es von daher, dass die pT1G3-Kontroverse irgendwann da- durch ein Ende findet, dass die Behandlung der fort- geschritteneren Tumorstadien effektiver wird. Wenn der Patient nicht mehr zwangsläufig um sein Leben fürchten muss, wenn er sich beim Tumorstadium pT1G3 zum Zuwarten und zum Versuch einer orga- nerhaltenden Therapie entschließt und nur noch das Risiko in Kauf nimmt, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt aggressiver behandelt werden zu müssen, als dies mit sofortiger Zystektomie der Fall gewesen wäre, würde das Konzept der primären Zystektomie sicher wieder an Attraktivität verlieren. Die Ergeb- nisse zeitgenössischer Zystektomieserien zeigen ja bereits für die lokal fortgeschrittenen Tumorstadien Überlebenswahrscheinlichkeiten, von denen man vor 15 Jahren nicht einmal zu träumen wagte. Dazu zählen beispielsweise Fünfahresüberlebensraten zwischen 50% und in einzelnen Serien bis zu 80% für organü-
berschreitende Tumoren ohne Lymphknotenbefall.
Dazu gehören auch dokumentierte Überlebensraten von knapp über 40% in einer multizentrisch-pros- pektiven Studie für Patienten mit nachgewiesenen Lymphknotenmetastasen, eine Patientengruppe, die bis vor wenigen Jahren als unheilbar galt (Lehmann et al. 2003). Die Ursachen für diese erhebliche Ver- besserung der Behandlungsergebnisse werden an anderer Stelle genauer beleuchtet. Im Wesentlichen sind es wahrscheinlich aber drei Faktoren, die zu die- ser Verbesserung der Ergebnisse beitragen: die bes- sere und besser standardisierte Operationstechnik, die sorgfältigere und konsequentere Ausräumung der regionären Lymphknoten und die Möglichkeit der adjuvanten Chemotherapie. Hier sind in naher Zukunft sicherlich weitere Fortschritte zu erwarten.
Befürworter der frühzeitigen Zystektomie werden natürlich weiterhin argumentieren, dass die erfreu- lich angestiegenen Überlebenswahrscheinlichkeiten der heutigen Zystektomiepatienten aber auch durch eine konsequent frühzeitige Indikationsstellung und eher weniger durch die verbesserte Operationstech- nik bedingt sind: Selbst bei lokal fortgeschrittenem Tumorstadium scheinen die Patienten die deutlich bessere Prognose zu haben, die keine Vorgeschichte von vergeblichen organerhaltenden Therapieversu- chen aufweisen. Unter diesem Blickwinkel wäre es schlussendlich am ehesten die adjuvante Chemo- therapie, in noch fernerer Zukunft vielleicht sogar die Chemotherapie beim Auftreten von Metastasen, die in ihrer Effektivität so weit gesteigert werden müssten, dass man beim Stadium pT1G3 prinzipiell guten Gewissens abwarten kann, ob sich nach orga- nerhaltender Therapie ein höheres Tumorstadium entwickelt oder nicht.
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